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München 13.11.2001 - Frauen in Afghanistan - ein Reisebericht
Solidarität mit den Frauen Afghanistans – 
Gegen Fundamentalismus und Krieg! 
Ein Reisebericht von Claudia Casper, 13.11.2001
„Die Afghanen bewerfen uns mit Rosen und wir werfen Bomben auf sie ab.“ 
Einführung
Vom 29. Oktober bis 06. November konnte ich mich in Pakistan von der Situation afghanischer Flüchtlinge und von den Aktivitäten des Revolutionären Vereins der Frauen Afghanistans RAWA überzeugen. Hintergrund dieser Reise war die dramatische Zuspitzung der Ereignisse nach dem 11. September 2001 zu Lasten des afghanischen Volkes und besonders der afghanischen Frauen, was die italienische Abgeordnete des Europaparlaments, Luisa Morgantini (Rifondazione Communista, Women in Black) dazu veranlasste, gemeinsam mit Abgeordneten des italienischen Parlaments, JournalistInnen und  nterstützerInnen von RAWA aus Italien, Spanien und Deutschland eine Delegationsreise in diese Region zu unternehmen. 

Unser Ziel war es, den afghanischen Frauen unsere Solidarität zu übermitteln und gemeinsam mit ihnen und anderen demokratischen und pazifistischen Kräften unsere Stimme gegen diesen sinnlosen Krieg zu erheben, den die Vereinigten Staaten mit Unterstützung durch unsere Regierungen auf dem geschundenen Rücken der afghanischen Bevölkerung austragen.  

Gleichzeitig wollten wir uns auch ein realistisches Bild von der Situation der afghanischen Flüchtlinge in Pakistan verschaffen und Ideen über
Wege zu einem demokratischen Afghanistan nach Beendigung des Krieges austauschen.

Als Unterstützerin von RAWA versprach ich mir von dieser Reise, einerseits viele Einblicke in die Aktivitäten, die Organisation und die Arbeitsweise von RAWA zu erhalten, und andererseits sowohl mit den Frauen von RAWA als auch mit den anderen europäischen UnterstützerInnen über konkrete Projekte in der Zukunft zu beraten und unsere Aktivitäten zu koordinieren. 

Mit diesem Bericht möchte ich ganz grob meine Erlebnisse und Erfahrungen zusammenfassen und denjenigen zugänglich machen, die an der
Arbeit von RAWA interessiert sind und die vielleicht selbst diese „mutigsten Frauen der Welt“[1][1] unterstützen möchten.

Dieser Bericht wird sehr unvollständig bleiben, denn ich fühle mich außer Stande, alle Eindrücke auf wenigen Seiten zu komprimieren. Dafür bitte
ich die LeserIn vorab für Verständnis.

Zur Situation der afghanischen Flüchtlinge
In unseren Gesprächen mit Mitgliedern von RAWA, aber auch mit anderen Organisationen wie Humanitarian Aid for Women und Children of Afghanistan (HAWCA), dem Afghan Women Network Peshawar, dem International Rescue Committee und mit Einzelpersonen wurden die Schreckensnachrichten bestätigt, die wir durch die Medien ansatzweise kennen.  

Wir hätten uns gern vom Gegenteil überzeugen lassen, aber die Situation ist wahrscheinlich noch verzweifelter, als uns dies die wenigen Bilder
und die vielstelligen Zahlen nahe bringen können. 

In Afghanistan sind Flüchtlingsbewegungen seit mehr als zwei Jahrzehnten eine permanente traurige Realität[2][2]

Man kann die Flüchtlinge Ihrer Situation entsprechend in drei grobe Kategorien einteilen: 

Die „Alteingesessenen“, die schon vor Jahren vor sowjetischen Besatzern, Mudjaheddin und Taliban geflüchtet sind und die entweder in älteren Flüchtlingslagern oder in pakistanischen Städten bzw. in sehr ärmlichen Siedlungen um die Städte Pakistans herum leben. 

Zehntausende afghanische Flüchtlingskinder verdienen sich ihren Lebensunterhalt damit, dass sie Plastik- und Papierabfälle auf den Straßen aufsammeln und verkaufen. Oder sie müssen Teppiche knüpfen, denn ihre kleinen Hände lassen die Teppiche besonders fein werden.

Ich habe ein Flüchtlingslager besucht, dass schon seit 18 Jahren existiert, praktisch alle Kinder des Lagers sind im pakistanischen Exil geboren. Die EinwohnerInnen müssen sich ihren Lebensunterhalt in den Ziegelfabriken oder durch den Verkauf von Teppichen und Handarbeiten verdienen. 

Die Situation dieser Flüchtlingsgruppe ist prekär, aber nicht hoffnungslos. 

Anders sieht die Lage bei den anderen beiden Gruppen aus, wo der Punkt tiefster Hoffnungslosigkeit erreicht wurde: Eine Gruppe bilden diejenigen, die in den letzten Wochen den strapaziösen Weg durch die Berge über die geschlossene, aber gleichzeitig durchlässige Grenze nach Pakistan geschafft haben und jetzt in den neu aus dem Boden gestampften Flüchtlingslagern ohne jede Infrastruktur in Pakistan dahinvegetieren.

Jeder versucht, wenn es irgendwie möglich ist, den Einzug in diese Lager zu vermeiden und bei Verwandten unterzukommen, es werden die einzelnen Wände von engen Räumen an ganze Familien vermietet.  Denn in den neuen Lagern mangelt es an allem: Zelte, Decken, Lebensmittel, sanitäre Einrichtungen, Gesundheitsfürsorge und vor allem an Sicherheit, für die niemand garantieren kann. 

Es herrscht Chaos unter den Flüchtlingen und es sollen auch schon Epidemien ausgebrochen sein. 

Die pakistanischen Behörden stellen kaum jemandem eine Erlaubnis zur Besichtigung der neuen Lager aus, wahrscheinlich um die katastrophale Situation zu verdecken und nicht womöglich unangenehme Fragen beantworten zu müssen, wo die international bereitgestellten Mittel zur Flüchtlingshilfe bleiben. 

