Mit der deutschen Vereinigung wurde 1990 nicht nur das Kapitel des
ostdeutschen "Sozialismus", sondern auch das des westdeutschen "rheinischen
Kapitalismus" geschlossen. Seither wurden die bereits seit den späten
1970er Jahren zunehmenden sparpolitischen Maßnahmen des "Sozialabbaus"
- im Sinne einer sukzessiven Reduzierung von Sicherungsniveaus - erweitert
um eine Dimension grundlegender Strukturveränderungen und Paradigmenwechsel
am System des "rheinischen Sozialstaats" selbst. Die immer noch gebräuchlichen
Begrifflichkeiten des "Sozialabbaus" oder auch des "Umbaus des Sozialstaates"
greifen in so weit zu kurz, als sie die Dimension dieser Systemveränderung
gegen den Sozialstaat selbst nicht erfassen. die seit Beginn der 1990er
Jahre vor dem Hintergrund von so genannter "Standortdebatte" (Globalisierung)
und Vereinigungsfolgen die herrschende deutsche Sozialpolitik maßgeblich
prägt .
I.
Grundbedingungen des "rheinischen" Sozialstaats
Der den westdeutschen Nachkriegskapitalismus prägende Sozialstaatskonsens
zwischen Lohnarbeit und Kapital verdankte sich wesentlich vier Faktoren:
-
Die scharfe soziale Spaltung des Weimarer Kapitalismus im Gefolge der Weltwirtschaftskrise
von 1928, die als wichtige Voraussetzung für den Siegeszug der Nazis
galt, sowie die Verstrickung von Großkapital und Hochfinanz in die
Katastrophe von 1933 hatten den Kapitalismus nach 1945 in eine tiefgreifende
Legitimationskrise gebracht. Der Rekonstruktion einer marktwirtschaftlichen
Ordnung in Westdeutschland konnte nur dadurch gesellschaftliche Akzeptanz
gesichert werden, indem sie mit dem Versprechen wirksamer sozialer Regulierung
verbunden wurde, um das Wiederaufleben eines demokratiegefährdenden
sozialen Krisenszenarios wie im späten Weimar auszuschließen.
-
Die (maßgeblich von Adenauers Politik der Westintegration herbeigeführte)
deutsche Teilung machte Mechanismen des sozialen Ausgleichs zur inneren
Stabilisierung des "Frontstaats BRD" erforderlich, um "systemgefährdende"
Radikalisierungen gewerkschaftlicher Kämpfe zu vermeiden.
-
Der "Nachkriegsboom" mit hohen Wachstumsraten ermöglichte sozialen
Fortschritt und sozialstaatlichen Ausbau vielfach auch ohne zugespitzte
Verteilungskonflikte. Der Anspruch der Arbeitnehmerschaft auf Teilhabe
an den Wachstums- und Produktivitätsgewinnen war dem Grunde nach nicht
umstritten.
-
Nicht zuletzt durch die wiederholt unter Beweis gestellte Fähigkeit
der Gewerkschaftsbewegung zum Arbeitskampf bestand ein relatives Kräftegleichgewicht
zwischen Kapital und Arbeit. Da keine Seite in der Lage war, die andere
machtpolitisch zu dominieren, entwickelten sich vielfältige Formen
des institutionalisierten Interessenausgleichs.
Der Sozialstaatskonsens war gleichsam ein "historischer Kompromiss" zu
beiderseitigem Nutzen. Er sicherte einerseits die Einbindung der sozialdemokratisch
geführten Gewerkschaftsbewegung in die kapitalistische, wirtschaftlich
wie politisch in den Westen eingebundenen Wirtschaftsordnung und ermöglichte
andererseits die Realisierung sozialen Fortschritts – bis hin zu den Bestrebungen,
in Schule und Hochschule Klassenbarrieren beim Zugang zu Bildung abzubauen.
Die vielzitierte "soziale Marktwirtschaft" war weniger ein "System"
als das Ergebnis des Klassenkompromisses aufgrund des relativen Gleichgewichts
der Kräfte, die weiterhin entgegengesetzte Gestaltungsziele im Rahmen
des Sozialstaatskonsenses verfolgten: während die Gewerkschaften und
die politische Linke soziale Regulierungen gegenüber dem Markt auszubauen
suchten, verfolgten Arbeitgeber und liberal-konservative Politik die gegenteilige
Zielsetzung. Auf Grund der objektiven Interessengegensätze blieb das
relative Gleichgewicht der Kräfte und die "sozialpartnerschaftliche"
Einhegung von Konflikten stets prekär.
II. Vom "Vollbeschäftigungsstaat"
zur Instrumentalisierung der Massenerwerbslosigkeit
Der "rheinische" Sozialstaat war strukturell auf Vollbeschäftigung
(Abwesenheit von Massenerwerbslosigkeit) ausgerichtet. Vollbeschäftigung
zählte zu den obersten staatspolitischen Zielen. Dies war nicht nur
Ausdruck des allgemeinen Wachstumsoptimismus, sondern auch der hegemonialen,
aus der Weimarer Katastrophe herrührenden Überzeugung, dass Massenerwerbslosigkeit
– insbesondere wenn sie dauerhaft auftritt – erhebliche Gefährdungspotentiale
für das friedliche Zusammenleben, die soziale Integrationsfähigkeit
der Gesellschaft und die Stabilität von Demokratie (und die wirtschaftliche
Prosperität) freisetze. Die Vorstellung dauerhaft gesicherter (wenngleich
patriarchalisch strukturierter) Vollbeschäftigung prägte maßgeblich
die Strukturen sozialer Sicherheit: der garantierte Zugang zu angemessener
sozialer Absicherung war Teil des sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses;
Vollbeschäftigung war für eine stabile Finanzbasis der paritätisch
beitragsfinanzierten Sozialversicherung unerlässlich.
Steuerfinanzierte Sozialsysteme (wie Sozialhilfe, Kindergeld, Wohngeld)
hatten demgegenüber lediglich ergänzende Funktionen. Dem Verfassungsgebot
von der "Sozialpflichtigkeit des Eigentums" entsprechend herrschte allerdings
weithin Konsens, dass die wirtschaftlich Starken (Arbeitgeber und Vermögensbesitzer)
auch steuerlich angemessen zur Finanzierung des Sozialstaats beizutragen
haben.
Das weitgehend durch Arbeitsrecht und Flächentarifverträge
regulierte (patriarchalische) Normalarbeitsverhältnis galt als selbstverständlicher
Ausfluss des (z.B. in der NRW-Landesverfassung ausdrücklich verankerten)
Anspruchs der Arbeitnehmerschaft, an der Gestaltung der Arbeits- und Lebensbedingungen
im Sozialstaat gleichberechtigt mitzuwirken.
