Alter Wein in neuen Schläuchen
Carsten Krebs und Danyel Reiche

Viel alter Wein in neuen Schläuchen. Mehr ist es nicht, was 21 Grünen-Politiker jüngst zur "Erneuerung bündnisgrüner Umweltpolitik" formulierten. Bekannte ökologische Zustandsbeschreibungen gepaart mit richtigen Ansätzen zur kooperativen und dialogischen Umweltpolitik, die statt auf bloße Konfrontation auf das Schmieden neuer Bündnisse setzt. Doch insgesamt betrachtet: jede Menge Selbstbespiegelung und Allgemeines, kaum tauglich, die anvisierte "Grundsatzdebatte" anzustoßen - zumal die Kernbotschaft vornehmlich in Richtung der eigenen Klientel geht. Motto: Schaut her, Eure Umweltpartei existiert noch, sie arbeitet wieder und weiter an ihrem ökologischen Profil und läßt sich nicht auf die mäßige ministerielle Performances reduzieren.

Doch schlimmer: Grüne Papiere geistern mittlerweile mannigfaltig durch die Republik, bieten inhaltlich vornehmlich Selbstreflexion, verwischt wird dabei, daß es gerade die Unterzeichner sind, die als politische Akteure selbst für die
Initiierung ihrer Thesen mit zuständig sind. Wer - wie im grünen Umweltpapier - für einen "anderen Politikstil" auf Basis von Einbeziehung gesellschaftlicher Kräfte wirbt, muß ihn selbst organisieren, die tatsächlich vorhandenen Potentiale selbst nutzen. Inhaltlich wäre es überdies wichtig gewesen, nach kommunizierbaren Zielsetzungen und nachvollziehbaren, zeitlich umsetzbaren und erfolgsversprechenden Projekten für die noch verbleibende Zeit der Legislaturperiode zu suchen. Hierüber lohnt sich der Diskurs. Debatten über die Schritte zur Umsetzung stehen auf der Tagesordnung. Doch zündende Ideen fehlen.

Zur inhaltlichen Kritik: Moderne, umweltfreundliche Technologien werden in den Thesen als zentrale Strategie zur Verbesserung der Überlebensfähigkeit der Erde in den Mittelpunkt gestellt, der notwendige persönliche Wandel jedes Einzelnen bleibt weitgehend unerwähnt. Dabei war es früher gerade die Stärke der Grünen und ihrer Anhängerschaft, immer auch selbstbezogen nach der Eigenverantwortlichkeit des Menschen zu fragen, sie zu betonen - und auf die Macht der Verbraucher (Beispiel: Brent Spar) zu verweisen. Das Streben nach technischer Innovation ("Effizienzrevolution") kann nur eine Teilstrategie sein, das haben zahlreiche Studien, gerade auch die von Reinhard Loske (Hauptinitiator der grünen Thesen) selbst mitverfasste BUND/Misereor-Studie "Zukunftsfähigkeit Deutschland" vom Wuppertal Institut, ständig herausgestellt.

Und auch die Überbetonung der (sicher richtigen) Konsensstrategie blendet aus, das es zwischen Ökonomie und Ökologie ein Spannungsverhältnis, oder genauer: Strukturprobleme gibt, die sich nicht - politisch praktikabel - in ökologische und zugleich ökonomische Win-Win-Strategien umsetzen lassen. Das Zielsystem und Handlungspotential politischer Systeme, das weitgehend auf der Initiierung und Verteilung von Wirtschaftswachstum basiert, ist schwerlich mit einer Reduzierung der vielfältigen Umweltprobleme kompatibel. Etwa die Schwierigkeiten des dramatisch steigenden Flächenverbrauchs, das voranschreitende Artensterben oder die Zunahme der motorisierten Individualverkehrs zu Land und zu Luft lassen sich
kaum in gewinnbringendem Konsens samt technischer Innovation lösen. Die viel beschworene harmonische Synthese von Ökonomie und Ökologie kann nur eine Zielstrategie umweltpolitischer Akteure sein, neben der einer "Suffizienrevolution" des gesellschaftlichen Werte- und Lebenswandels eine enorme Wichtigkeit einzuräumen ist.