Omar, ein HAWCA-Mitglied, hat mir versichert, dass nicht einmal Kofi Annan bei seinem Besuch in die neuen Lager geführt wurde. 

Selbst für die Aktivistinnen von RAWA, die in die neuen Lager gehen und Hilfe vor Ort leisten, und von denen man annehmen kann, dass sie an schlimme Zustände gewöhnt sind, ist die Situation nur schwer zu bewältigen. 

Sie haben mir erzählt, dass sie nur noch weinen konnten, wenn sie von so einer Hilfsexpedition aus den Lagern zurückkamen.  

Die Flüchtlinge erzählen ihnen ihre schreckliche Geschichte, die denen aller anderen so ähnlich ist und sich zu einem tragischen Gesamtschicksal zusammenfügt: 

Da ist die Mutter und die Schwiegertochter, deren Sohn bzw. Mann kurz nach der Hochzeit verschleppt wurde. Da ist der Mann, der seine zwei-jährige Tochter vor vier Jahren für sieben Kilogramm Mehl an einen Fremden verkauft hat und dem das Kind oft in seinen Alpträumen erscheint. Die einundzwanzigjährige Fariha von RAWA hat beim Verteilen von Lebensmitteln drei Kinder entdeckt, sieben, neun und dreizehn Jahre alt, die von den Frauen zurückgedrängt wurden. Sie hat etwas Mehl und Öl für die Kinder zurückgehalten, sie nach der Verteilung beiseite genommen und nach ihren Verwandten gefragt. Waisenkinder sind von der Gesellschaft vergessen, und diese Kinder hatten nichts und niemanden, der sich um sie kümmert. Fariha hat ihnen einen Platz in einem der RAWA-Waisenhäuser besorgt und als sie kam, um die Kinder abzuholen, war ein Onkel aufgetaucht und hat den Umzug verhindert. Sie befürchtet nun, dass er die Kinder nicht versorgt und sie womöglich auch verkauft. Seitdem kostet es sie viel Überwindung, in dieses Lager zu gehen, denn es ist am schmerzlichsten,  wenn man nicht helfen kann oder wenn die Hilfe durch die Familie abgelehnt wird.

Am schlimmsten geht es denjenigen, die noch nicht aus Afghanistan herausgekommen sind. Es gibt keine verlässlichen Zahlen, wie viele Menschen im Land auf der Flucht sind. An den Grenzen sammeln sich vor allem Frauen und Kinder, die ohne Begleitung durch einen männlichen Verwandten keine Chance haben, die Grenze zu passieren, oder die zu entkräftet für eine Flucht zu Fuß durchs Gebirge nach Pakistan sind. Oder die nicht das Geld für einen Führer aufbringen können, der ihnen den Weg über die Grenze weist.

 In wenigen Tagen bricht der Winter herein und dann trifft all diese Menschen das schlimmste Schicksal. In den letzten Tagen wurden erste Hilfstransporte nach Afghanistan hineingeschickt, aber der Transport ist gefährlich und die Hilfe wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Es wird berichtet, dass die Frauen und Kinder an der Grenze nur weinen, keiner kann sich um seine Nachbarn kümmern, jeder kämpft allein ums Überleben.

Wir hatten auf unserer Reise auch Kontakt zu neu angekommenen Flüchtlingen. Derzeit gibt es zwei Hauptgründe zur Flucht: 
 

  1. die Bombenangriffe auf die Städte und die Angst vor Zwangsrekrutierungen sowohl durch die Taliban als auch durch die Nordallianz. Eine Witwe, Lehrerin in Kabul und RAWA-Mitglied, war vor wenigen Tagen mit ihren vier Kindern geflüchtet, da die geheimen Schulkurse durch die Bombenangriffe vollkommen verunmöglicht wurden. 
  2. Durch die Druckwelle und den Lärm der Bomben haben die Kinder Kabuls Trommelfellverletzungen erlitten und aus den Ohren geblutet, sie sind danach hörgeschädigt. 
In Kabul kann seit Wochen wegen der ständigen Bombenangriffe niemand mehr schlafen. 

Zu den unsäglichen „Kollateralschäden“ berichtete die Frau, dass die Amerikaner in der irrigen Annahme, dass es sich um ein Benzinlager handelte, einen
Tank zerbombten, der ein ganzes Wohnviertel mit Wasser versorgte, und gleich die umliegenden Häuser mit... 

Die Kinder Kabuls haben eine neue Erwerbsquelle erschlossen: Wenn die Bomben fallen, verteilen sie unter sich die „Beute“ (Die da gehört mir!) und ziehen kurz danach mit Wasser zur Einschlagstelle, kühlen die noch glühenden Bombensplitter und verkaufen sie wenige Stunden später an Schrotthändler.

Viele Familien werden auseinandergerissen, Frauen und Kinder flüchten und die Männer bleiben in den Häusern und Geschäften, um Plünderungen zu verhindern, und dass sich die Taliban nicht in ihren Häusern einrichten, wie es in verlassenen Wohnvierteln oft geschehen ist.

Und eine weitere Gefahr lässt die Menschen sich auf eine verzweifelte Flucht begeben: Da die Taliban den Heiligen Krieg (Dschihad) ausgerufen haben, ist jede Familie gezwungen, einen männlichen Verwandten an die Front abzustellen. Ist kein Mann mehr verfügbar, muss es eben ein kleiner Junge sein. 

Der Mehrheit der afghanischen Bevölkerung liegt jedoch nichts ferner, als für den Dschihad zu kämpfen oder sich für eine der beiden Seiten zu opfern. Aus allen Gesprächen mit Flüchtlingen habe ich einen gewaltigen Überdruss herausgehört, die Menschen sind nach 24 Jahren Krieg aufgerieben, müde, erschöpft, sie wollen nur noch eins: Frieden und ihre Ruhe. Sie fühlen sich zu Recht als Opfer und Spielball fremder Interessen. Sie haben es satt, zwischen Taliban und Nordallianz zerrieben zu werden, sie haben die Bomben satt. 

Zu Beginn der Bombenangriffe gab es noch einen geringen Hoffnungsschimmer, dass sie endlich von den verhassten Taliban befreit werden, jedoch nach fünf Wochen Bombardements, die den Taliban kaum geschadet, dafür aber viele unschuldige zivile Opfer und eine neue Flüchtlingswelle verursacht haben, ist auch diese Hoffnung in Verzweiflung umgeschlagen.  