Stagnative Wirtschaftsentwicklungen ließen die Verteilungsspielräume
schrumpfen und führten zu vermehrten Verteilungskonflikten. Mit der
wiederauflebenden Massenerwerbslosigkeit begann die Erosion der Finanzbasis
der Sozialversicherung. Der Aufbruch von Frauen aus dem partiarchalischen
Lebensmodell der Hausfrauenehe zugunsten selbstbestimmterer und ökonomisch
unabhängigerer Lebensformen stellte zugleich neue Anforderungen an
den Arbeitsmarkt und die gesellschaftliche Organisation von Erziehungs-
und Pflegearbeit. Seit der "rheinische" Sozialstaat derart in die Krise
geriet, war die Bindung von sozialer Sicherheit an Erwerbsarbeit vielfältiger
und oft berechtigter Kritik ausgesetzt. So wurde von feministischer Seite
zu Recht der regelhafte Ausschluss von Frauen aus der über Erwerbsarbeit
vermittelten sozialen Sicherung angegriffen. Die rationalisierungsbedingt
wachsende Arbeitsplatzlücke und steigende Erwerbslosigkeit führte
ebenfalls zu Forderungen nach einer stärkeren Entkoppelung von Erwerbsarbeit
und sozialer Sicherung durch verstärkte Steuer- statt Beitragsfinanzierung,
um auch Erwerbslosen eine uneingeschränkte Absicherung zu ermöglichen,
Teils wurde dabei allerdings übersehen: nicht die Vollbeschäftigungsorientierung
des Sozialstaats (und damit die lohnbezogene Beitragsfinanzierung der Sozialversicherung)
ist das Problem, sondern das Unvermögen des Sozialstaats, das Vollbeschäftigungsversprechen
auch unter ungünstigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und auch
gegenüber Frauen einzulösen. Bestrebungen für eine erneuerte,
zukunftsfähige Sozialstaatlichkeit werden sich dem Ziel einer "Neuen
Vollbeschäftigung" um so mehr stellen müssen.
Als die Finanzierungsprobleme der beitragsfinanzierten Sozialversicherung
aufgrund der strukturellen Erwerbslosigkeit offenkundig wurden, reagierte
die Politik zunächst mit "Sozialabbau" und Kurs auf steuerliche Entlastungen
der Wirtschaft. Die Entdeckung des Rotstifts als wichtigem Werkzeug der
Sozialpolitik datiert aus der zweiten Hälfte der 70er Jahre. Schon
die sozialliberale Regierung unter Helmut Schmidt ("Die Pferde müssen
wieder saufen") huldigte der Vorstellung, dass "Wachstum und Beschäftigung"
insbesondere durch Entlastungen der "Leistungsträger" (Arbeitgeber)
stimuliert werden müssten. Mit dem Haushaltsstrukturgesetz 1981 wurde
erstmals der sozialhilferechtliche Bedarfsdeckungsgrundsatz in Frage gestellt,
indem der Teuerungsausgleich der Sozialhilfesätze eingeschränkt
wurde. Gegen die Sparpolitik der sozialliberalen Koalition mobilisierten
die Gewerkschaften 1982 zu bundesweiten Demonstrationen.
Die 1980er Jahre wurden das Jahrzehnt des "Sozialabbaus", d.h. einer
Absenkung von Sicherungsniveaus und Einschränkung sozialrechtlicher
Ansprüche der Versicherten und Leistungsbeziehenden. Die Liste der
gesetzgeberischen Eingriffe in das soziale Leistungsrecht ist bei weitem
zu umfangreich, um sie hier wiedergeben zu können. Die von Stichwortgebern
aus Arbeitgeberverbänden inspirierte Philosophie der konservativ-liberalen
Koalition zielte darauf, durch "maßvolle" Leistungskürzungen
und "Ausgabendisziplin" die Sozialsysteme finanziell zu stabilisieren und
zugleich mit einer angebotsorientierten Politik der Deregulierung des Arbeitsmarktes
(Begünstigung prekärer Beschäftigungsformen jenseits gesicherter
"Normalarbeit" und Abbau "überzogener" Arbeitnehmerrechte) und steuerlicher
Entlastungen der Arbeitgeber das Wirtschaftswachstum zu stimulieren. Gleichwohl
ließ der wirtschaftliche Aufschwung in der zweiten Hälfte der
1980er Jahre das Phänomen der "Entkoppelung von Wachstum und Beschäftigung"
deutlich hervortreten und widerlegte schlagend die Philosophie, dass "die
Gewinne von heute die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze
von übermorgen" seien.
Von gleichsam "strategischer" Bedeutung für die weitere Entwicklung
wurde indes, dass die Leistungskürzungen bei der Arbeitslosenversicherung
in Verbindung mit dem einsetzenden Druck zur Annahme unterwertiger Beschäftigung
den Schrecken der Erwerbslosigkeit für die beschäftigten ArbeitnehmerInnen
sukzessive erhöhten. Dies steigerte den disziplinierenden Druck der
Massenerwerbslosigkeit und erschwerte gewerkschaftliche Gegenwehr in den
Betrieben. Die aktive Wahrnehmung von Arbeitnehmerrechten aus Betriebsverfassung
und Tarifvertrag erschien zunehmend als persönliches Risiko. Zudem
hatte die Änderung des § 116 AFG zum "Anti-Streik-Paragrafen"
die "kalte Aussperrung" zu einer scharfen Waffe gegen die Gewerkschaften
gemacht. Das gesellschaftliche Kräfteverhältnis wurde sukzessive
zu Gunsten der Kapitalseite zu verschoben. Seit der zweiten Hälfte
der 1980er Jahre verlagerten die Tarifauseinandersetzungen ihr Thema von
Verbesserungen für die Beschäftigten zunehmend hin zur Abwehr
offensiver Deregulierungsbestrebungen der Arbeitgeber – mit allenfalls
mäßigem Erfolg.
III.
Neoliberale Revolution gegen den Sozialstaat
Die Verwendung des Begriffs "Revolution" rechtfertigt sich daher, dass
der neoliberal inspirierte Gesellschaftsumbau nahezu sämtliche Lebens-
und Politikbereiche erfasst und grundlegend umkrempelt. Näher beleuchtet
werden im Folgenden allerdings nur die Grundzüge von Veränderungen,
die sich auf den Sozialstaat auswirken.
Der Zusammenfall von internationaler Rezession und vereinigungsbedingtem
Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft Anfang der 1990er Jahre sorgte
dafür, dass die von Arbeitgeberverbänden und liberalkonservativer
Politik machtvoll inszenierte Diskussion über eine akute Gefährdung
des Wirtschaftsstandorts Deutschland im "globalisierten" Wettbewerb auch
in der Alltagswahrnehmung plausibel erschien. Gleichwohl handelte sich
um eine interessengeleitete "Gespensterdebatte", die auf nichts anderes
zielte, als die Wirtschaft endlich von den Kosten eines angeblich "überbordenden"
Wohlfahrtsstaats zu entlasten.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung schrieb damals:
"Die Diagnose einer Strukturkrise
für Westdeutschland wird mit dem Schlagwort von der Gefährdung
des ‚Standorts Deutschland’ vorangetrieben. Das ist nunmehr das dritte
Mal in gut 10 Jahren, daß eine Diskussion dieser Art geführt
wird. Geradezu reflexartig wird jede konjunkturelle Abschwächung von
Interessenvertretern und Politikern als Standortkrise gedeutet und werden
die gleichen Rezepte zur dauerhaften Gesundung angeboten. ... Offenbar
bieten nun die strukturelle Schwäche der ostdeutschen Wirtschaft und
die Rezession im Westen erneut Gelegenheit, mit noch größerer
Härte als zuvor die Standortfrage voranzutreiben."
Und:
"In der Standortdebatte wird ein
Problem diskutiert, das es in der behaupteten Art weder jetzt gibt, noch
in der Vergangenheit in Deutschland gab. Keine empirische Untersuchung
der jüngsten Zeit und keine Untersuchung in den Jahren davor hat einen
tiefgreifenden Mangel an internationaler Wettbewerbsfähigkeit der
deutschen Industrie nachweisen können."