Der von den Medien anhand der Thesen in den Mittelpunkt gerückte Realo/Trittin-Streit scheint dagegen allzu aufgesetzt. Der Bundesumweltminister ist Mitadressat, wenn die Autoren angesichts bisheriger rot-grüner Umweltpolitik "Unzufriedenheit" attestieren - mehr aber auch nicht. Zumal Jürgen Trittin unverkennbar eine breite Angriffsfläche bietet, denn seine Bilanz nach zehn Monaten sieht mager aus. Doch wer ihm allein die Schuld an der Misere gibt, macht es sich zu einfach. Die gesamte rot-grüne Regierung hat es bislang verpaßt, Umweltpolitik einen anderen Stellenwert als zu Kohls Zeiten zu geben. Bis heute ist nicht erkennbar, daß die neue Regierung die ökologische Erneuerung der Bundesrepublik als wichtiges, vielleicht sogar zentrales Projekt auf die politische Agenda setzt. Die Thematik, die grundsätzlich als Querschnittsaufgabe begriffen werden muß, ist steckengeblieben im platten Ressortdenken. Von einem breiten Fortschritts- und Risikodiskurs, der die Gesellschaft berührt, keine Spur. Der Atomausstieg wird - wenn überhaupt - eine Langzeitabwicklung; das geplante Umweltgesetzbuch, das eine Vielzahl von Umweltregelungen, die bislang auf verschiedene Gesetze verteilt sind, bündeln soll, sowie das Bundesnaturschutzgesetz werden von Länderinteressen zerrieben; ein wirksameres Ozongesetz schlummert in ministeriellen Schubladen; die Debatte über einen nationalen Umweltplan, über eine Nachhaltigkeitsstrategie für Deutschland wurde auf den Herbst verschoben. Für besondere Aufmerksamkeit sorgte die EU-Altautoverordnung, die die Autolobby Hand in Hand mit Gerhard Schröder vom Tisch gewischt hat. Kohl läßt grüßen. Es ist in der Tat ein ungeheuerlicher Vorgang, daß eine quasi seit Jahren im Konsens vorbereitete Verordnung, an der die Automobilindustrie selbst nicht unmaßgeblich mitgeschrieben hat, kurzerhand gekippt wird. Doch hauptverantwortlich ist nicht Jürgen Trittin, sondern der Kanzler höchstpersönlich, der erfolgreich von Interessengruppen traktiert wurde und seinen Umweltminister in eine überaus peinliche Situation manövriert hat.
Schröder hat, indem er sich und Trittin zum Handlanger der Autoindustrie degradierte, das Ansehen der Deutschen als "vorbildliche Umweltschützer" zerstört. Ein Anruf von Volkswagen-Chef Piëch reichte aus. Es war einmal... - z.B. die Ankündigung im Vorfeld der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, die Harmonisierung der Energiebesteuerung zur Chefsache zu machen, d.h. Europapolitik mit ökologischen Akzenten zu betreiben. Statt dessen bleibt die Erkenntnis: Auch bei Rot-Grün stehen wirtschaftliche über ökologischen Interessen.

Einzig die Ökologische Steuerreform wird von Rot-Grün, wenn auch leise, als Erfolg verkauft. Doch selbst da wurden die ohnehin geringen Erwartungen durch die fixierten Stufen II bis V nochmals enttäuscht. Die Regierung wird sich wohl kaum weiter trauen, von einer ökologischen Lenkungswirkung zu sprechen, und auch die anvisierte Senkung der Sozialversicherungsbeiträge zur Schaffung neuer Arbeitsplätze dürfte mittelfristig nicht mehr als auf eine Stabilisierung der
Beiträge hinauslaufen - zu gering ist das umzuschichtende Steuervolumen, das in den folgenden Jahren (2000-2004) jeweils lediglich die Hälfte dessen umfaßt, was die erste Ökosteuerstufe einbrachte. Würde nicht zumindest das Prinzip einer
kontinuierlichen Steigerung der Energiesteuer bei gleichzeitiger Quasi-Reduktion der Rentenversicherungsbeiträge sowie der viermalige Aufschlag auf die Stromrechnung gesetzlich fixiert werden, dann hätten die Eckpunkte mit dem Begriff Ökologische Steuerreform rein gar nichts tun. Und wäre neben Gas und Heizöl auch noch - wie Schröder wollte - Strom außen vor geblieben, hätte es sich lediglich um eine mehr oder weniger verpackte Benzinpreiserhöhung gehandelt.