Einige Frauen wünschen, man sollte doch endlich eine Atombombe auf Afghanistan abwerfen und ihrem Leiden ein Ende bereiten, statt sie langsam und schrittweise umzubringen. Sie sagen, wir haben keine Zukunft, denn unsere Kinder spielen mit Waffen und können besser mit einer Kalaschnikoff als mit einem Bleistift umgehen. Unsere Kultur ist zerstört.

Viele Eltern können das Weinen und Schreien ihrer Kinder um Essen und Wärme, die sie ihnen nicht geben können, nicht mehr ertragen und bringen sich um.

Die kämpfenden Fundamentalisten auf beiden Seiten zählen wenige zehntausend Kämpfer, doch die Opfer sind mehr als 20 Millionen AfghanInnen, die um das nackte Überleben kämpfen und nichts mit den Zielen der Kontrahenten gemein haben. Weder Taliban noch Nordallianz repräsentieren die Interessen des afghanischen Volkes. Es wird berichtet, dass junge Paschtunen den Chef der Talibanmiliz, der mittlerweile selbst nach Peshawar geflüchtet ist, für ihre desolate Situation verantwortlich gemacht und zweimal verprügelt haben sollen.

Die Zukunft Afghanistans – Wege aus der Krise
In den Gesprächen über mögliche Alternativen zur Konfliktlösung zeigten afghanische Flüchtlings- und Frauenorganisationen mit pakistanischen PazifistInnen, DemokratInnen und MenschenrechtlerInnen grosse Übereinstimmung. Im Folgenden stelle ich die wichtigsten Forderungen vor: 

  • Die Bombenangriffe müssen sofort gestoppt werden und stattdessen sollte die UNO endlich ihrem Mandat als internationaler Instanz nachkommen und UN-Truppen ins Land und zwischen die Fronten schicken. 
  • Diese Blauhelme sollen beide Seiten entwaffnen. Sie sollten nicht nur aus muslimischen Ländern stammen, denn es handelt sich hierbei nicht um einen religiösen Konflikt, sondern um einen Bürgerkrieg der Fundamentalisten, um einen Stellvertreterkrieg um die Macht für externe Interessen. 
  • Die militärische, politische und finanzielle Unterstützung beider Lager von außen muss sofort eingestellt werden und stattdessen auf eine politische Lösung durch demokratische Kräfte gesetzt werden. 
Es ist ein Mythos, dass es keine DemokratInnen in Afghanistan mehr gibt, sie existieren noch, wenn auch sehr geschwächt. 

Ein weiterer Mythos ist die durch die westlichen Medien transportierte Reduzierung des Konflikts auf seine ethnische Komponente: die Differenzen zwischen den Volksgruppen. Es ist wohl bewiesen, das die Taliban unter Angehörigen der Hazara Massaker angerichtet und den ErbInnen Tschingis Khans Nägel durch die Schädeldecke getrieben haben. 

Doch die afghanische Bevölkerung liefert sich keine Stammesfehden. Als eine Frau gefragt wurde, ob sie Paschtunin oder Tadschikin ist, antwortete sie „Afghanin“.

Weiterhin müssen unmittelbar und gezielt humanitäre Hilfslieferungen nach Afghanistan gebracht werden, eventuell in einem Schutzkorridor, um eine humanitäre Katastrophe bei Wintereinbruch zu verhindern.

Unter der Regie des 1973 ins römische Exil geflohenen ehemaligen afghanischen Königs Zahir Schah als vermittelnder und vereinigender Symbolfigur soll eine Loya Jirga („Grosse Zusammenkunft“ in paschtu) einberufen werden, bei der alle demokratischen Kräfte und Vertreter der verschiedenen Volksgruppen über die Zukunft Afghanistans entscheiden und freie Wahlen vorbereiten. 

Die AfghanInnen selbst und nicht die Vereinten Nationen sollen entscheiden, wer hierbei ein- oder ausgeschlossen wird, denn es ist ihre Zukunft, über die sie zu beraten haben. 
Afghanistan soll, eventuell unter einem zeitlich begrenztem UN-Protektorat, souverän über seine Geschicke entscheiden können. 

 Alle sind sich einig in der Forderung, dass die Frauen in diesem Forum repräsentativ vertreten sein müssen. 

Allerdings scheint der König gerade im Begriff zu sein, wieder eine historische Chance zu verpassen: Statt mit DemokratInnen, Menschen- und FrauenrechtlerInnen zu verhandeln, steht er mit „gemässigten“ Taliban[3][3] in Verbindung und lädt zwei Alibi-Frauen aus gehobenen Schichten dazu, die seit Jahrzehnten im europäischen Exil leben und die realen Probleme der afghanischen Frauen nicht kennen. 

RAWA wurde von Zahir Schah beispielsweise noch nicht zur Loya Jirga kontaktiert. 

Und es werden dringend Resozialisierungsprogramme gebraucht, Zehntausende LehrerInnen[4][4], die den Kindern und erwachsenen Analphabeten Lesen und Schreiben beibringen. 

Afghanistan ist mit 13% männlichen und 3% weiblichen Schriftkundigen eines der Länder mit der geringsten Alphabetisierungsrate der Welt, seit 24 Jahren gibt es keine reguläre Schulbildung mehr, die jüngsten AfghanInnen mit einer normal abgeschlossenen Schulausbildung sind 40 Jahre alt! 

RAWA-Streiflichter 
Im folgenden Kapitel möchte ich kurz meine Erkenntnisse und Erlebnisse über und mit RAWA zusammenfassen. 

