BasisGrün - Linke Grüne in Bayern
München 5.12.2001 - Austritt von Kurt Haymann aus der Grünen Partei
Austritt aus der Partei Bündnis 90 / Die Grünen
KURT HAYMANN 
THIERSCHSTRASSE 12  
D - 80538  MÜNCHEN           
TEL:  089 - 3617173                 
FAX:  089 - 3617174                    
e-mail: kurt-haymann@t-online.de

Liebe Freundinnen, liebe Freunde,
ich werde nicht als Kandidat für den Münchner Spitzenplatz auf der Bayerischen Landesliste zur Verfügung stehen.Ich trete vielmehr, mit dem Ende dieser Erklärung und nach 22 Jahren Mitgliedschaft aus der Partei Bündnis 90 / Die Grünen aus. Denn die Partei, so wie sie sich heute darstellt, ist nicht mehr meine politische Heimat.
Ich habe lange gebraucht, um das endgültig zu wissen. Und ich habe die Konsequenz dieser Erkenntnis wohl auch schon seit längerer Zeit immer wieder verdrängt. Verdrängt von allen Dingen, weil ich immer die Auffassung vertreten habe, dass ich mich in die Entwicklungs- bzw. Entscheidungsprozesse der Partei einmischen/einbringen muss, wenn diese sich anders gestalten als ich das will. Aus diesem Grund, d.h. um mich zukünftig an exponierterer Stelle einmischen zu können, habe ich mich im Herbst zunächst auch dafür entschieden, für den Bundestag zu kandidieren.   
Die Ergebnisse und der Verlauf der letzten BDK in Rostock und nicht zuletzt der Jahreskongress des Bundesratschlags der Friedensinitiative am letzten Wochenende in Kassel, haben mir aber in einer für mich dramatischer Weise verdeutlicht, dass ich jetzt handeln muss.

Neben allen konkret-inhaltlichen Fragen waren es für mich immer zwei Elemente, welche die Partei Bündnis 90 / Die Grünen ausgezeichnet haben: Das Vorhandensein und die Kraft politischen Visionen (also konkreter Utopien) und die politische Glaubwürdigkeit.
Beide sind heute bis zur Unkenntkichkeit verkümmert.
Und die These, dass nicht Macht korrumpiert, sondern die Angst vor dem Verlust der Macht, wird sel-ten so augenfällig belegt, wie derzeit durch die Bundesebene von Bündnis 90 / Die Grünen.
Als Argument zur Rechtfertigung dieser Tatsache dient immer der Verweis darauf, was wäre, wenn an Stelle von Rot-Grün zukünftig Rot-Gelb oder Rot-Schwarz die Republik regierten.
Dazu zweierlei:
Zum einen: Natürlich hat es in den letzten drei Jahren eine ganze Reihe erfolgreicher Rot-Grüner Pro-jekte gegeben. Das stelle ich überhaupt nicht in Frage. Und ich weiß auch sehr gut um die 1/7 – 6/7 Ge-wichtsverhältnisse in der Koalition und die damit verbundenen Einflussmöglichkeiten und deren Gren-zen. 
Zum Zweiten steht für mich aber auch fest, dass sich Politik und damit die gesellschaftlichen Verhält-nisse nicht nur von der Regierungsbank aus, sondern ebenso in der Opposition gestalten lassen. Und wenn ich mir die Entwicklung der Republik in den letzten 15-20 Jahren betrachte, dann haben wir in der Zeit vor 1998 weit mehr „grüne Projekte“ auf den Weg gebracht als danach (Entwicklung eines ökolog. Bewusstseins, bürgernahe Demokratie-Elemente, Verhinderung von unsinnigen Großprojekten (WAA), Veränderung des Rechtstaatsbewusstseins usw. usw.).  
Dies alles waren zentrale bündnisgrüne Anliegen und an unserem Verhältnis zu diesen zentralen The-men wurde und wird unsere Glaubwürdigkeit gemessen.
Bündnis 90 / Die Grünen sind angetreten für den Atomausstieg. 
Jetzt haben wir ihn, vielleicht war er nicht anders zu haben, vielen von uns gefällt er in dieser Form überhaupt nicht.
Unglaubwürdig macht Bündnis 90 / Die Grünen nicht der unbedingt dieser Ausstieg an sich , sondern in erster Linie die Art und Weise, wie eine solche Riesenkröte auf einer BDK mit stehenden Ovationen als grandioser grüner Sieg gefeiert wird. Glaubwürdig und selbstbewusst wäre es meiner Ansicht nach ge-wesen, wenn wir gesagt hätten: wir sind damit überhaupt nicht zufrieden, aber mit diesen Sozis ist es anders leider nicht möglich. Und wenn wir unser Unbehagen auch ehrlich in die Anti-AKW-Bewegung getragen und dort diskutiert hätten, anstatt diese durch offensichtliche Ignoranz vor den Kopf zu stoßen.
Bündnis 90 / Die Grünen verstehen sich als Partei für Demokratie, Menschen- und Bürgerrechte
Jetzt wird von der Bundestagsfraktion und der Bundespartei ein Sicherheitspaket II, vorgelegt von Otto Schily, abgesegnet, das – und zwar inklusive aller von Bündnis 90 / Die Grünen eingebrachten „Verbes-serungen“ - von dem sicher nicht als Linken zu bezeichnenden FDP-Mann Burkhard Hirsch in der SZ als „Abschied vom Grundgesetz“ und „Weg in den Überwachungsstaat“ bezeichnet wird und dem er einen „totalitären Geist“ bescheinigt. 
Wo bleibt der Aufschrei. Warum steht von unserer Parteiführung nicht endlich jemand auf und fordert den Rücktritt von Schily. Wer sagt endlich mal laut, dass Schily für ein rot-grünes Projekt nicht tragbar ist.  Nein, unsere Politiker (mindestens die aus der zweiten Reihe) fordern eher öffentlichkeitswirksam den Rücktritt des eigenen Umweltministers, als sich zu trauen den Antidemokraten Schily anzugreifen.
Wo bleibt da die Glaubwürdigkeit?
Bündnis 90 / Die Grünen sind angetreten als Friedenspartei.
Nun wird zum zweiten Mal ein Angriffs-krieg mitgetragen – gegen das internationale Völkerrecht und gegen unsere Parteistatuten (Grundkon-sens). Ich spare mir die ganze inhaltliche Diskussion, diese ist hinlänglich bekannt. Zwei Fragen aber bleiben, und diese waren für meine Entscheidung mit ausschlaggebend.