Die ökologische Debatte steckt seit Anfang der 90er Jahre in einer strukturellen Falle - dem Wandel der ökologischen Problemlagen. Immer mehr politische Akteure - auch Trittins Vorgängerin Angela Merkel - weisen darauf hin, daß das
ökologische Zeitalter hinter statt vor uns liegt, daß die Umweltprobleme gelöst seien, und folgern, es sei eine Auszeit geboten. Dafür werden die sichtbaren umweltpolitischen Erfolge im Bereich der Wasser- und Luftverschmutzung sowie die Reduktion einzelner Giftstoffe als großer Erfolg verbucht. Durch nachsorgende Techniken wie Filter und Kläranlagen wurden zahlreiche der wahrnehmbaren und rasch politisierbaren ökologischen Probleme eingedämmt. Und tatsächlich ist es komplexer und komplizierter, in diesem veränderten Kontext für umweltschützende Handlungen zu werben. Die Begründung für tiefgreifende, den Einzelnen selbst treffende Maßnahmen ist schwieriger geworden - ein grundsätzliches Problem für zukünftige Ökologiepolitik. Denn der Treibhauseffekt oder das Ozonloch sind nicht in Greenpeace-Aktionsmanier sichtbar und problematisierbar zu machen - ein Grund, warum das Thema Umwelt seinen einstigen Spitzenplatz bei der Frage nach
den wichtigsten Problemen mit einem hinteren Mittelfeldrang getauscht hat. Gerade aus diesen Gründen gehört es zu den Erfolgsbedingungen heutiger, veränderter Umweltpolitik, daß ihre Ziele in einer Mixtur aus Lösungs- und Problemdebatte transportiert werden. Derzeit reden alle über Lösungen, die Probleme gehen in der Öffentlichkeit unter: Flächenverbrauch, Verkehr, die chemische Belastung der Böden, der steigende atomare Müll (national) sowie Artenschwund, Klimawandel und Wüstenausbildung (global). Auf dem Marktplatz der Positivmeldungen ist dafür kein Platz mehr. Akzeptanz und Veränderungsfähigkeit beim Bürger kann aber nur erreicht werden, wenn das zu lösende Problem vorher erkannt wurde. Auch wenn die umweltpolitische Prognostik seit dem 1972er Bericht des Club of Rome manche Freunde verloren hat, muß - vom Ministerium angestoßen - eine Bestandsaufnahme samt Prognose klarstellen, welche Probleme nach einer Lösung drängen und welche ökologischen Krisen uns erwarten.