RAWA ist eine politische und soziale Vereinigung, der 2000 afghanische Frauen als reguläre Mitglieder und noch viel mehr Frauen und Männer als UnterstützerInnen angehören. Die Grundprinzipien ihrer Arbeit sind der Kampf um Demokratie,  die Einhaltung der Menschen- und Frauenrechte, die Trennung von Staat und Kirche (Säkularismus), Chancengleichheit für Männer und Frauen in der Gesellschaft und gegen Fundamentalismus jeder Art. RAWA arbeitet parteienunabhängig, sie arbeitet mit allen Kräften zusammen, die mit ihr die oben genannten Werte teilen. Und sie lehnt die Zusammenarbeit mit fundamentalistischen und antidemokratischen Kräften strikt ab. RAWA unterhält Verbindungen zu anderen pazifistischen, antifundamentalistischen und feministischen Gruppen und Einzelpersonen in Pakistan und auch in vielen anderen Ländern. Durch die Einführung des Internet hat sich ihre Arbeitsweise verändert und Ihr Wirkungskreis enorm ausgeweitet.

RAWA geht es seit ihrer Gründung 1977 um eine radikale soziale Umgestaltung der traditionellen afghanischen Gesellschaft, in der Frauen noch nie, und noch viel weniger in den letzten neun Jahren Fundamentalismusherrschaft, ihre Rechte verwirklicht sahen. Selbst nach Kriegsende und nach den utopisch anmutenden demokratischen Wahlen werden sie noch viel zu tun haben, um die Rechte der Frauen zu erstreiten, die Frauen in keiner Gesellschaft geschenkt bekommen. 

Von daher ist das R im Namen nach wie vor sehr aktuell, wenn auch um den Preis, dass RAWA nicht von Regierungen und NGOs finanziell unterstützt wird und auf Spenden und die Einnahmen aus dem Verkauf ihrer Produkte und Informationsmaterialien angewiesen ist. 

RAWA-Frauen erzählen augenzwinkernd, wie ihnen von der britischen Botschaft einmal eine Kuhhandel angeboten wurde: Nennt Euch nicht mehr revolutionär und wir helfen Euch. RAWA hat dieses Angebot dankend abgelehnt.  

Von den 2000 Mitgliedern arbeiten 1200 illegal und unter ständiger Lebensgefahr in Afghanistan, 800 am Rande der Legalität in Pakistan. In Afghanistan werden illegale Bildungskurse für Mädchen durchgeführt, aber auch Menschen- und Frauenrechtsverletzungen dokumentiert. RAWA arbeitet mit Amnesty International und Human Rights Watch zusammen. 

Mehrere Versuche, RAWA in Pakistan registrieren zu lassen, scheiterten an der negativen Haltung der pakistanischen Regierung, die bekanntermaßen das Talibanregime unterstützt.

In den Städten Afghanistans und Pakistans arbeiten elf RAWA-Kommittees, deren Vorstände sich zwei Mal jährlich treffen und sonst per Botenbriefe miteinander kommunizieren. Dieser Rat trifft die wichtigsten Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip, ansonsten haben die Mitglieder und die einzelnen Gruppen große Autonomie bei ihrer Arbeit. Sie wissen aus Sicherheitsgründen  oft nichts oder sehr wenig von den Aktivitäten der anderen. Es gibt verschiedene Sektionen, in denen unterschiedliche Aufgaben wahrgenommen werden, wie die E-mail-Sektion und die Sektion internationale Kontakte, aber auch die für Arbeit in den Schulen und Alphabetisierungskursen, in den Waisenhäusern, in den Flüchtlingslagern, in den Werkstätten, in den Ambulanzen. 

RAWA leistet erste Flüchtlingshilfe vor Ort, verteilt Decken und Lebensmittel. Und RAWA führt politische Bildungskurse durch, in denen Frauen und Mädchen über die politische Situation im Land und über Frauenrechte diskutieren.

Die Overhead-Kosten bei RAWA werden absolut gering gehalten, ihr „Zentralbüro“ in der Nähe von Islamabad ist karg möbliert, es gibt eigentlich nur Schlafmatten, Computer und jede Menge Plakate an den Wänden. 

Diejenigen, die ausschließlich für RAWA arbeiten, wohnen und arbeiten hier, sie bekommen keinen Lohn, sondern das zum Leben Nötige: Ein Dach über dem Kopf, Essen, Kleidung, und wenig mehr. Denn sie wissen alle, dass mit wenig Geld sehr viel für die Flüchtlinge getan werden kann. Oft sind sie tagelang in Flüchtlingslagern, oder besuchen die verstreut liegenden Schulen und Waisenhäuser, um nach dem Rechten zu sehen. Andere gehen neben ihren Aktivitäten für RAWA noch einer anderen Beschäftigung nach.

Was mich am meisten beeindruckt hat, ist der Umgang von RAWA mit dem anderen Geschlecht. RAWAs Aktivitäten wären ohne die Unterstützung von vielen „men supporters“ undenkbar. Diese Männer stehen ganz selbstverständlich hinter den RAWA-Frauen, arbeiten multifunktional als Fahrer, Bodyguards, Wegesicherer, Begleiter, Übersetzer, Fotographen für RAWA, schützen die Frauen bei Demonstrationen und verschwinden dafür auch schon mal in pakistanischen Gefängnissen. Sie halten sich im Hintergrund und überlassen den RAWA-Frauen den Protagonismus, so als ob das die normalste Sache der Welt wäre, dass Frauen die Akteurinnen und sie ihre stillen Helfer sind. Eine solche Haltung würde schon in unserer etwas emanzipierteren Gesellschaft bewundernswert sein, umso erstaunlicher ist sie in diesem traditionellen und stark männerdominierten Teil der Welt! 

Für RAWA ist es ganz klar, dass man nur mit den Männern gemeinsam die Gesellschaft verändern kann, nicht gegen sie. Und dass diese Veränderung in den Köpfen der Menschen beginnt. Dieser respektvolle und kameradschaftliche Umgang zwischen Frauen und Männern macht RAWA für mich zu etwas ganz Besonderem. Zur Illustration: Am ersten Abend trafen wir uns mit drei Frauen von RAWA, sie kamen mit einem Mann und einem kleinen Jungen, dem Sohn einer RAWA-Frau. Während wir Frauen debattierten, hielt sich der Mann die ganze Zeit geduldig und ruhig im Hintergrund und beschäftigte das Kind, bis wir fertig waren. 