Mit dem Zusammenbruch des "Realsozialismus" und der
deutschen Vereinigung war auf Seiten der Wirtschaft das Erfordernis, sozialen
Frieden durch sozialen Ausgleich zu sichern, restlos entfallen. "Wir müssen
die Krise jetzt nutzen, denn jetzt sind die Menschen reif", verkündete
Arbeitgeber-Chef Olaf Henkel 1992 in Anwesenheit des Kanzlers vor dem CDU-Wirtschaftsrat;
der soziale Friede dürfe "nicht länger zur Monstranz gemacht
werden".
Damit wurde der Sozialstaatskonsens abschließend
einseitig aufgekündigt. Die Motive sind schlicht verteilungspolitischer
Natur. Die Arbeitgeber suchen sich der "marktfremden" Kosten, die ihnen
die Mitverantwortung für die Finanzierung des Sozialstaats auferlegte,
zu entledigen. Im Zentrum der neoliberalen Offensive stehen seither die
"Steuer- und Abgabenbelastung der Wirtschaft" und die "Arbeitskosten" generell,
insbesondere aber die als "Lohnzusatzkosten" bezeichneten Sozialversicherungsbeiträge.
Diese vor allem deshalb, weil sie nicht nur die Arbeitgeber, sondern auch
die ArbeitnehmerInnen belasten und sich daher am Besten für eine populistische
Skandalisierung eigneten. Dabei stehen die Beitragserhöhungen Anfang
der 1990er Jahre nicht zuletzt in Zusammenhang mit der einseitigen Überwälzung
von Folgelasten der deutschen Vereinigung: die Sozialversicherungsträger
im Westen haben die strukturellen Defizite der ostdeutschen Sozialversicherungsträger
vorrangig aus Eigenmitteln auszugleichen. In der gesetzlichen Rentenversicherung
etwa belief sich der Transfer zwischen 1991 und 1999 auf 112 Mrd. DM.
Die herrschenden Diskussionen über einen "Umbau"
des Sozialstaats in den 1990er Jahren vollzogen einen heimlichen Paradigmenwechsel:
Sie zielen nicht länger darauf, eine neue finanzielle Stabilisierung
der Sozialversicherung auf dem Wege des Abbaus der Erwerbslosigkeit zu
erreichen. Das Vollbeschäftigungsziel des alten Arbeitsförderungsgesetzes
(AFG) wurde schließlich mit der Generalreform zum SGB III gestrichen,
Massenerwerbslosigkeit in der öffentlichen Diskussion "endgültig"
von einem gesellschaftlichen zu einem individuellen Defizit umdefiniert.
Die strukturelle Massenerwerbslosigkeit wird seither als gegeben hingenommen
und die Frage heißt nun, wie die Sozialversicherung so zurückgeschrumpft
werden kann, dass sie trotz der arbeitsmarktbedingten Einnahmeausfälle
wirtschaftlich funktionieren kann. In dieser Entkoppelung von sozialer
Sicherung und Beschäftigung liegt ein konzeptioneller Bruch mit einem
konstitutiven Paradigma des "rheinischen" Sozialstaats. Damit wird der
mit der Erwerbslosigkeit verbundene faktische Rückzug der Wirtschaft
aus ihrer Mitverantwortung für die Sozialversicherung gleichsam auf
die "konzeptionelle Ebene" übertragen.
Die unter den seither herrschenden Doktrinen der
angebotsorientierten Wirtschaftspolitik vorangetriebenen Steuer- und Abgabenentlastungen
zugunsten der Wirtschaft vertiefen nicht nur die Finanzkrise der beitragsfinanzierten
Sozialversicherung, sondern auch die der öffentlichen Haushalte. Damit
produziert die neoliberal inspirierte Politik selbst jene "Sachzwänge",
auf die mit vermehrter "Sparpolitik" in sozial relevanten Ausgabenbereichen
reagiert wird. Der neue shareholder-Kapitalismus unter dem Regime der deregulierten
internationalen Finanzmärkte verkehrt den Verfassungsgrundsatz von
der Sozialpflichtigkeit des Eigentums, dessen Gebrauch der Allgemeinheit
dienen soll, ins Gegenteil: Die sozialen Sicherungssysteme werden ungeachtet
wachsender Anforderungen durch die soziale Krise gleichsam der Reichtumsförderung
tributpflichtig; sozial unverantwortliche Arbeitsplatzvernichtung und kostensenkender
Druck auf die verbleibenden Beschäftigten dient der einseitigen Befriedigung
der Aktionäre.
Es geht nicht nur um den "Rückzug der Politik"
aus der Wirtschaft, sondern auch um einen möglichst weitgehenden Umbau
öffentlicher und sozialstaatlicher Infrastrukturen nach dem Vorbild
ökonomischer Wettbewerbsmärkte – gleichsam eine "Ökonomisierung
des Politischen", die die "Entpolitisierung der Ökonomie" ergänzt.
Das quer durch die Sozialpolitik geisternde Wort von der "Kundenorientierung"
deutet die Analogie zu normalen Güter- und Dienstleistungsmärkten
an. Damit gelingt es auch, die frühere, emanzipatorisch orientierte
Kritik an bevormundenden, bürokratischen Strukturen, wie sie insbesondere
von den Grünen formuliert wurde, teilweise zur Legitimation des marktförmigen
Umbaus heran zu ziehen.
Dabei hat auch die Debatte um "Kundenorientierung"
im Sozialbereich gespenstische Züge: Kunde am Markt ist nämlich
stets der, der bezahlt. Dies sind die auf soziale Leistungen angewiesenen
Menschen nur ausnahmsweise, nämlich dort, wo sie als Selbstzahler
auftreten. Ansonsten fällt die Kundenrolle im Sozial- und Gesundheitswesen
den Kostenträgern (Sozialversicherungsträger, Sozialhilfeträger)
zu. Unter dem Druck von "Beitragsstabilität", "Haushaltskonsolidierung"
und Anforderungen zur Steigerung der "Wirtschaftlichkeit" nutzen die Kostenträger
ihre Marktmacht, um die Vergütungen für die Träger sozialer
Einrichtungen und Dienstleistungen zu drücken. Nicht zufällig
sind es gerade Tarifverträge mit sozialen und arbeitsmarktpolitischen
Trägern, die (für Beschäftigte in arbeitsmarktpolitischen
Programmen) Niedrigentlohnung unterhalb früherer Tarifstandards ermöglichen.
Gegenüber den "Modernisierungsverlierern" werden
systematisch die Schrauben angezogen. Ihnen tritt der "workfare state"
in bemerkenswertem Gegensatz zu seiner "liberalen" Etikettierung um so
mehr als "strafender Staat" gegenüber. Die qualitative Verschlechterung
der Absicherung bei Erwerbslosigkeit und die mit dem "Lohnabstandsgebot"
legitimierte relative Absenkung des Sozialhilfeniveaus, kombiniert mit
schärferen Auflagen für die Leistungsberechtigten, öffnet
der Deregulierung von Beschäftigungsverhältnissen und Arbeitsentgelten
nach unten neue Spielräume. Orientiert an US-amerikanischen Vorbildern
soll jede Arbeit besser sein als keine.
In den damaligen Oppositionsparteien SPD und Grüne
bestand Mitte der 1990er Jahre durchaus ein Bewusstsein über den "radikalreformerischen",
systemverändernden Charakter der konservativ-liberalen Politik. So
hieß es etwa im ersten rot-grünen Koalitionsvertrag in NRW von
1995:
"Mit ihrer Politik sozialer Demontage
und der Begünstigung der wirtschaftlich Starken zu Lasten der Schwachen
gefährdet die amtierende Bundesregierung den Fortbestand des Sozialstaats
und die Zukunftsperspektiven der solidarischen Gesellschaft in Deutschland.