  • 1. Frage: Joschka Fischer hat die deutsche Kriegsbeteiligung als „Friedensbewegung des 21. Jhdts.“ und die Partei Bündnis 90 / Die Grünen weiterhin als Teil der Friedensbewegung bezeichnet. Ich selbst halte diese Bezeichnung für eine Verhöhnung der Friedensbewegung, viele andere aus den verschiedensten Friedensinitiativen tun das auch. Aber darauf kommt es mir nicht in erster Linie an. Warum aber war, trotz formeller und ausdrücklicher Einladung nicht ein einziger Mandatsträger der Bundesebene, der BT-Fraktion oder eines Landesverbandes auf den Jahreskongress des Bundesratschlages der Friedensi-nitiativen am letzten Wochenende in Kassel und hat dort die in Rostock verabschiedete Position vor denjenigen vertreten, die lange Zeit unsere Bündnispartner waren. Viel unglaubwürdiger und - ich sage auch das ausdrücklich: feiger, kann man sich nicht darstellen.
  • 2. Frage: Unsere Parteiführung hat vielfach und ausführlich begründet und vehement kritisiert, dass Gerhard Schröder  durch die Verknüpfung der Vertrauensfrage mit der Frage des Kriegseinsatzes der Bundeswehr Bündnis 90 / Die Grünen in völlig ungerechtfertigte Handlungszwänge gebracht und ihre Gewissensfreiheit bei der Entscheidung ungerechtfertigt eingeschränkt hat. Ich teile diese Auffassung ausdrücklich. Warum aber gibt es wiederum keinen Aufschrei, insbesondere dieser „Betroffenen“ und „exponierten“ Grünen, wenn die Regie der BDK die gleiche perfide Verquickung der Fragen Fortbe-stand der rot-grünen Regierung und Kriegseinsatz deutscher Soldaten auf die Tagesordnung stellt und durchpeitscht. Ich kann auch in diesem Zusammenhang von innerparteilicher Glaubwürdigkeit und Selbstbewusstsein keine Spur, insbesondere der Führung gegenüber der Basis entdecken.