Sowohl die Frauen als auch die Männer um RAWA müssen sich mit Vorurteilen und dem Widerstand ihrer eigenen Familien und ihrem Umfeld  auseinandersetzen. In ihren Familien ist es auch nichts Gewöhnliches, dass Frauen sich in die Politik einmischen und unter Gefahr arbeiten, statt brav zu Hause zu häkeln. Und dass die Männer für eine Frauenorganisation arbeiten, sich dafür Gefahren aussetzen und wenig zu Hause sind. Zoya hat mit ihrer Familie im amerikanischen Exil gebrochen, weil die nicht verstehen konnte, wie wichtig ihre Arbeit für Afghanistan ist. RAWA ist ihre Familie, und die von vielen Mitgliedern. Farihas Mutter ist auch RAWA-Mitglied, sie arbeitet in Afghanistan und Mutter und Tochter haben sich schon fünf Jahre nicht mehr gesehen. Beide wissen nicht, welche Aufgaben die andere erfüllt. 

RAWA-Frauen werden auch in Pakistan von Fundamentalisten bedroht und müssen oft den Wohnort wechseln, was für afghanische Flüchtlinge in Pakistan eine große Hürde darstellt. Pakistanische Vermieter fordern von ihnen überteuerte Mieten. 

Die RAWA-Mitglieder haben ein gut funktionierendes System zu ihrer eigenen Sicherheit, aber es ist auch für sie lästig, auf einem Weg drei Mal das Taxi zu wechseln und sich immer neue Namen und Verwandtschaftsverhältnisse zu merken, um indiskreten Fragen zu entgehen. 

RAWA-Frauen werden schon häufig als Prostituierte und Ungläubige beschimpft, aber das nehmen sie gelassen, sie wissen es besser.     

Nachfolgend werde ich von einigen Besuchen berichten, die wir einzelnen Einrichtungen von RAWA abgestattet haben:

Am 31.10. besuchten wir eins von zehn Waisenhäusern, die RAWA in Pakistan betreibt. In Afghanistan kam man keine Waisenhäuser unterhalten, deshalb nehmen RAWA-Mitglieder oft vier oder fünf Waisenkinder in ihre eigene Familie auf. Das besuchte Waisenhaus ist in Jeloum, zwei Fahrtstunden von Islamabad entfernt. Hier leben 40 Kinder  zwischen 4 und 16 Jahren, 30 Mädchen und 10 Jungen. Das Haus wird von Fahima, einer Witwe mit zehn eigenen Kindern geführt, sie wird ihrerseits von einem jungen Ehepaar unterstützt, die Frau arbeitet als Erzieherin und der Mann als Koch, Hausmeister, Fahrer und Wächter. Alle leben gemeinsam im Waisenhaus. Die Kinder gehen auf eine pakistanische Schule im Ort. Eine Mahlzeit wird vom Koch zubereitet, und eine Mahlzeit müssen abwechselnd jeweils zwei Kinder für alle zubereiten. Die Kinder sorgen selbst für Ordnung und Sauberkeit. Ein älteres Kind kümmert sich um drei kleinere Kinder und muss ihre Kleidung waschen, sie anziehen und auf ihre Hygiene achten, wie eine große Schwester. 

Das Waisenhaus ist ärmlich eingerichtet, aber es herrscht eine herzliche und familiäre Atmosphäre. Trotz ihrer ergreifenden Schicksale schätzten die Kinder sich selbst als die glücklichsten Kinder Afghanistans ein, da sie nicht im Krieg sind und eine Ersatzfamilie gefunden haben, die für sie sorgt und ihnen eine Schulbildung ermöglicht. Die Kinder wachsen in einem Klima auf, in dem man Meenas Geist spürt, sie sind fröhlich und gut erzogen. Die Kinder sprechen gut Englisch und haben klare Vorstellungen von ihrer Zukunft, sie wollen als LehrerInnen, MedizinerInnen und Ingenieure nach Afghanistan zurückkehren, oder sogar wie ein kleines Mädchen Pilot werden. Auf den Strassen Pakistans habe ich viel Kinderelend gesehen, aber hier sah ich Kinder, die eine neue Familie gefunden und das Lachen und Träumen nicht verlernt haben.

Am ersten November besuchten wir ein von RAWA verwaltetes Flüchtlingscamp. Dieses Camp wurde vor 18 Jahren während der sowjetischen Invasion errichtet.  Ungefähr dreihundert Lehmziegelhäuser werden von einer Schutzmauer umgeben. Das Camp liegt in einer Mondlandschaft voller Lehmziegelfabriken, wo Männer und Kinder den Unterhalt für ihre Familien verdienen: 1 US $ für 12 Stunden Plackerei. 
Die Bedingungen hier lassen sich nicht mit denen der neuen Camps vergleichen, hier hat sich im Laufe der Zeit eine Organisation und Infrastruktur gebildet. Das Lager wird von einem Komitee verwaltet, es verfügt über einen Stromgenerator und seit wenigen Monaten über eine Wasserpumpstation. Es gibt eine Jungen- und eine Mädchenschule, eine Ambulanz mit Arzt und Krankenschwestern und- Gemeinderäume.

Vor den Bombenangriffen lebten hier circa 3000 Menschen, jetzt sind es fast fünftausend, das Lager ist bis auf den letzten Platz voll, selbst der Gemeinderaum ist von mehreren Familien bewohnt, deren Schlafmatten dicht an dicht gedrängt sind. Und für den Bau neuer Häuser fehlen die Mittel. Zoya, die Neuankömmlinge im Lager empfängt, erzählt uns, dass sie mit Tränen in den Augen Familien wieder wegschicken musste.

In die Schule und die Ambulanz kommen auch Frauen und Mädchen aus dem Nachbarcamp, dass von Fundamentalisten beherrscht wird, da sie dort keine Möglichkeiten für Bildung und Gesundheitsfürsorge haben. 

Es ist relativ einfach, Neuankömmlinge von alteingesessenen CampbewohnerInnen zu unterscheiden.  Während die „Alten“ gut organisiert und integriert sind, stehen die „Neuen“ noch ganz unter dem Eindruck dessen, was sie in Afghanistan erleben mussten, sie sind sehr scheu und verängstigt, die Kinder wirken kränklich und schwach. Frauen verstecken ihr Gesicht und sprechen nicht, sie verschwinden fast hinter ihrem Teppich, an die sie knüpfen.