Deshalb besteht eine Hauptaufgabe nordrhein-westfälischer Landespolitik
darin, darauf hinzuwirken, dass die Demontage des Sozialstaats durch die
Bonner Koalition gestoppt und Perspektiven für eine solidarische Weiterentwicklung
des Sozialstaats eröffnet werden."
Im Folgenden werden anhand einiger Bereiche wesentliche
Veränderungen (1990 – 1998) knapp skizziert.
-
Pflegeversicherung
Prototyp einer "post-sozialstaatlichen" Sozialversicherung
wurde die Pflegeversicherung (SGB XI), deren Leistungen aus Gründen
der "Beitragsstabilität" von vornherein auf eine unzureichende "Grundabsicherung"
mit nicht dynamisierten Festbeträgen reduziert sind und die einseitig
von den abhängig Beschäftigten finanziert werden muss. Die die
sozialstaatliche Sozialversicherung tragenden Strukturprinzipien der paritätischen
Finanzierung durch Arbeitgeber und ArbeitnehmerInnen und des "vorrangigen"
Sicherungssystems, das im Regelfall eine Inanspruchnahme subsidiärer
Sozialhilfeleistungen entbehrlich macht, wurden aufgegeben.
Das SGB XI zielt nicht auf eine durchgreifende Verbesserung
der schon vormals prekären Pflegequalität, sondern darauf, ein
Gutteil der bislang über die Sozialhilfe finanzierten Pflegeaufwendungen
von den öffentlichen Haushalten auf die Versichertengemeinschaft zu
überwälzen. Mit dem SGB XI wurden zugleich die pflegerischen
Infrastrukturen in einen ökonomischen Wettbewerbsmarkt verwandelt,
Dies bedeutet nicht nur ungehinderten Marktzugang für privat-gewerbliche
Investoren, für die Pflege der Kapitalverwertung dient, sondern auch
den Zwang für alle öffentlichen und freigemeinnützigen Pflegeeinrichtungen,
sich "als Unternehmen" am Markt zu behaupten. Die Erbringung der menschlichen
Dienstleistung Pflege wird zergliedert in abrechnungsfähige Einzelleistungen
mit oft realitätsfremden Minutenwerten. Insbesondere die Kommunalverbände
(die Kommunen sind Kostenträger für die über das SGB XI
hinausgehenden Aufwendungen, soweit die Pflegebedürftigen diese nicht
selbst bezahlen können) nutzen ihre starke Position als Kostenträger,
um in den Pflegesatzverhandlungen als Preisdrücker zu agieren. In
Folge dessen hat sich die Situation der Pflegebedürftigen wie der
professionell Pflegenden seit Einführung der Pflegeversicherung weiter
verschlechtert. Verletzungen der Menschenwürde sind unvermeidlicher
Alltag.
-
Arbeitslosenversicherung/Arbeitsverwaltung
In der Arbeitslosenversicherung sorgten weitere
Kürzungen bei den Lohnersatzleistungen für eine stärkere
Annäherung von Sicherungsniveaus und –qualität an die Sozialhilfe,
obwohl bereits ein Drittel der registrierten Erwerbslosen ohne Leistungsanspruch
blieben. Hervorzuheben ist insbesondere die automatische jährliche
Absenkung um 3 v.H. bei der Arbeitslosenhilfe (ALHI). Der disziplinierende
Schrecken der Langzeiterwerbslosigkeit erreichte dadurch eine neue, bislang
unbekannte Qualität. Insbesondere durch die Aufhebung des Berufsschutzes
wurde die "Zumutbarkeit" neuer Arbeitsverhältnisse erheblich verschärft.
Nach entsprechender Dauer der Erwerbslosigkeit kann auch der Ingenieurin
eine Putzstelle zugemutet werden. Die Beauftragung privat-gewerblicher
Dritter mit Aufgaben der Arbeitsvermittlung leitete die Privatisierung
eines "Kerngeschäfts" der Arbeitsverwaltung ein. Insbesondere in der
Jugendberufshilfe löste der Zwang zur Ausschreibung von Aufträgen
durch die Arbeitsämter einen Preiswettbewerb aus, in dem sich teils
neue Großanbieter mit fragwürdigen Beschäftigungsverhältnissen
gegen bewährte und engagierte Träger durchsetzten. Mit der –
schließlich auch "förderschädlichen", d.h. nicht mehr kompensierbaren
– Kürzung der ABM-Entgelte auf 80 vH des tariflichen bzw. ortsüblichen
Arbeitsentgelts brach der Gesetzgeber mit dem Grundsatz "gleicher Lohn
für gleiche Arbeit" und leitete die Deregulierung des Arbeitsmarkts
zugunsten verstärkter Niedriglohnbeschäftigung ein. Ausgebaut
wurden dagegen solche Instrumente der Arbeitsmarktpolitik, die eher Angebote
an Arbeitgeber als an Erwerbslose sind: Lohnkostenzuschüsse und "betriebsnahe"
Qualifizierung, auch unterhalb anerkannter Berufsabschlüsse.
Insgesamt wandelten sich Arbeitslosenversicherung
und Arbeitsverwaltung von einem Instrument der Absicherung und Hilfe für
Erwerbslose immer stärker zu einer "wirtschaftsnahen Dienstleistung".
-
Gesundheitswesen/Gesetzliche
Krankenversicherung
Die Gesundheitsreformen unter der Kohl-Regierung
in den 1990er Jahren basierten – ähnlich der Standortdebatte – auf
einer Geisterdiskussion über eine angebliche "Kostenexplosion" im
Gesundheitswesen. Tatsächlich blieben die Ausgaben gemessen an gesamtwirtschaftlichen
Parametern (Bruttoinlandsprodukt) relativ konstant, während die Scherenentwicklung
von Einnahmen und Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) vor
allem auf die arbeitsmarktbedingten Einnahmeausfälle und Mehraufwendungen
(Armut macht krank!) zurückzuführen ist. Die Eingriffe in die
GKV setzten erstens mit der Ausweitung der Zuzahlungsbelastung von Kranken
den Weg eines "kalten Ausstiegs" aus der paritätischen Finanzierung
von Leistungen des Gesundheitswesens sowie aus dem Solidarprinzip der GKV,
wonach die Gesunden für die Kranken einstehen, fort. Zweitens wurden
die Weichen auf einen Umbau des Gesundheitswesens nach dem Vorbild ökonomischer
Wettbewerbsmärkte gestellt. Dies betrifft einerseits den Wettbewerb
zwischen den Krankenversicherungsträgern, dessen für einzelne
Kassen ruinöse Auswirkungen (Risikoselektion) sogleich mit dem Risikostrukturausgleich
(RSA) abgefedert werden mussten. Andererseits betrifft dies die Beziehungen
zwischen Kassen und Leistungserbringern: Krankenhäuser müssen
fortan zunehmend wie renditeorientierte "Wirtschaftsunternehmen" agieren,
um sich "am Markt zu behaupten". Simulierte Preise (Fallpauschalen, Sonderentgelte)
und der Sparzwang der sektoralen Budgetierung führten zu einer weitergehenden
Ökonomisierung des Arzt-Patienten-Verhältnisses. Die Frage, ob
der Patient sich "rechnet", beeinflusst zunehmend die Zumessung von Leistungen.
Der beabsichtigte Umbau der GKV nach dem Beispiel
der privaten Krankenversicherung (Einführung von Beitragsrückgewähr,
Selbstbehalten), die Aufspaltung des Leistungskatalogs in versicherungsfinanzierte
Pflichtleistungen und privat abzusichernde Wahlleistungen oder die von
Arbeitgeberverbänden geforderte Einfrierung der Arbeitgeberbeiträge
scheiterte am Widerstand der damaligen rot-grünen Opposition.