Zu den fehlenden Visionen will ich nur soviel sagen: Eine Partei, die ihre Ziele ausschließlich an der unmittelbaren Machbarkeit ausrichtet, verliert jedes eigene Profil. Das beste Beispiel (oder Trauerspiel) ist dafür der vom Bundesvorstand vorgelegte Entwurf  für das neue Grundsatzprogramm. So ziemlich alles, was Bündnis 90 / Die Grünen als eigenständige visionäre Kraft einmal ausgezeichnet hat ist aus diesem Programm verschwunden und der Koalitionsmachbarkeit gewichen. Meiner Meinung nach wäre der Entwurf schon als Wahlprogramm untauglich. Als Grundsatzprogramm macht er Bündnis 90 / Die Grünen zu einer Partei der Beliebigkeit und das wird mittelfristig zur Überflüssigkeit führen.
Noch eine Persönliche Bemerkung: mir hat es in der Seele wehgetan, dass ich auf einer grünen LDK erleben musste, dass mein eigener Landesvorsitzender in einer Rede zur Landespolitik eine Stunde von der Notwendigkeit zur Machbarkeit redet und ich mir anschließend von einem arroganten CDU-Gastredner (M. Friedmann) in oberlehrerhafter Manier erzählen lassen muss, dass er sich im Gegensatz zu Bündnis 90 / Die Grünen die Freiheit zur politischen Vision nicht nehmen lässt.

Kurz und gut: ich will und kann mich nicht länger für eine Politik und vor allem auch für eine politische Kultur rechtfertigen, die nicht die meine ist. Ich bin kein politischer Kunstflieger und will auch keiner werden. Und: ich bin nicht länger bereit als „nützlicher Idiot“ /“Alibi“ für diejenige Mehrheit der neoliberalen „Realpolitiker“ in der Partei Bündnis 90 / Die Grünen zur Verfügung zu stellen, die ihre Politik gerne durch die Akzeptanz der Existenz einer linken Minderheit gesellschaftlich aufwerten möchten.
Aufklärerische Politik muss selbstbewusste Politik sein – dass ich dieses Selbstbewusstsein bei Bündnis 90 / Die Grünen weitestgehend vermisse, habe ich gesagt – dass dieser Zustand oft zu Arroganz und zur Ausgrenzung andersdenkender führt, ist die andere Seite ein und derselben Medaille. 
Die Art, in der soziale Kälte sich in der Partei Bündnis 90 / Die Grünen auch und insbesondere beim Umgang miteinander breitgemacht hat, wäre es sicher auch wert, einmal gründlich bedacht zu werden.

Ich kann noch nicht genau sagen, wo meine zukünftige politische Arbeit ihre Schwerpunkte haben wird.
Vielleicht bei ATTAC, vielleicht in der Friedens- und/oder Demokratiebewegung – eventuell gibt es da und dort Möglichkeiten der punktuellen Zusammenarbeit.
Ich will auch eine Rückkehr zu Bündnis 90 / Die Grünen nicht ausschließen. Bedingung dafür wäre allerdings, dass die Partei sich auf ihre Aufgaben und Ziele völlig neu zurückbesinnt. Und ich denke, auch das will ich abschließend offen sagen, dass diese Rückbesinnung nur gelingen wird, wenn die Partei bei der nächsten BT-Wahl die 5% nicht erreicht.
Was ich gerade für die BT-Wahlen gesagt habe, sehe ich übrigens sehr ähnlich auch für die Partei auf bayerischer Landesebene im Jahr 2003.
Ausnehmen will ich bei dieser Kritik, zumindest teilweise, die kommunalen Ebenen der Partei. In München - und an vielen anderen Orten.
Ich möchte mich bei all denen bedanken, die mit mir in der Partei zusammengearbeitet und gekämpft haben. Diejenigen, deren Verhältnis zu mir eher von Misstrauen geprägt war, sind jetzt wenigstens eine Sorge los.
Abschließend noch eine persönliche Bitte, für den Fall, dass von dem einen oder der anderen von Euch gefordert wird, meinen Austritt in der Öffentlichkeit zu kommentieren: begründet meinen Austritt bitte nicht mit meiner „Unfähigkeit zur Realpolitik“. Ich denke und Ihr wisst, dass ich diese Fähigkeit in den vergangenen 22 Jahren hinlänglich unter Beweis gestellt habe.
Ich danke Euch, dass Ihr mir zugehört habt und wünsche Euch weiterhin viel Kraft.