Wir besuchten die Mädchenschule, in der von 8 bis 12 Uhr 300 Mädchen Dari, Englisch, Paschtu, Mathematik u.a. lernen. Nachmittags kommen circa 200 Frauen in die Alphabetisierungskurse. Die Mädchen tragen eine blau-weisse Schulkleidung, in einigen Räumen gibt es Stühle, in anderen nicht. Da hocken dreissig Kinder in einem kleinen dunklen Raum und wiederholen fleißig die Lektionen im Chor. Die verwendeten Schulbücher sind zerfleddert, sie stammen aus der Zeit vor 1992. Und trotz der schwierigen Umstände sind die Kinder glücklich, hier lernen zu dürfen, denn viele ihrer Altersgenossen werden von ihren Familien aus ökonomischen (die Kinder werden beim Teppichknüpfen gebraucht)  oder religiösen Gründen (Mädchen brauchen keine Bildung, die Schule ist ungläubig) nicht in die Schule gelassen. Die Schule ist gebührenfrei.

Hier wie auch im Waisenhaus wurde wir als Gäste mit Rosenblättern willkommen geheißen, die die Kinder im Spalier über uns ausschütteten. Ich musste unvermeidlich an die Metapher denken, die einer aus unserer Reisegruppe aufwarf: 
„Die Afghanen bewerfen uns mit Rosen und wir werfen Bomben auf sie ab.“ 
So etwas beschämt und macht sehr nachdenklich.

Und die Menschen waren so gastfreundlich zu uns. Wohin wir auch kamen, wurden wir freundlich begrüßt. Sie bewirteten uns fürstlich mit Kabul-Reis, dem afghanischen Nationalgericht aus Reis, Hammelfleisch, Karottenstreifen, Mandeln und Rosinen, das sie sich selbst fast nie gönnen können. Und sie zeigten sich sehr dankbar, dass sie in ihrer Misere nicht allein gelassen werden, dass sich noch jemand auf den Weg zu ihnen macht, um zu sehen, welche ihre Situation ist. Das hat mich wirklich berührt und betroffen gemacht.  

Auch hier im Camp hatten die Kinder eine Aufführung für uns vorbereitet, in der sie patriotische Lieder über Afghanistan sangen und in einem kleinen Theaterstück das Leben unter den Taliban darstellten. Das Stück hatte ein Happy-End, deshalb will ich es kurz wiedergeben:  

Mutter und Tochter sitzen zu Hause und sticken. Da kommt eine Nachbarin aus einer fundamentalistischen Familie und möchte ihren Sohn, einen Angehörigen der Talibanmiliz, mit der Tochter verheiraten. Diese lehnt ab und die Nachbarin  verschwindet erzürnt. Danach kommen mehrere Mädchen mit dem Koran unter dem Arm zu Besuch, und die Zuschauer erfahren, dass die Tochter eine Lehrerin von RAWA ist und die „Koranleserinnen“ zu ihrem heimlichen Unterricht gekommen sind. Mitten  in der Lektion werden sie durch die Talibanmiliz unterbrochen, die in das Haus eindringt und die Mädchen für ihr verbotenes Tun auspeitschen will. Doch es kommt anders: Die Frauen und Mädchen drehen den Spieß um und verprügeln  nun mit vereinter Kraft die Taliban und jagen sie in die Flucht. Eine schöne Utopie...

Im Lager besuchten wir auch die Ambulanz. Es fehlt an allem, vor allem an Medikamenten, heißem Wasser und an Strom, um das Sterilisierungsgerät zu benutzen. Doch immerhin gibt es einen Arzt, ein kräftiger und fröhlicher Mann, und mehrere Krankenschwestern, die die Frauen behandeln, die im Wartezimmer eine Schlange bilden. 

Als letzte Station im Camp besuchten wir die Textilwerkstatt, wo etwa zehn Frauen an Schals und Blusen nähen und sticken. Viele von ihnen sind Witwen, die ohne männlichen Ernährer auf diese Erwerbsquelle angewiesen sind. Hier werden auch die kunstvoll gearbeiteten und trotzdem so schaurig wirkenden Burkas gefertigt, die als sichtbarstes Zeichen der Unterdrückung der afghanischen Frauen unter den Fundamentalisten zu einer traurigen Berühmtheit in der Welt gelangt sind.[5][5]

Als wir das Camp verließen, war die Sonne schon untergegangen und die Männer und Kinder in den Ziegelfabriken arbeiteten immer noch... 

Am vierten November war unsere Delegation eingeladen, die Büroräume von RAWA zu besuchen, Hier stapelten sich Broschüren und Plakate und es gab Computer mit Modems und wenig mehr. Hier also treffen seit dem 11. September täglich mehr als tausend E-mails aus aller Welt ein, die von einigen wenigen RAWA-Mitgliedern in Tag- und Nachtschichten bearbeitet werden. 

Und hier leben auch einige junge RAWA-Mitglieder, die entweder bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr in einem RAWA-Waisenhaus gelebt haben, oder deren Familien in Afghanistan sind. Hier wird besprochen, wer am nächsten Tag wohin zu gehen hat und welche Aufgaben zu erledigen sind. Einige der jungen RAWA-Frauen studieren auch noch neben ihrer Arbeit. Aliah studiert Medizin, RAWA hat beschlossen, dass sie auch als Ärztin in Afghanistan gebraucht wird. Nach außen wirkt das Büro wie eine Studentinnenpension, aber die Nachbarn sind misstrauisch und neugierig: Warum leben die jungen Frauen nicht bei ihren Verwandten, warum gehen auch Männer ein und aus? Der kleine Alltag eben.

Am fünften November besuchten wir die Heewad School in Rawalpindi, einem ärmlichen Vorort von Islamabad.

Heewad ist paschtu und bedeutet “Land”, und dieser Name ist hier Prinzip. Hier werden 300 afghanische Flüchtlingskinder, Mädchen und Jungen zwischen 8 und 12 Jahren, mit den Sprachen und der Geschichte ihrer Heimat bekannt gemacht. In jeweils drei Kursen am Morgen und am Nachmittag lernen sie Dari, Paschtu, Englisch (6 Stunden pro Woche!), Geographie und Geschichte von Afghanistan und der Welt, und erhalten auch Lektionen über den Koran. 