-
Sozialhilfe
In der Sozialhilfe wurde der Bedarfsdeckungsgrundsatz
mit willkürlichen bundesrechtlichen Deckelungen der jährlichen
Regelsatzanpassungen und der nachfolgenden Koppelung an die Rentenanpassung
vollends zur leeren Floskel, während das armenpolizeiliche Instrumentarium
der "Missbrauchsbekämpfung" und der Sanktionen gegen Hilfeberechtigte,
die "zumutbare" Arbeit "verweigern", qualitativ verschärft wurden.
So wurde der frühere Ermessensspielraum der Sozialämter, bei
"Arbeitsverweigerung" Leistungskürzungen zu verhängen, durch
eine Muss-Vorschrift abgelöst; nur die gänzliche Streichung der
Hilfe bleibt noch "Ermessensentscheidung". Seither ist die Sicherung des
Existenzminimums an Verhaltensvoraussetzungen der EmpfängerInnen jenseits
einer gegebenen Bedürftigkeit geknüpft.
Das Sozialhilferecht des "rheinischen" Sozialstaats
hatte weitestgehend auf Vorbedingungen für den Leistungsbezug verzichtet,
da die Sozialhilfe die materielle Einlösung des Verfassungsgebots
vom Schutz der unteilbaren Menschenwürde darstellte. Es sollte der
Mensch per se einen Anspruch auf das für ein würdiges Leben Notwendige
haben, damit niemand genötigt sei, sein Dasein in menschenunwürdigen
Verhältnissen zu fristen. Der Grundsatz der Unteilbarkeit der Menschenwürde
wurde in doppelter Weise gebrochen:
-
Das im Zuge der Einschränkung von Art. 16 GG (Grundrecht
auf Asyl) neu geschaffene Asylbewerber-Leistungsgesetz grenzt die asylsuchenden
Flüchtlinge aus dem Schutz- und Hilfebereich des BSHG aus. Dieses
rassistische Sondergesetz bewertet die Menschenwürde der Betroffenen
um mindestens ein Fünftel niedriger, verweigert ihnen einen selbstständige
Lebensführung und schränkt den Zugang zu medizinischer Versorgung
empfindlich ein.
-
Anspruch auf das Existenzminimum hat nur noch derjenige,
der nachweislich aktiv und bedingungslos (bis hin zur sozialhilferechtlichen
Pflichtarbeit ohne Arbeitnehmer-Status) auf die Vermeidung seiner Sozialhilfeberechtigung
hinwirkt, Wer dem nicht nachkommen kann oder will, wird zur Erlangung des
Existenzminimums gleichsam "von Staats wegen" auf Existenzsicherungskriminalität
oder Straßenbettelei verwiesen.
In der Behindertenhilfe wurden die Beziehungen zwischen
Sozialhilfeträger und den Trägern (Anbietern) der sozialen Hilfen
im Interesse von "mehr Transparenz und Wirtschaftlichkeit" in marktförmiger
Weise verändert. Die Entwicklung zielt in die gleiche Richtung wie
im Gesundheitswesen und in der Altenpflege.
-
Tarifpolitik
Die Tarifpolitik der 1990er Jahre könnte überschrieben
werden mit "Tarifdemontage per Tarifvertrag". Durch Massenerwerbslosigkeit
und arbeitsmarktpolitische Deregulierung geschwächt, hielten die Gewerkschaften
der ideologischen Offensive der "Standortsicherer" nicht Stand, zumal sozialdemokratische
"Modernisierer" auch in ihren Reihen vermehrt an Gewicht gewannen. In einer
Welle einzelbetrieblicher Erpressungen von Betriebsräten wurden zur
"Standort- und Beschäftigungssicherung" kostensenkende und oft tarifwidrige
Vereinbarungen getroffen. Die Tragfähigkeit der Flächentarifverträge
wurde "von unten" her ausgehöhlt; der Schrecken der Erwerbslosigkeit
lähmte wirksam die Fähigkeit von Belegschaften und Gewerkschaften,
die Tarifrechte zu wahren. Die immer wütenderen Angriffe der Arbeitgeber
gegen den Flächentarifvertrag beantworteten die Gewerkschaften mit
dem Angebot zur "Reform" derselben. So wurden vormals untertarifliche "Einstiegslohngruppen"
für neu eingestellte Erwerbslose und vielfältige Arbeitszeitflexibilisierungen
ermöglicht, die in Richtung der Arbeitgeber-Vision von der "atmenden
Fabrik" zielen. Hatte im "rheinischen Kapitalismus" die konfliktfähige
IG Metall faktisch die Tarifführerschaft im Geleitzug der DGB-Gewerkschaften
inne, wurde nunmehr die sozialpartnerschaftliche IG BCE (vormals IG Chemie)
zur Speerspitze tarifpolitischer "Modernisierung".
Mit Klaus Zwickels Angebot zu einem "Bündnis
für Arbeit", in das er als Gegenleistung für einen Beschäftigungsaufbau
lohnpolitische Zurückhaltung einzubringen versprach, war die letzte
Bastion gegen die von Arbeitgebern und Regierung verlangte "Lohnzurückhaltung"
gefallen. Damit hatten auch die Gewerkschaften akzeptiert, dass es den
von den Neoliberalen behaupteten Zusammenhang von Lohnhöhe und Beschäftigung
gebe. Die Tarifpolitik der Lohnzurückhaltung begünstigt die Arbeitgeber
nicht nur in der Primärverteilung zwischen Gewinn- und Erwerbseinkommen.
Sie geht zugleich zu Lasten der Sozialversicherung, deren Beitragseinnahmen
weiter zurückgehen; zu Lasten der RentnerInnen, deren Rentenanpassung
der Nettolohnentwicklung folgen; schließlich zu Lasten der Sozialhilfeberechtigten,
seit die Regelsatzentwicklung in systemwidriger Weise an die Rentenanpassung
gebunden wurde.
IV.
Zur Sozialpolitik von Rot-Grün
1998 wurde erstmals eine amtierende Bundesregierung
durch Wahlen abgelöst. Von der neuen, rot-grünen Regierung erwarteten
viele WählerInnen einen Politikwechsel zu mehr sozialer Gerechtigkeit
- mehr Verteilungsgerechtigkeit gegen das Auseinanderdriften von Reich
und Arm, wirksamere Bekämpfung der Erwerbslosigkeit und mehr Stabilität
der sozialen Sicherung. Wer indes die sozialdemokratische Politik auf Landesebene
in den 1990er Jahren und die politische Entwicklung der Grünen im
gleichen Zeitraum intensiver beobachten konnte, konnte bereits damals kaum
zweifeln, dass sich solche Erwartungen bald als Illusion erweisen würden.
Statt die neoliberale Revolution gegen den Sozialstaat zurückzudrängen,
wird sie von der Regierung der Neuen Mitte in bislang unbekannter Weise
vorangetrieben. Die nachfolgenden Beispiele mögen dies veranschaulichen:
Auch die rot-grüne Rentenreform wurde mit einer
"Geisterdebatte" legitimiert: ähnlich wie bei den Gesundheitsreformen
wurde eine systemsprengende "Kostenexplosion" behauptet, für die die
"demografische Entwicklung" verantwortlich sei. Maßgeblich für
die finanzielle Tragfähigkeit der GRV ist aber nicht das zahlenmäßige
Verhältnis zwischen jüngeren und älteren Generationen, sondern
das von Beschäftigungsstand, Entgelthöhe und Produktivitätsentwicklung
abhängige Beitragsvolumen. Die rot-grüne Rentenreform brach mit
gleich drei Strukturprinzipien der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV):
-
mit der paritätischen Finanzierung – unmittelbarer
Ausfluss des Sozialstaatsgebots und der Sozialpflichtigkeit des Eigentums:
um eine annähernd gleichhohe Alterssicherung zu erlangen, haben ArbeitnehmerInnen
zukünftig allein von ihnen finanzierte Privatversicherungen abzuschließen.
