München, 23.4.1999
Analyse des Kosovo-Konfliktes
Hagener Parteitag
Die Kosovo-Debatte droht die Grünen zu zerreißen, droht auch, die
Koalition in Bonn zu gefährden, falls die Politik der derzeitigen
Bundesregierung vom kommenden Sonderparteitag von Bündnis90/Die Grünen
in Hagen nicht mitgetragen wird.
In diesem Beitrag möchte ich versuchen, eine Antwort auf die Frage zu
finden, inwieweit ein solches Vorgehen -mit allen seinen Konsequenzen
für das Überleben der Bündnisgrünen als Partei- zu rechtfertigen
wäre,
weil die Bundesregierung sich zu weit von den Prinzipien bündnisgrüner
Politik entfernt hat. Dazu muß jedoch erst einmal die -militärische
und
politische- Lage analysiert werden und Politikalternativen untersucht
werden.
Aggressionskrieg?
Die NATO führt -so wird kolportiert- einen Aggressionskrieg. Denn dieser
Krieg werde geführt unter Mißachtung des Völkerrechts, also
der
UN-Satzung. Hierin steht geschrieben, daß ein Krieg gegen einen anderen
souveränen Staat völkerrechtlich mißbilligt wird, und nur
-ausnahmsweise- erlaubt ist, wenn der UN-Sicherheitsrat diesen
ausdrücklich autorisiert. Dies ist bekanntermaßen nicht geschehen.
Diese
Argumentationsweise, die sich auf geschriebenes Recht stützt (also de
lege lata argumentiert), hat weitreichende Konsequenzen. Denn
Völkerrecht gilt in der BRD als einfaches Recht (also auf der Ebene
unterhalb des Verfassungsrechts), so daß konsequenterweise der gesamte
Bundestag, die Bundesregierung und nicht zuletzt die beteiligten
Militärs wegen vielfachen Mordes und Totschlages angeklagt werden müßten
(vgl. SZ vom 17./18. April, Individuen, hört die Signale).
Die Befürworter des Kriegseinsatzes -also neben der Bundesregierung fast
das gesamte deutsche Parlament- stützen sich jedoch auf eine Art
internationalen Notstand. Bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit sei es
geradezu die Pflicht von demokratischen Staaten, den Verbrechern in den
Arm zu fallen und somit die Verbrechen -unter Brechung des geschriebenen
Rechts- zu verhindern. Dieses Konstrukt ist seit altersher bekannt und
nennt sich bezeichnenderweise übergesetzlicher Notstand.
Mit diesem Vorgehen wird jedoch die gesetzliche Ordnung vorübergehend
außer Kraft gesetzt und somit die Autorität dieser Ordnung unterminiert-
in dem vorliegenden Konflikt schadet die NATO-Aktion der Autorität der
Vereinten Nationen.
Wer dies nicht hinnehmen möchte -für illegitim hält-, wer die
Friedensordnung der Nachkriegszeit dadurch zu sehr bedroht sieht, wer
das Primat der Politik wieder ausgehebelt sieht und den Krieg doch
wieder als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln implementiert
sieht, der kann mit dieser Politik nicht leben. Aus dessen Sicht handelt
die NATO verbrecherisch und aggressiv, aus dessen Sicht handelt es sich
bei den Bomben auf Serbien nicht um Hilfsaktionen mit Gewalt, sondern um
Gewaltverbrechen. Diese Sichtweise sieht als Resultat der
NATO-Aggression die Beziehungen mit Rußland gefährdet, sieht gar
eine
Demütigung von Rußland in den militärischen Aktionen und befürchtet
folglich die Gefahr eines dritten Weltkrieges.
Wer dieser Meinung ist, der kann die Politik der Bundesregierung nicht
unterstützen und muß folglich auf dem Sonderparteitag gegen diese
Politik stimmen.
Vertreibung der Kosovo-Albaner
Diese Sichtweise vergißt aber m. E. die albanischen Opfer von
Vertreibung, Mord und Mißhandlung und übersieht die Rolle Rußlands
im
UN-Sicherheitsrat.