Da das Schulprogramm ein anderes als in den pakistanischen Schulen ist, wird der Schulabschluss in Pakistan nicht anerkannt. 

Die Schule ist gebührenfrei. Werden es zu viele Kinder, wird den Mädchen der Vorrang gegeben. Es mangelt auch hier an Platz und Unterrichtsmaterialien, doch die Kinder kommen gern in die Schule, um dieses für afghanische Menschen so seltene und kostbare Gut Bildung zu bekommen.

Die LehrerInnen sind RAWA-Mitglieder oder UnterstützerInnen. Rubina, eine sehr junge Lehrerin, sprach mich an und bat mich, doch von Europa aus die Nachbarschule, eine Grundschule, wo 200 Kinder aus sehr armen Familien lernen, zu unterstützen. Die LeherInnen hier übermittelten uns die gleiche Botschaft wie bei den vorangegangenen Besuchen: Die afghanischen Menschen sind des Krieges und der Gewalt überdrüssig, sie wollen Frieden und Demokratie, sie wollen in ein freies Afghanistan zurückkehren  und das Land wieder aufbauen. Wir unterstrichen, dass ihnen als LehrerInnen die wichtigste Aufgabe beim Neubeginn zukommt: Die Erziehung und Bildung der Kinder Afghanistans.

Am sechsten November besuchte ich diese zweite Schule, Heewad Primary School. Die Schule liegt in einem Armenviertel am Rand der Stadt, man muss sich durch schmutzige müllübersäte Gassen schlängeln, bevor man ankommt.

Abida, die Leiterin, führte mich durch die Klassenzimmer, die ohne Fenster und stockdunkel waren, weil gerade mal wieder der Strom ausgefallen war. Vor einem Klassenzimmer saß eine 35-jährige Frau, die Hausmeisterin der Schule, mit einem ausgeschlagenen Heft auf den Knien: auch sie lernt jetzt Lesen und Schreiben.  

Diese Schule wurde 1998 gegründet, acht Lehrerinnen und zwei Hausmeister werden beschäftigt. Die Lehrerinnen sind RAWA-Unterstützerinnen und erhalten von RAWA ihren Lohn, ebenso wie die Schulmaterialien. 

Morgens erhalten hier 120 Kinder beider Geschlechts von 6 bis 14 Jahren in fünf Klassen Unterricht in Paschtu, Dari, Englisch, Mathematik und  Handarbeiten. Manche Kinder müssen eine Stunde bis zur Schule laufen, aber sie kommen trotzdem, denn die Schule ist kostenlos. 

Auch hier gibt es das Problem, dass einige Eltern ihre Kinder am Schulgang hindern, die Lehrerinnen gehen dann zu ihnen nach Hause und sprechen mit ihnen. Die Schulbücher werden in Peshawar gedruckt, sie haben weder religiöse noch politische Inhalte. Das Lehrprogramm wird von der Leiterin der Schule vorbereitet. Die Kinder bekommen Punkte auf ihre Leistungen, von 0 bis 10 Maximum. Besonders gute Schüler bekommen einen Lobesbrief für ihre Eltern mit nach Hause, oder ein kleines Geschenk. 

Nachmittags kommen 20 Frauen zwischen 17 und 35 Jahren zu Alphabetisierungskursen.  Zwischen 2 bis 3 Monaten und einem Jahr brauchen sie, um die Schnörkel als Buchstaben entziffern zu können und sie selbst aufs Papier zu bringen. Ein paar Minuten täglich werden darauf verwendet, über die politische Situation zu diskutieren und über RAWA zu informieren. Einmal pro Woche gibt eine RAWA-Frau einen Weiterbildungskurs für die Lehrerinnen. 

Zum Abschied zeigte mir Abida Zeichnungen der Kinder, die mehr ausdrücken als Worte. Es sind entsetzliche Szenen, die die Kinder aufs Papier bannten: 

Talibanmilizen peitschen Frauen in Burkas aus, Hubschrauber schießen aus der Luft auf flüchtende Menschen, eine Mutter bettelt mit ihrem kranken Kind auf der Strasse, weil sie den Arzt nicht bezahlen kann...

Die Pressekonferenz
Am dritten November luden Luisa Morgantini als Leiterin der Europäischen Delegation, Asma Jahangir, Rechtsanwältin und Mitglied im Pakistanischen Nationalausschuss der Menschenrechtskommission, und Sahar Saba, Sprecherin für RAWA, gemeinsam zu einer Pressekonferenz ins Marriott-Hotel in Islamabad ein. 
Motto der Konferenz war: “Women speak out: Stop fundamentalism, Stop terrorism, Stop war. Peace and democracy for Afghanistan”.

Alle Redebeiträge legten Nachdruck auf die Rolle der Frau und ihren Einbezug in alle Entscheidungen über die Zukunft Afghanistans. 

Luisa Morgantini bekräftigte unsere Solidarität mit den afghanischen Frauen, die seit langem unter Krieg, Menschenrechtsverletzungen und Exil zu leiden haben. Asma Jahangir bemerkte, dass die Leiden der afghanischen Frauen lange von der Weltöffentlichkeit ignoriert wurden und erst jetzt wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. 

Die internationale Gemeinschaft hat nun die Aufgabe, sicherzustellen, dass an dem kommenden Friedensprozess  keine Warlords, sondern die Frauen beteiligt werden.  Es waren die Frauen, die Menschenrechtsverletzungen dokumentiert und alle Formen von Terrorismus und Fundamentalismus angeprangert haben. 

Auch Sahar Saba von RAWA bekräftigte, dass die internationale Gemeinschaft ihren Verpflichtungen nachkommen und ihre Stimme gegen
Fundamentalismus, Terrorismus und Menschenrechtsverletzungen erheben muss. Sie sagt, dass die Taliban und die Nordallianz zwei Seiten der gleichen Münze sind, mit der gleichen Mentalität. 