-
mit dem Grundsatz der "Lebensstandardsicherung", der
1957 in die GRV eingeführt wurde und der nach herrschender Meinung
mit einem Rentenniveau von 70 vH erfüllt war: das Rentenniveau sinkt
in Folge der Reform sukzessive auf ca. 64 vH.
-
mit der "ordnungspolitischen Zentralität" der GRV,
d.h. ihrer zentralen Bedeutung für den Regelfall einer angemessenen
Alterssicherung.
Die Reform baut gezielt die soziale Rente zugunsten
einer Teilprivatisierung des Altersrisikos ab. Dabei ist die kapitalgedeckte
Privatvorsorge nicht besser geeignet als die umlagefinanzierte soziale
Rente, der "demografischen Herausforderung" zu begegnen. Sie setzt im Gegenteil
die Alterssicherung zusätzlichen Risiken der deregulierten Finanzmärkte
aus. Die Reform entfaltet einen Systemwettbewerb zwischen GRV und Privatrente,
der zugunsten letzterer entschieden werden wird, wenn sich unter jüngeren
Beschäftigten individuelle Rendite-Kalküle gegen das Prinzip
der intergenerativen Solidarität durchsetzen. Bei Fortsetzung des
herrschenden, politisch verursachten Meinungsklimas wird dies auch eintreten.
Die Schlüsselfrage cui prodest? (wem nützt
es?) ist leicht beantwortet: Die Reform dient dem Rückzug der Arbeitgeber
aus ihrer Mitverantwortung für die Finanzierung der Alterssicherung
und eröffnet den privaten Finanzdienstleistern einen gigantischen
neuen Markt. Dafür nimmt die Regierung nicht nur die absehbare Wiederbelebung
der Altersarmut in Kauf, sondern lässt auch – ungeachtet allfälliger
öffentlicher Finanznot – eine "Anschubfinanzierung" in Form von 10
Mrd. € "Riester-Förderung" springen. Auf der Verliererseite stehen
vor allem Frauen und Langzeiterwerbslose: Frauen, weil sie in der GRV aufgrund
ihrer Benachteiligung am geschlechtshierarchischen Arbeitsmarkt schon bisher
oft nur Renten in Höhe des Sozialhilfeniveaus erreichten und in der
Privatvorsorge wegen ihrer höheren Lebenserwartung diskriminiert werden;
Langzeiterwerbslose wegen der zuvor mit dem Eichel’schen Sparpaket (1999)
vollzogenen Umstellung der Bemessungsgrundlage für ihre Rentenversicherungsbeiträge,
die von der Bundesanstalt für Arbeit an die GRV zu entrichten sind.
Die Beiträge werden seither statt vom Bemessungsentgelt für die
Arbeitslosenunterstützung (früheres Erwerbseinkommen) nur nach
den erheblich niedrigeren Zahlbeträgen der Arbeitslosenunterstützung
bemessen. Dadurch wurde auch die GRV zusätzlich finanziell geschwächt.
Die rot-grüne Steuerpolitik setzt die Umverteilung
"von unten nach oben", von öffentlichen Haushalten zu Arbeitgebern
und Vermögensbesitzern vehement fort: drastische Senkung der Spitzensteuersätze,
massive Entlastungen für die Wirtschaft – bis hin zur Eröffnung
eines neuen Markts für den Handel mit Unternehmen und Unternehmensanteilen,
deren Veräußerungsgewinne steuerfrei gestellt wurden. Selbst
die neoliberale Denkfabrik der Arbeitgeber, das Institut der Deutschen
Wirtschaft (iw), reagierte auf die "große" rot-grüne Steuerreform
mit unverhohlener Begeisterung.
Die "Öko"-Steuer sollte ursprünglich über
die Einnahme- wie die Ausgabeseite den Wandel zu ökologisch nachhaltigem
Wirtschaften fördern. Rot-Grün stellte auf der Einnahmeseite
die energiefressenden Wirtschaftszweige davon frei und nutzte die Ausgabenseite
als Instrument zur Absenkung der Rentenversicherungsbeiträge. RentnerInnen,
Erwerbslose und Sozialhilfeberechtigte müssen die Beitragsentlastung
der Wirtschaft mitfinanzieren. Von einem ökologischen Lenkungsinstrument
ist allein das Etikett übrig geblieben.
Schon die sozialhilferechtlichen Veränderungen
unter der Regierung Kohl wurden im Konsens mit den SPD-geführten Landesregierungen
vorgenommen, da das BSHG zu den im Bundesrat zustimmungspflichtigen Gesetzen
zählt. Oft handelte es sich dabei um "Kompensationsgeschäfte",
die Länder und/oder Kommunen für bundespolitisch verursachte
Mehrausgaben durch Einsparungen bei der Sozialhilfe entschädigen sollten.
Rot-Grün hat keinen Versuch unternommen, die Verschärfung des
Arbeitszwangs und die willkürlichen Deckelungen der Regelsatzentwicklung
aus der Kohl-Ära zu korrigieren. Stattdessen wurde das sozialhilferechtliche
Erbe angenommen und fortgeführt.
Zur Beflügelung der sparpolitischen Kreativität
von Kommunen und Ländern dient die neugeschaffene Experimentierklausel
im BSHG, die die Länder zu Modellversuchen mit der Pauschalierung
von Sozialhilfeleistungen ermächtigt, zu denen Hilfeberechtigte auch
gegen ihren Willen herangezogen werden können. Die Umstellung früherer
Einzelleistungen auf Pauschalbeträge, die auch "angespart" werden
können, lässt die leistungsrechtlichen Unsicherheiten wachsen;
das "Schonvermögen", über das Hilfeberechtigte leistungsunschädlich
verfügen können, wird in eine Grauzone gerückt.
Einen bemerkenswerten Paradigmenwechsel erfuhr der
Begriff "bedarfsorientierte Grundsicherung": Zielte dies Projekt in der
früheren sozialpolitischen Reformdiskussion (auch bei SPD und Grünen)
nicht zuletzt auf deutliche Verbesserungen des Sicherungsniveaus, um Armut
und Ausgrenzung besser zu begegnen, erfuhr es in der rot-grünen Regierungspolitik
eine Umdeutung zu einer "Zugangserleichterung" zur Sozialhilfe unter Bestätigung
des gegebenen, seit langem unzureichenden Niveaus. So schützt die
"Grundsicherung im Alter" als Flankierung der Riester’schen Rentenreform
keineswegs vor einem Leben in Armut, sondern erleichtert lediglich die
Geltendmachung von bestehenden Sozialhilfeansprüchen. Das Sozialhilfekapitel
des ersten Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung klärt
denn auch darüber auf, dass Rot-Grün sich die Position ihrer
Vorgänger zu eigen gemacht hat, Sozialhilfebezug nicht als Armut,
sondern als "bekämpfte Armut" anzusehen.
