junge Welt 09.09.1999

»Die Kiste zumachen«

Ost-Grüne in der Sinnkrise. Parteilinke fordern soziales Profil

Der Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen in Mecklenburg-Vorpommern, Klaus-Dieter Feige, hat es als einen »Fehler« bezeichnet, daß die Grünen frühere »linke Positionen« verlassen hätten. In einem Kreis- und Ortsrundbrief vom Dienstag an die grüne Parteibasis kritisierte Feige eine »Sozialdemokratisierung« der Grünen, die zugleich »der Anfang vom Ende der grünen Distanz zum Opportunismus der Sozialdemokratie« sei. Feige fuhr fort, die Wahlverluste seien zu einer »existenziellen Bedrohung für die Grünen an sich geworden«. Die Grünen seien »in der öffentlichen Wahrnehmung dort angekommen, wo früher die SPD stand«.
Genau da liege das Problem. Die Grünen hätten sich bewegt, aber die grünen Wähler hätten sich damit von den Grünen wegbewegt. Wer dies jetzt noch nicht begreife, der nehme »den Absturz bewußt in Kauf«.

Nun stelle sich die Frage: »Wozu braucht diese Bundesrepublik überhaupt noch Grüne nicht nur in Mecklenburg-Vorpommern?« Entweder die Grünen könnten auf diese Frage eine Antwort geben oder sie »sollten die Kiste zumachen«.

Die brandenburgische Vorstandssprecherin Inke Pinkert-Sältzer erklärte am Mittwoch in Potsdam, die märkischen Grünen wären gut beraten, die außerparlamentarische Opposition zu stärken und sich dafür auch neue Bündnispartner zu suchen. Denn die SPD auf Bundesebene scheine offenbar zu vergessen, daß ihre Wurzeln in der Arbeiterbewegung lagen. Immer weniger würden heute politische Entscheidungen auf ihre Konsequenzen für Arbeitnehmer hin »zu Ende bedacht«. Mehrere grüne Mandatsträger um den Berliner Abgeordneten Christian Ströbele (Foto) fordern nach Angaben des »Stern« in einer Wahlanalyse, die Partei müsse sich künftig »links der Mitte« ansiedeln. Die »Gerechtigkeitslücke, die die SPD hinterlassen«
habe, müsse geschlossen werden. Die Parteilinken fordern unter anderem die Einführung einer Vermögensabgabe. Das
Papier wird den Angaben zufolge unter anderem von den Bundestagsabgeordneten Claudia Roth, Annelie Buntenbach, Steffi Lemke und Christian Simmert sowie dem ehemaligen Europa-Abgeordneten Frieder Otto Wolf unterstützt. Anfang Oktober ist ein bundesweites Treffen des linken Flügels der Grünen geplant.

(AP/ADN/jW; Foto: Paul Glaser)


junge Welt Interview 09.09.1999

Werden Grüne im Osten verschwinden?

jW sprach mit Klaus-Dieter Feige, Landesvorstandssprecher von Bündnis 90/Die Grünen in Mecklenburg-Vorpommern

F: Wird die grüne Partei im Osten gänzlich von der Bildfläche verschwinden?

Wenn ich wüßte, wohin sich die grüne Partei bewegt, könnte ich diese Frage vielleicht beantworten. Zur Zeit sehe ich eine relativ führungslos dahintrudelnde grüne Partei. Sie steht unter der Anspannung verschiedenster Aufgaben, nämlich erstens in
der Koalition zu sein, zweitens den Strukturaufbau Ost bewältigen zu müssen - innerparteilich wie auch generell - und drittens in einem Spannungsfeld der europäischen Ost-Erweiterung zu stehen. Hinzu kommt, daß die Partei zur Zeit einen Bundesvorstand hat, der durch ein Strukturreformprojekt des vergangenen Jahres gar nicht in der Lage ist, all diese Aufgaben wahrzunehmen.