Obwohl die Nordallianz jetzt durch die NATO und die USA unterstützt wird, war die Zeit unter ihrer Herrschaft in gewisser Weise sogar schlimmer als unter den Taliban. 
1992 bis 1996 waren die dunkelsten Jahre für die Frauen Afghanistans. 

Sahar Saba sagte: 
“We don’t believe that war is ever a solution; war brings war; so we ask for immediate halt of bombardement and killings of innocent civilians.” 

Im Namen der Europäischen Delegation wurde eine Pressemitteilung veröffentlicht, in der die folgenden Punkte angesprochen wurden:

  • Der Tod Tausender unschuldiger Menschen in New York und Washington darf nicht mit der Ermordung unschuldiger und wehrloser  Menschen in Afghanistan vergolten werden. 
  • Ein Monat Bombenangriffe hat den Taliban und Al-Qaeda kaum Schaden zugefügt, aber die Zahl ziviler Opfer steigt jeden Tag.
  • Für eine Rückkehr zu Frieden und Demokratie ist es notwendig, den Fundamentalismus von Taliban und Nordallianz zu beenden.
  • Die afghanische Nation entscheidet über ihre eigene Zukunft.
  • Frieden und Stabilität für die mehr als vier Millionen afghanischer Flüchtlinge in Pakistan  und im Iran. 
  • Die Weltöffentlichkeit muss ihre Aufmerksamkeit auf die große Katastrophe der afghanischen Flüchtlinge lenken.
  • Ohne eine Kursänderung in der westlichen Politik im Mittleren Osten kann der fundamentalistische Terrorismus nicht eliminiert werden. 
  • Die Vereinten Nationen müssen eine bedeutende Rolle bei der Bildung einer Nach-Taliban-Regierung spielen und alle fundamentalistischen Gruppen ohne Ausnahme eliminieren, um damit den Weg zu freien Wahlen zu eröffnen. 
  • Die Friedensbemühungen müssen auf Werten wie Demokratie, Frauenrechten und freien Wahlen basieren. Frauen, die wie in RAWA aktiv und mutig gegen Fundamentalismus kämpfen, müssen bei den Verhandlungen präsent sein. 
Dieser Einladung zur Pressekonferenz waren ungefähr 30 JournalistInnen gefolgt.  Am nächsten Tag bekamen wir in der Presse ein eindrucksvolles Bild pakistanischer Berichterstattung geboten. Auf den Fotos war oft die RAWA-Sprecherin nicht zu sehen, auch in den Bildunterschriften und in den Titeln wurde RAWA nicht erwähnt. Und eine Zeitung behauptete gar, sie hätte ihr Gesicht hinter einer Maske versteckt! 

Auf unserer Reise erhielten wir ein eindrucksvolles und informationsreiches Bild von der Situation der afghanischen Flüchtlinge, von den Ansichten der demokratischen Kräfte und von den Aktivitäten RAWAs. Und wir fühlten die Herzlichkeit, Gastfreundschaft und Wärme, die sich die einfachen Menschen trotz ihrer komplizierten Situation bewahrt haben. 

Wir haben uns davon überzeugen können, dass ein friedlicher Übergang zu einem neuen demokratische und nicht fundamentalistisch dominierten Afghanistan möglich ist und von der Bevölkerung gewünscht wird. Und wir haben gesehen, dass es für uns sehr viel zu tun gibt, wenn wir unsere Solidarität mit praktischen und konkreten Handlungen unter Beweis stellen wollen. 
Vor allem werden Spenden gebraucht. Wir konnten uns davon überzeugen, dass die Spenden bei Vereinigungen wie RAWA und HAWCA in sehr guten Händen sind, sie werden wirklich für die Bedürftigen und nicht für die Verwaltung oder anderweitig verwendet.  

Deshalb möchte ich diesen Bericht mit einem Spendenaufruf für RAWA abschließen. Das offizielle Konto für Spenden an RAWA in Deutschland und einige interessante Links zu Websites füge ich an. 

Abschließend möchte ich von ganzem Herzen unseren GastgeberInnen danken, die uns mit offenen Armen empfangen und uns ihre Situation mit großer Offenheit und Eindringlichkeit geschildert haben. 

So mutig und so menschlich. 

Ihr Kampf ist der Kampf aller friedliebenden und demokratischen Menschen. Nun ist es an uns, die gewonnenen Informationen zu verbreiten, ihren
Hilferuf in die Welt zu tragen und ihm zu folgen.   

Webseiten:
www.rawa.org
www.hawca.org
www.fi-nottuln.de
www.RAWA-germany.de

UnterstützerInnenplattformen in Deutschland:
Friedensinitiative Nottuln, Aktionsbüro Afghanistan fuer-afghanistan@t-online.de, Online: http://groups.yahoo.com/group/RAWA-germany

Spendenkonto: Friedensinitiative Nottuln, Sparkasse Coesfeld, BLZ  40154530, Konto82593245,
Kennwort :  „RAWA + Anschrift/Email“  (für Spendenquittung oder Bestätigung von RAWA. dass das Geld angekommen ist und wofür es verwendet wurde). 

[1][1] O-Ton einer Unterstützerin

[2][2] Afghanistan ist das Land mit dem höchsten Flüchtlingsanteil. Vier Millionen Menschen leben außerhalb des Landes, davon ca. zwei Millionen in Pakistan
und mehr als eine Million im Iran. Es gibt keine genauen Zahlen, wieviele AfghanInnen innerhalb und außerhalb des Landes leben.   

[3][3] Ein moderater Taliban, das ist, als ob eine Frau ein bisschen schwanger wäre. Uns wurde versichert, dass es keine „gemässigten Taliban“ geben kann.

[4][4] Es wird geschätzt, dass 50000 bis 60000 LehrerInnen in Afghanistan gebraucht werden, um eine Schulbildung zu gewährleisten. 

[5][5] Es ist ein weiterer Mythos, dass die Burka Bestandteil der afghanischen Kultur ist. Sie wurde im Mittelalter von den Frauen der Herrscher in einigen
Teilen der arabischen Welt verwendet. Danach kam sie nach Zentralasien und wurde in einigen ländlichen Gebieten von traditionellen Paschtuninnen getragen.