Die leistungsrechtlichen Ergebnisse der Kohl-Ära
werden zunächst unverändert fortgeführt. Auf dieser Grundlage
wird von Landes- wie Bundesebene mit verschiedenen Modellprojekten die
Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe politisch und
administrativ vorbereitet. Zu rechnen ist mit einer Überführung
der ALHI in die Sozialhilfe sowie mit einer Überleitung der arbeitsmarktpolitischen
Zuständigkeit für den Personenkreis der Langzeiterwerbslosen
zum Sozialamt oder zu neuen Strukturen der kommunalen Sozialverwaltung
("Sozialagenturen"), die dann gleichermaßen für erwerbslose
Sozialhilfeberechtigte Leistungsanspruch an die Arbeitsverwaltung zuständig
sind. Mit der "Zusammenführung" droht die Ausgrenzung der großen
Zahl der Langzeiterwerbslosen aus der "vorrangigen" Zuständigkeit
der Arbeitsverwaltung, gleichsam ihre "Aussteuerung" aus der Arbeitslosenversicherung.
Zur Legitimation wird neben dem Umstand, dass es
sich auch bei der ALHI um eine steuerfinanzierte, nicht eigentumsrechtlich
geschützte Leistung handle, auf die hohe Überschneidung der Personenkreise
sowie auf die gegebene relative Nähe des Leistungsrechts von ALHI
und Hilfe zum Lebensunterhalt verwiesen. Geflissentlich verschwiegen wird
dabei, dass beides Ergebnis der Kohl’schen Sozialstaatsdemontage ist.
Spektakuläre neue Eingriffe haben auf diesem Feld
noch nicht stattgefunden. Die von der alten Bundesregierung geschaffenen
ordnungspolitischen Weichenstellung in Richtung von "mehr Markt" wurden
zunächst übernommen und mit der Gesundheitsreform 2000 von Gesundheitsministerin
Fischer (Grüne) fortgeführt. Bestrebungen ihrer Nachfolgerin
Schmidt (SPD) zur kostendämpfenden Regulierung des Pharma-Marktes
(Einführung einer "Positivliste" für Medikamente, gesetzliche
Preisabschläge) wurden auf Druck der Pharmakonzerne zurückgenommen.
Für die erste Hälfte der kommenden Wahlperiode
wird allerdings eine "große" Gesundheitsreform erwartet. Im Wirtschaftsbericht
2001 deutete der Bundeswirtschaftsminister die Richtung an. Darin wird
zum einen angeregt, zur Stärkung des "Wettbewerbselements" im Gesundheitswesen
den Kassenwettbewerb zu verstärken und die Kassen zu ermächtigen,
statt der gemeinsamen und einheitlichen Verträge mit Verbänden
Einzelverträge mit Leistungserbringern abzuschließen. Letzteres
zielt auf das "Einkaufsmodell", womit sich die Kostenträger die kostengünstigsten
Anbieter heraussuchen und einen Preiswettbewerb unter Arztpraxen und Krankenhäusern
auslösen können. Zum anderen wird analog zur Rentenreform auf
den "Einstieg" in eine kapitalgedeckte Privatvorsorge in der Kranken- und
Pflegeversicherung orientiert. Dazu sollten die Arbeitgeberbeiträge
als Lohn ausgezahlt und somit von den direkten Lohnkosten entkoppelt werden.
Das Europäische Parlament orientierte bereits zuvor mit der Annahme
des "Rocard-Berichts" auf den Aufbau eines Systems privater Zusatz-Krankenversicherungen
in Europa. Nicht unbeachtlich in diesem Kontext sind auch de WTO-Verhandlungen
über ein "Allgemeines Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen
(GATS), das auch für Gesundheitsdienstleistungen Folgen hinsichtlich
Privatisierung und "Vermarktlichung" erwarten lässt.
Dass sich Bundesgesundheitsministerin Schmidt bislang
einem Systembruch analog der Rentenreform widersetzt, ist kaum Anlass zur
Entwarnung. Der Druck der Arbeitgeberverbände, von CDU und FDP sowie
sozialdemokratischer "Modernisierer" in dieser Richtung bleibt unverändert
hoch.
Die Strategie der "Vermarktlichung" öffentlicher
Infrastrukturen macht auch vor dem öffentlichen Bildungswesen nicht
halt. Die chronisch unterfinanzierten und mit überalterten Kollegien
besetzten Schulen sollen zukünftig als selbständig wirtschaftende
Aggregate mit jeweils eigenen Profilbildungen in Wettbewerb zueinander
treten. Dazu werden die Schulleitungen mit quasi-unternehmerischen Kompetenzen
in der Bewirtschaftung ihrer Sach- und Personalbudgets ausgestattet und
ihre Möglichkeiten zur Einwerbung von Drittmitteln ("public-private-partnership")
durch Aufhebung des Werbeverbots erweitert. In Folge dieser gegenwärtig
auch im rot-grünen NRW erprobten Konzeption dürfte sich die Ungleichheit
von Lernbedingungen und Bildungschancen an den Schulen – insbesondere zu
Lasten der Hauptschulen - vergrößern. Gleichwohl gilt das vorrangige
Interesse der neu-sozialdemokratischen Bildungspolitik nicht mehr der kompensatorischen
Benachteiligtenförderung, sondern der Förderung von Leistungseliten.
Die im Hochschulbereich implementierten Strategien zielen in die gleiche
Richtung. Die alten soialen Barrieren beim Hochschulzugang aus der Zeit
vor den sozialdemokratischen Bildungsreformen der 1970er Jahre leben verstärkt
wieder auf.
Mitte der 1990er Jahre entwickelte sich eine dramatische
Ausbildungsplatzkrise – in Ostdeutschland vor allem als Folge der Deindustrialisierung,
in Westdeutschland in Folge der Anpassung des Ausbildungsplatzangebots
an die rückläufigen Personalplanungen der Unternehmen und ihre
kurzfristigen Renditekalküle bei gleichzeitig wachsenden Zahlen der
SchulabgängerInnen. Die "Neue Sozialdemokratie" ignoriert die Verfassungspflicht
der Arbeitgeber zur Bereitstellung eines ausreichenden und auswahlfähigen
Ausbildungsplatzangebots, um sich stattdessen ihren Begehrlichkeiten nach
kostensenkenden Deregulierungen in der Berufsschule zu öffnen, ihre
Kritik an der (maßgeblich sparpolitisch verursachten) mangelnden
schulischen Vorbildung der AusbildungsplatzbewerberInnen, ihrer angeblich
mangelnden Flexibilität in der Berufswahl sowie ihrer angeblich mangelnden
Mobilität zu verstärken.
V.
"Dritter Weg" und "aktivierende Sozialpolitik"
Auch wenn Neoliberalismus und "Dritter Weg" der "Neuen
Mitte" oder der "Neuen Sozialdemokratie" von derselben angebotsorientierten
Wirtschaftspolitik ausgehen, beide auf die Ablösung des welfare state
durch den workfare state bzw. den "Wettbewerbsstaat" zielen, dessen Kernaufgabe
in der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft
liegt, und sich die Ergebnisse für die betroffene Bevölkerung
nur wenig unterscheiden dürften, ist beides nicht identisch. Während
die Neoliberalen recht geradlinig auf die Schaffung "amerikanischer Verhältnisse"
mit weitest gehender Privatisierung sozialer Risiken zielen, verspricht
der "Dritte Weg" zwischen "rheinischem" (oder auch westeuropäischem)
Sozialstaat und dem sozialstaatsfreien angloamerikanischen Modell die Aufrechterhaltung
bzw. Schaffung sozialer Basisregulierungen. An die Stelle der gleichsam
"nackten" neoliberalen Angriffe der alten Regierung setzt die Neue Mitte
die Kombination von "Fördern und Fordern". Die Verschärfung der
Repression gegen Transferleistungsbeziehende und der Abbau sozialstaatlicher
Garantien wird legitimiert durch "fördernde" Anmutungen, die aufgrund
der Koppelung mit Sanktionsandrohungen kaum "Angebote" genannt werden können.