Denn die Aggression wurde von langer Hand vom jugoslawischen Regime
vorbereitet, eine Vertreibung solchen Ausmaßes braucht Vorbereitung von
langer Hand. Von daher ist die These absurd, daß die Flüchtlinge
vor den
NATO-Bomben fliehen würden. Unwahrscheinlich ist auch, daß die
NATO-Bombardierung das Elend noch verschärft hat, daß die Serben
wegen
der Bomben noch grausamer geworden sind. Aber selbst wenn dies ein
psychologischer Folgeeffekt der Bombardierung ist, dann kann man die
NATO dafür nicht verantwortlich machen. Denn Schuld ist der Schlächter,
Vertreiber und Vergewaltiger und nicht der Helfende.
Verantwortlich ist die NATO jedoch für die Schäden, die sie mit dem
Bombardement anrichtet. Jede serbische Zivilperson, jeder Mensch, der
durch NATO-Bomben umkommt, muß von der NATO verantwortet werden. Doch
darf nicht übersehen werden, daß die NATO (erklärtermaßen)
versucht, die
Zivilschäden so gering wie möglich zu halten, während die serbischen
Streitkräfte versuchen, die Zivilschäden zu maximieren. Dieser
Unterschied darf nicht übersehen werden.
Wegen des Ausmaßes der Gewalt im Kosovo durch serbische Milizen wäre
für
mich ein Wegschauen und Stillhalten unerträglich gewesen. Ich glaube
auch nicht, daß die Brutalität weniger ausgeprägt gewesen wäre.
Denn
wenn ein Regime den innenpolitischen Gegner zu Ratten (Milosevic über
die Albaner) erklärt, ist dieser in seinen Augen vogelfrei. Auch die
Opposition würde dadurch nicht gestärkt worden sein, denn das Gros
der
Politikerkaste -auch der Opposition- in Serbien (und damit wohl auch das
Gros der Serben selbst) hängt chauvinistischen großserbischen Phantasien
nach. Wenn Milosevic diese erfolgreich durch "Säuberung" des
Kosovo
bedient hätte, wäre seine Popularität wohl nicht gesunken. Ich
vergleiche die Situation Serbiens diesbezüglich mit der Situation
Deutschlands im Zweiten Weltkrieg, als die Deutschen auch mehrheitlich
und treu ergeben hinter Hitler und seinem aggressiven Nationalismus
standen.
Es ist in meinen Augen auch kein Argument, wenn angeführt wird, daß
die
UCK auch keine Heilige sei oder daß die Albaner dasselbe gemacht hätten,
wenn sie die militärischen Mittel gehabt hätten. Diese Argumentation
ist
in meinen Augen zynisch und falsch aus verschiedenen Gründen. Erst
einmal zählt nur das Tatsächliche: im Strafrecht wird man auch nicht
für
das bestraft, was man tun möchte, sondern nur für das, was man getan
hat. Weiterhin ist es unwahrscheinlich, daß alle Opfer der
Vertreibungsaktionen - darunter Kinder, schwangere Frauen, alte Leute-
im Gegenzug genauso gehandelt hätten. Mit anderen Worten, man darf nicht
alle Kosovaren für terroristische Aktionen der UCK haftbar machen. Falls
die Gegend einmal befriedet sein sollte, müssen selbstverständlich
auch
die Verbrechen der UCK verfolgt werden und die Verbrecher für diese
Verbrechen haften.
Übergesetzlicher Notstand
Aus diesen hier aufgeführten Gründen hat die NATO in meinen Augen
wirklich im Notstand gehandelt. Das heißt, daß sie keinen
Aggressionskrieg führt und nicht verbrecherisch handelt. Fischer und
Schröder können sich auf übergesetzlichen rechtfertigenden Notstand
berufen - bei Anklage wegen Mordes müßten sie freigesprochen werden.
Trotzdem könnten sie politisch falsch gehandelt haben, und zwar dann,
wenn es politische Handlungsoptionen gegeben hätte, bevor die
NATO-Kriegsmaschinerie in Gang kam. Soweit ich durch die Medien recht
unterrichtet bin, scheinen die Regierungen wohl alles subjektiv möglich
Erscheinende gemacht zu haben, um den Krieg zu verhindern. Die OSZE war
im Gebiet mit Beobachtern (und hatte schon früh Greueltaten gemeldet).
Mit Rußland wurde verhandelt und es wurde versucht, Rußland immer
einzubinden (Balkan-Kontaktgruppe). In Frankreich wurden zig Ultimaten
gestellt und wieder verworfen.