Die strukturelle Misere der Umweltpolitik in Deutschland beruht ohne Zweifel auch auf administrativen Fehlkonstruktionen. Das Bonner Umweltministerium wurde 1986 nach Tschernobyl aus der Taufe gehoben, ohne die umweltschädlichen Bereiche
Wirtschaft, Verkehr, Energie und Landwirtschaft administrativ mit einzubeziehen - daran hat sich bis heute nichts geändert. Das Umweltressort wurde als weiteres, zusätzliches Ministerium draufgesattelt, ohne administrative Kompetenz in den umweltverursachenden Sektoren. Auch Spiegelreferate wie in Großbritannien, die in jedem Ressort die ökologischen Auswirkungen inspizieren und kenntlich machen, fehlen in der Bundesrepublik. Gerade die beiden aus klimapolitischen Gründen wichtigsten Emissionssektoren, der wachsende Individual- und Flugverkehr sowie der Bausektor, liegen in den Händen von
Bundesverkehrs- und -bauminister Franz Müntefering, dem offenbar gar nicht bekannt scheint, dass er die klimapolitischen Hebel in den Händen hält. Das Umweltbundesamt erwartet etwa von 1995 bis 2010 ein Wachstum beim PKW-Bestand
von 18,8%, einen Zuwachs der Fahrleistung um 25,1% sowie einen Anstieg des Kohlendioxid-Ausstosses um 17,4%. Während in anderen Sektoren Verbrauchsrückgänge prognostiziert werden, hat sich der Verkehr zum zentralen Problemfall für das 25%-CO2-Reduktionsziel gemausert. Zugleich benennen alle wissenschaftlichen Studien, daß im Baubereich, konkret in der Altbau-Sanierung, die höchsten Energieeinspar- und gleichfalls Beschäftigungspotententiale zu finden sind. Doch in beiden Bereichen hat der Umweltminister bisher nichts zu sagen, kann einzig über eine mittlerweile, aber viel zu spät eingerichtete
interministerielle Arbeitsgruppe ein gemeinsames Konzept anmahnen und auf erste kleine Schritte dringen. Nur durch solche auf breiter Front initiierten ressortübergreifenden Arbeitsgruppen gepaart mit der notwendigen politischen Unterstützung ist es mittelfristig möglich, Einfluß auf umweltverursachenden Ressorts zu nehmen.
Wie weiter, mit der Holzhammer- oder Konsensmethoden? Sicher auch Jürgen Trittin ist Teil des Problems. Sein öffentlicher Konfrontationskurs wird keine Erfolge zeitigen. Die Strategie - erst Holzhammer, dann Verhandeln - stärkt und mobilisiert die Front der Gegner, die sich leicht hinter den Hardlinern formiert. Ohne die lang geforderte Mobilisierung von und die verbesserte
Koordination mit Unterstützerorganisationen, gerade auch aus der fortschrittlichen Wirtschaft, wird es schwierig, die Stimmung zu drehen. Viele hassen Trittin als "den letzten Linken" ("Die Woche"). Andere, die ihm offen gegenüberstehen (etwa in den Umweltverbänden), bleiben gleichwohl reserviert und bemängeln den dünnen Informationsfluß und seine fehlende Identifikation als oberster Umweltschützer der Nation. Zwar besitzt er, was kaum bekannt ist, keinen Führerschein, ansonsten fehlen ihm aber typisch ökologische Lebensmerkmale und biographische Stationen, die sich als Symbole zur persönlichen ökologischen Glaubwürdigkeit verdichten ließen.
Was ist zu tun? Umweltprogramme und -gesetze müssen erstens zunächst intern, d.h. verdeckt, innerministeriell und konsensual vorbereitet werden, um nicht frühzeitig von Medien und Lobbyisten auseinandergenommen zu werden; für die jeweilige Thematik sollten zweitens potente und auch wirtschaftsnahe Unterstützergruppen, potentielle Gewinner mobilisiert werden, um nicht im derzeit schwer zu gewinnenden Ökonomie-Ökologie-Konflikt unterzugehen. Drittens muss durch das Umweltministerium und die beiden Regierungsfraktionen eine intensive Öffentlichkeitsarbeit jedes einzelnen Vorhabens vorbereitet werden. Sachinformationen, die über den Handlungsdruck aufklären und somit den Gegnern nicht die Begriffe überlassen, gehören begleitend zu jedem anvisierten Gesetzesvorhaben, zu jedem Projekt unabdingbar dazu. Die Grünen und die Ökologen in der SPD sollten dem Kanzler viertens klar machen, dass die Anfang der 90er Jahre im politischen Konsens festgelegte Klimaschutzpolitik auf die Tagesordnung gehört, dass es sich dabei um gemeinwohlorientierte Ziele und nicht um Privatinteressen eines Ministers oder seines Teams handelt. Natürlich gilt es fünftens gerade von Seiten der Grünen, in einzelnen ökologischen Politikfeldern Härte zu beweisen, standhaft zu bleiben und auch "Nein" zu sagen. Übrigens bildet sich nur so ein Profil heraus, mit dem Parteien bei kommenden Wahlen erfolgreich sein können. Sechstens ist strategisches Handeln gefragt: Neben dem geschickten Aufbau von Verhandlungsmasse sind konzeptionell in einer nationalen Nachhaltigkeitsstrategie langfristige Ziele festzulegen, die Umwelt- zur Querschnittspolitik machen. Eine (in Nachbarländern erfolgreich erprobte)
Ökosteuerreform-Kommission könnte etwa nach dem verhaltenen Einstieg in eine Ökologische Steuerreform an einem größeren Wurf für die nächste Legislaturperiode arbeiten. Denn bisher ist kaum mehr als Kontinuität erkennbar, der angekündigte Wandel bleibt notwendig.

Carsten Krebs und Danyel Reiche