Wo der Neoliberalismus soziale Ausgrenzungsprozesse – etwa durch Langzeit-
und Dauererwerbslosigkeit - hinnimmt, verspricht der "Dritte Weg" soziale
Inklusion in die Erwerbsgesellschaft durch die Politik der "Zweiten Chance".
Arbeitsmarkt- und Sozialstrukturen sollen als "Trampolin" fungieren, das
Erwerbslose in den Arbeitsmarkt zurück befördert. Soziale Gerechtigkeit
wird nicht mehr mit Verteilungsgerechtigkeit übersetzt, sondern mit
"Chancengerechtigkeit". Dahinter steht die Vorstellung von einer Marktgesellschaft,
in der Staat dem Einzelnen "gerechte Chancen" garantieren soll, sich aber
um die höchst ungleichen Ergebnisse nicht mehr zu kümmern braucht.
Die Veränderung der westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten
durch die Politik des "Dritten Weges" geht in Richtung des neoliberalen
Modells. Ob sie tatsächlich gleichsam "auf halbem Wege" zum Stehen
gebracht werden kann, oder ob die Marktradikalen daran anknüpfend
ihre weitergehenden Utopien durchsetzen können, bliebe ohnehin der
Entwicklung der gesellschaftlichen und politischen Kräfteverhältnisse
überlassen.
"Fördern und Fordern" ist das Leitmotiv der
"aktivierenden Sozialpolitik" der Neuen Sozialdemokratie. Die vom Bundeskanzler
ausgelöste "Faulenzer-Debatte" verdeutlichte, dass auch sie Erwerbslosigkeit
und andere soziale Problemlagen nicht mehr als gesellschaftliches, sondern
als individuelles Problem definiert. Man spricht hier von einer "blame
the victim"-Politik. Der Bezug sozialer Transferleistungen wird zur "Belohnung"
für aktive Anstrengungen der Betroffenen, den (Wieder-)Anschluss an
die Erwerbsgesellschaft zu finden, Leistungsentzug zur "Bestrafung" derer,
die es dabei an Engagement vermissen lassen. Auf Grund der unverändert
großen Angebotslücke an regulären Arbeitsplätzen zielt
die "Zweite Chance" vor allem auf bad jobs und Pflichtarbeit im Niedriglohnbereich,
auf dessen Ausweitung insbesondere die Benchmarking-Arbeitsgruppe des "Bündnis
für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit" hinarbeitet. Ende 2001 wächst
der Druck auf den Bundesarbeitsminister, sich einer erweiteren "Erprobung"
von Kombilohn-Modellen zu öffnen. Internationale Vergleiche belegen
indes, dass deregulierte Arbeitsmärkte die Chancen eines sozialen
(Wieder-)Aufstiegs in die reguläre Erwerbsgesellschaft nicht vergrößern,
sondern eher verringern und die soziale Ungleichheit zu- statt abnimmt.
Die arbeitsmarkt- und vermittlungsorientierte "aktivierende
Sozialpolitik" führt unter den Ausgegrenzten und von Ausgrenzung Bedrohten
zu systematischen Selektionseffekten ("creaming the poor"). Wo die Quote
erfolgreicher Vermittlungen in den ersten Arbeitsmarkt als maßgebliches
Erfolgs- und Effizienzkriterium gilt, dessen Erfüllung auch für
die wirtschaftliche Zukunft der Träger arbeitsmarktpolitischer Angebote
und sozialer Arbeit wesentliche Bedeutung gewinnt, ist eine Konzentration
der Aktivitäten auf den Personenkreis derer, die die jeweils größeren
Vermittlungserfolge versprechen, eine unumgängliche Folge. Daher kommt
es andererseits zu einer verstärkten Abwendung von denjenigen, die
mit besonderen sozialen Schwierigkeiten – oft als Folgeerscheinung langfristiger
Ausgrenzung – belastet sind und daher der Hilfe und Unterstützung
am meisten bedürften. Sie werden um so mehr zur Zielgruppe entrechteter
Pflichtarbeit im Niedriglohnbereich.
VI. Politische Schlussbetrachtung
Nur die "Neue Sozialdemokratie" an der Regierung
hat die Fähigkeit, den Systemwechsel vom Sozialstaat zum Wettbewerbsstaat
in den Kernbereichen tatsächlich zu vollziehen. Nur sie kann die traditionell
sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaften in den neuen Wettbewerbskorporatismus
der "Bündnisse für Arbeit" einbinden und gewerkschaftliche Widerstandspotenziale
wirksam entschärfen. Der Systembruch in der Rentenversicherung etwa
wäre einer CDU-geführten Regierung gegen den Widerstand der Gewerkschaften
und der damaligen rot-grünen Opposition – sowie womöglich auch
eines "sozialstaatskonservativen" Norbert Blüm - zweifellos nicht
möglich gewesen. Ausgerechnet der Regierungswechsel, der eine politische
Wende Deutschlands zu mehr sozialer Gerechtigkeit in Zeiten der neoliberalen
Globalisierung bringen sollte, wurde zum "größten anzunehmenden
Unfall" für die Perspektiven der Sozialstaatlichkeit.
Der Wandel der SPD zur Partei der Neuen Mitte ist
ebenso wenig rückholbar wie der "rheinische" Sozialstaat. Gleiches
gilt für die Grünen. Die PDS hat sich trotz der spektakulären
Einbrüche in der rot-grünen Wählerschaft im Westen als nicht
aufbaufähig erwiesen und hält die Herstellung ihrer Koalitionsfähigkeit
mit der Neuen Mitte für ihre wichtigste Aufgabe. Ein glaubwürdiger
und durchsetzungsfähiger Protagonist einer sozialstaatlichen Alternative
zu Neoliberalismus und Neuer Mitte ist im Parteiengefüge auf absehbare
Zeit außer Sicht. Die Regierungsalternativen reduzieren sich auf
zwei verschiedene Varianten neoliberaler Veränderung. Träger
des Kampfes für eine zukunftsfähige Alternative können vorerst
nur zivilgesellschaftliche Oppositionsbewegungen sein, die das Motto "Eine
andere Welt ist möglich" der globalisierungskritischen Attac-Bewegung
in neue, realitätstaugliche Reformstrategien übersetzen. Dabei
rücken vor allem die Fragen einer gesellschaftlich sinnvollen Verteilung
des real existierenden, aber immer stärker privatisierten Reichtums
in den Vordergrund. Ansätze, sich dieser Aufgabe anzunehmen, gibt
es.
Der vorliegende Text beschränkte sich auf die
Darstellung und Deutung einiger Züge der gesellschaftspolitischen
Systemveränderung in Deutschland. Doch die Skizzierung von politischen
Handlungsmöglichkeiten für eine sozialstaatliche Alternative
zu Neoliberalismus und Neuer Mitte und ihre öffentliche Artikulation
ist entscheidend auch für die Chancen erfolgreicher Gegenwehr gegen
kommende Akte der neoliberalen Revolution. Denn aktive Gegenwehr entwickelt
sich weniger aus der bloßen Ablehnung herrschender Politikmuster,
die zudem gebetsmühlenartig als "alternativlos" dargestellt werden,
sondern eher aus der Erkenntnis, das Alternativen dennoch möglich
sind.
Von Daniel Kreutz
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