Wie es sich darstellt, wollte Milosevic keine Verhandlungslösung mit
internationalen Friedenstruppen im Kosovo (die zivilen Beobachter hatten
ja nichts verhindern können!) und Rußland wollte das serbische
Brudervolk im NATO-Sicherheitsrat nicht "hintergehen".
Frühere Versäumnisse?
Frühzeitigere Militäraktionen seitens der NATO wären zwar wirkungsvoller
gewesen, hunderttausendfaches Leid wäre verhindert worden, doch nicht
möglich gewesen. Denn dann wäre wirklich Völkerrecht ohne
rechtfertigenden Notstand gebrochen worden, da dieser noch nicht
bestanden hätte. Rußland wäre auch damals -als die massenhaften
Greuel
noch nicht im Gang waren- im UN-Sicherheitsrat nicht von der Linie
abgerückt, die es heute selbst angesichts der Vertreibung eines ganzen
Volkes vertritt. Denn im UN-Rat gilt es v.a. auch eigene
machtstrategischen Positionen -unabhängig vom Schicksal der Kosovaren-
einzunehmen. Und letztlich wäre eine frühere Militäraktion in
den
Mediendemokratien der NATO-Staaten nicht durchsetzbar gewesen.
Als Alternative zum Vorgehen der Bundesregierung und der NATO gab es in
meinen Augen also nur das laissez faire. Wer diese Position vertritt,
der muß sie auch klar benennen und sollte nicht durch Attacken auf das
nordatlantische Verteidigungsbündnis von diesem Dilemma ablenken.
Hinterfragung des Krieges
Jedoch ist Krieg immer Verlust von Zivilisation und von daher muß er
immer hinterfragt werden. Es muß auch jetzt noch möglich sein, daß
Bombardement einzustellen, wenn es sich herausstellt, daß die Bomben
nichts bringen -außer die ihnen eigene Zerstörungskraft (im eigentlichen
und übertragenen Sinne). Darum dreht sich die Diskussion v.a. -
Stichwort: Feuerpause.
Gefragt ist also eine Beantwortung der Frage nach dem Ziel des
Bombardements. Und hier ist ja häufig geschrieben, gesagt und
vorgeworfen worden, daß keine einzige NATO-Bombe das Elend eines
einzigen Kosovaren verhindert hätte. Diese Einschätzung stimmt
wahrscheinlich - so schlimm und paradox dies erscheinen mag. Die
Mordmaschinerie hat ganze Arbeit geleistet (und leistet sie noch) und
wird sich von lasergelenkten Präzisionsbomben nicht von Verbrechen gegen
die Menschlichkeit abhalten lassen. Also ist die NATO-Aktion eine
Hilfsaktion ohne zu helfen. Welchen Sinn hat sie dann noch?!
Zur Logik von Bodentruppen
Dementsprechend werden nun Forderungen nach Bodentruppen erhoben. "Wer
A
sagt, muß auch B sagen" -eine vordergründig logische Folgerung.
Wenn wir
schon helfen wollen, und mit den bisherigen Mitteln keine Hilfe
erreichen, dann müssen wir die Hilfsleistungen verändern. Also deutsche
Soldaten auf serbischem Boden -eine grauenhafte Vorstellung!
Aber ist diese Forderung logisch und zwingend? Einmal sprechen
europäische Stabilitätskriterien dagegen. Rußland wird weiter
destabilisiert, die Zusammenarbeit wird immer schwieriger - und bei
Bodentruppen wahrscheinlich unmöglich (ich glaube zwar nicht an einen
dritten Weltkrieg, aber Krieg hat seine eigene, irrationale Logik!).
Griechenland wird wahrscheinlich höchst destabilisiert. Die Griechen
sind jetzt schon (vielleicht neben den Ungarn) die emotional und
politisch am ärgsten getroffenen NATO-Bündnispartner. Und schließlich
-sind Bodentruppen als ultima ratio zweckdienlich? D.h., helfen sie den
Kosovaren überhaupt, verhindern sie das Morden, Vergewaltigen,
Brandschatzen?
Ich meine nein. Denn in einem Land, in dem hunderttausende Menschen auf
der Flucht sind und sich daneben zwei Armeen bekriegen (in bergigem
unwegsamen Gelände), kann sich das Leid der Flüchtlinge eigentlich
nur
vergrößern (diskutiert werden sollte in diesem Zusammenhang jedoch
die
Schaffung von Schutzzonen, den sog. humanitären Korridoren). Unschuldige
NATO- und auch unschuldige serbische Soldaten werden unweigerlich
sterben, der Krieg wird seine inhumane Fratze zeigen, die Tendenz ginge
weg vom "Computerspiel", hin zum Anblick von Blut und zerstümmelten
Soldaten. Die "Einnahme" von Belgrad kann und darf nicht das Ziel
sein,
denn die NATO führt keinen Krieg gegen das serbische Volk, sondern einen
Krieg gegen das Morden.