Meines Erachtens ist es dringender denn je notwendig, einen sehr starken Bundesvorstand, insbesondere eine wesentlich stärkere politische Geschäftsführung zu haben, die in der Lage ist, diese vielen Prozesse, die jetzt gleichzeitig auf uns einstürmen,
wenigstens zu koordinieren. Das ist nicht gegeben.

Im Westen sind wir wenigstens ab und zu Mehrheitsbeschaffer, wenn es darum geht - fast im FDP-Sinne - eine bestimmte Mehrheit gegen die konservative Seite aufrechtzuerhalten. Diese Funktion hatten wir in den neuen Bundesländern vielleicht 1990, danach nicht mehr.

In dieser Situation ist es für uns fatal zu glauben, daß der Prozeß der Etablierung bündnisgrüner Positionen in den neuen Bundesländern ein Prozeß ist, der sich in Vier-Jahres-Schritten, also von Wahl zu Wahl, vollziehen kann. Ich gehe davon aus, daß dieser Prozeß ein wesentlich längerer ist und sich mindestens noch zehn Jahre hinziehen wird. Das erfordert auch von der Bundesebene Kondition.

F: Ein wesentlicher Punkt dürfte auch darin liegen, daß Inhaltliches aufgegeben wurde oder anders bearbeitet wird, als man das vielleicht seinerzeit von den Grünen erwartet hatte.

Unser Problem ist, daß die generellen Ziele, also die »ökologische Welt« und auch »friedensbildende Prozesse« Visionen sind. Das Problem ist, die Akzeptanz dafür zu bekommen.

Die Grünen haben teilweise die Forderungen sehr scharf formuliert, aber sie haben dem Prozeß der Akzeptanzgewinnung für die eigenen Ideen keine Bedeutung beigemessen

Ich sehe heute einen Unterschied zwischen der Akzeptanzgewinnung in den alten und in den neuen Bundesländern. Wir haben das grüne Konzept viel zu stark als generelles bundesweites Konzept gesehen und haben eine starke Unterlegung der Ostidentität in diesem Prozeß vernachlässigt. Dazu hat sicherlich auch beigetragen, daß die verschiedenen Bundesländer selbst im Osten unterschiedliche Entwicklungsläufe durchgemacht haben und die Ossis so einheitlich auch gar nicht im grünen Spektrum existieren. Ich glaube, daß es notwendig ist, daß sich die Ostbundesländer zusammensetzen und möglicherweise über die fünf Länder hinaus ein gemeinschaftliches koordinierendes oder sogar beschließendes Gremium schaffen. Die Aufkündigung von gründungsgrünen Positionen hat uns im Osten viel verhängnisvoller zurückgeworfen.

F: Wie erklären Sie sich das?

Bestimmte Positionen in Richtung Friedenspolitik, soziale Gerechtigkeit, insbesondere das Umverteilen von oben nach unten, werden im Osten immer noch viel sensibler wahrgenommen als in den alten Ländern. Die Auseinandersetzung mit der Marktwirtschaft gibt es hier ja noch nicht so lange. Nach fast zehn Jahren muß immer noch jeder darüber nachdenken, warum das eigentlich so oder auch so ist. Vielfach erlebe ich, daß in den alten Ländern gar nicht mehr über die Marktwirtschaft nachgedacht wird. So werden gerade solche Dinge in den neuen Ländern - im Gegensatz zu der Betriebsblindheit in den alten Ländern - sensibler wahrgenommen. Die Leute reagieren empfindlicher. Sie reagieren zum Beispiel sehr deutlich auf soziale
Ungleichstellungen. Insbesondere, was gleiche Arbeit für gleichen Lohn betrifft. Viele Unternehmer der alten Länder, die ihre Produktionsstätten in den Osten verlagert haben, zahlen immer noch niedrigere Löhne, obwohl die Leute praktisch die gleiche Arbeit leisten wie ihre Kollegen in Schleswig-Holstein oder Niedersachsen. Und so etwas führt dann auch zur Abkehr
von der Regierung.

Interview: Ulrike Schulz

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