Stop des Bombardement?
Bedeutet dies nun, daß das Bombardement aufhören muß. Ich meine
nein,
denn einen Sinn hat es in meinen Augen schon, der nur nicht offen
ausgesprochen wird. Wenn es schon nicht erreicht werden kann, daß das
Leiden unmittelbar aufhört, so soll mit der NATO-Politik doch verhindert
werden, daß sich diese Politik auszahlt. Die NATO-Aktion soll erzwingen
-und das ist ihr erklärtes Ziel- das Friedenstruppen in den Kosovo
gelassen werden. Die Albaner sollen wieder zurückkehren dürfen, eine
politische Lösung unter Aufsicht der vereinten Nationen oder der OSZE
muß erreicht werden. Milosevic und der serbische Nationalismus darf
keine Früchte aus Mord und Vertreibung ernten. Aggression darf sich
nicht lohnen! Die Verbrecher müssen nach der Befriedung ausfindig
gemacht werden und sich vor dem internationalen Strafgerichtshof in Den
Haag verantworten.
So wie es sich in den Medien jetzt darstellt, wird immer mehr gezielt
die Milosevic-Oligarchie, und zwar v.a. deren Besitztümer, angegriffen.
Vielleicht ist diese Strategie gar nicht so falsch (auch wenn, und das
ist die Tragik des Krieges, unschuldige Menschen sterben oder sonstwie
zu Schaden kommen), um ein Einlenken Belgrads zu erzwingen. Die
Bundesregierung bemüht sich intensiv um die Vermittlung Moskaus, Jelzins
Sonderbeauftrager Tschernomyrdin setzt sich für eine Vermittlung ein,
und der Generalsekretär der Vereinten Nationen verurteilt das Vorgehen
Milosevics im Kosovo. Vielleicht führt auch die seit dieser Woche in den
russischen Medien stattfindende Berichterstattung über die Vertreibung
der Kosovaren zu einer (graduellen) Änderung der öffentlichen Meinung
in
Rußland. Hoffnungsvoll stimmt, daß die Chauvinisten in Rußland
aus dem
Kosovo-Krieg (noch) nicht profitieren.
Unterstützung der Politik der Bundesregierung
Und damit ist die Frage für mich vorläufig beantwortet. Ich kann die
Politik der Bundesregierung unterstützen, sofern keine Bodentruppen
eingesetzt werden und ein intensiver Dialog mit der russischen Regierung
und dem russischen Parlament geführt wird. Rußland hat den Schlüssel
zum
Frieden in der Hand und Rußland darf nicht vergrätzt werden. Aber
Rußland selbst muß auch dialogbereit sein, was seit Jelzins politisches
Aufwachen wieder der Fall zu sein scheint. Wegen der starken
Akzentuierung der Politik der Bundesregierung -und speziell der Politik
von Joschka Fischer- auf die Suche nach diplomatischen Lösungen kann ich
mit dieser Politik leben. Eine bessere Alternative fehlt mir -wie oben
dargelegt.
Die Frage nach der Feuerpause stellt sich immer wieder und ist ein
Option, die offen gelassen werden muß. Ich plädiere jedoch dafür,
daß
diese auf dem Parteitag nicht zwingend vorgeschieben wird, sondern von
der diplomatischen Entwicklung abhängig gemacht wird. V.a. wenn durch
die Bemühungen von Tschernomyrdin eine diplomatische Lösung realistisch
wird, muß die Feuerpause erwogen werden.
Mit diesem Beitrag möchte ich dafür werben, in Hagen die Position
der
Bundesregierung zu unterstützen, weil ich keine Alternativen sehe und
ich keine schweren Versäumnisse bei der derzeit praktizierten Politik
feststellen kann. Wenn die Grünen aus der Regierung aussteigen, wird
dadurch der Krieg nicht verhindert werden, aber die Einflußnahme der
Grünen, immer wieder diplomatische Lösungen zu suchen und den Krieg
in
Frage zu stellen, würde verloren gehen!