KURT HAYMANN
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Liebe Freundinnen, liebe Freunde,
ich werde nicht als Kandidat für den
Münchner Spitzenplatz auf der Bayerischen Landesliste zur Verfügung
stehen.Ich trete vielmehr, mit dem Ende dieser Erklärung und
nach 22 Jahren Mitgliedschaft aus der Partei Bündnis 90 / Die Grünen
aus. Denn die Partei, so wie sie sich heute darstellt, ist nicht mehr meine
politische Heimat.
Ich habe lange gebraucht, um das endgültig zu wissen.
Und ich habe die Konsequenz dieser Erkenntnis wohl auch schon seit längerer
Zeit immer wieder verdrängt. Verdrängt von allen Dingen, weil
ich immer die Auffassung vertreten habe, dass ich mich in die Entwicklungs-
bzw. Entscheidungsprozesse der Partei einmischen/einbringen muss, wenn
diese sich anders gestalten als ich das will. Aus diesem Grund, d.h. um
mich zukünftig an exponierterer Stelle einmischen zu können,
habe ich mich im Herbst zunächst auch dafür entschieden, für
den Bundestag zu kandidieren.
Die Ergebnisse und der Verlauf der letzten BDK in Rostock
und nicht zuletzt der Jahreskongress des Bundesratschlags der Friedensinitiative
am letzten Wochenende in Kassel, haben mir aber in einer für mich
dramatischer Weise verdeutlicht, dass ich jetzt handeln muss.
Neben allen konkret-inhaltlichen Fragen waren es für
mich immer zwei Elemente, welche die Partei Bündnis 90 / Die Grünen
ausgezeichnet haben: Das Vorhandensein und die Kraft politischen Visionen
(also konkreter Utopien) und die politische Glaubwürdigkeit.
Beide sind heute bis zur Unkenntkichkeit verkümmert.
Und die These, dass nicht Macht korrumpiert, sondern
die Angst vor dem Verlust der Macht, wird sel-ten so augenfällig belegt,
wie derzeit durch die Bundesebene von Bündnis 90 / Die Grünen.
Als Argument zur Rechtfertigung dieser Tatsache dient
immer der Verweis darauf, was wäre, wenn an Stelle von Rot-Grün
zukünftig Rot-Gelb oder Rot-Schwarz die Republik regierten.
Dazu zweierlei:
Zum einen: Natürlich hat es in den letzten drei
Jahren eine ganze Reihe erfolgreicher Rot-Grüner Pro-jekte gegeben.
Das stelle ich überhaupt nicht in Frage. Und ich weiß auch sehr
gut um die 1/7 – 6/7 Ge-wichtsverhältnisse in der Koalition und die
damit verbundenen Einflussmöglichkeiten und deren Gren-zen.
Zum Zweiten steht für mich aber auch fest, dass
sich Politik und damit die gesellschaftlichen Verhält-nisse nicht
nur von der Regierungsbank aus, sondern ebenso in der Opposition gestalten
lassen. Und wenn ich mir die Entwicklung der Republik in den letzten 15-20
Jahren betrachte, dann haben wir in der Zeit vor 1998 weit mehr „grüne
Projekte“ auf den Weg gebracht als danach (Entwicklung eines ökolog.
Bewusstseins, bürgernahe Demokratie-Elemente, Verhinderung von unsinnigen
Großprojekten (WAA), Veränderung des Rechtstaatsbewusstseins
usw. usw.).
Dies alles waren zentrale bündnisgrüne Anliegen
und an unserem Verhältnis zu diesen zentralen The-men wurde und wird
unsere Glaubwürdigkeit gemessen.
Bündnis 90 / Die Grünen sind angetreten
für den Atomausstieg.
Jetzt haben wir ihn, vielleicht war er nicht anders zu
haben, vielen von uns gefällt er in dieser Form überhaupt nicht.
Unglaubwürdig macht Bündnis 90 / Die Grünen
nicht der unbedingt dieser Ausstieg an sich , sondern in erster Linie die
Art und Weise, wie eine solche Riesenkröte auf einer BDK mit stehenden
Ovationen als grandioser grüner Sieg gefeiert wird. Glaubwürdig
und selbstbewusst wäre es meiner Ansicht nach ge-wesen, wenn wir gesagt
hätten: wir sind damit überhaupt nicht zufrieden, aber mit diesen
Sozis ist es anders leider nicht möglich. Und wenn wir unser Unbehagen
auch ehrlich in die Anti-AKW-Bewegung getragen und dort diskutiert hätten,
anstatt diese durch offensichtliche Ignoranz vor den Kopf zu stoßen.
Bündnis 90 / Die Grünen verstehen sich als
Partei für Demokratie, Menschen- und Bürgerrechte.
Jetzt wird von der Bundestagsfraktion und der Bundespartei
ein Sicherheitspaket II, vorgelegt von Otto Schily, abgesegnet, das – und
zwar inklusive aller von Bündnis 90 / Die Grünen eingebrachten
„Verbes-serungen“ - von dem sicher nicht als Linken zu bezeichnenden FDP-Mann
Burkhard Hirsch in der SZ als „Abschied vom Grundgesetz“ und „Weg in den
Überwachungsstaat“ bezeichnet wird und dem er einen „totalitären
Geist“ bescheinigt.
Wo bleibt der Aufschrei. Warum steht von unserer Parteiführung
nicht endlich jemand auf und fordert den Rücktritt von Schily. Wer
sagt endlich mal laut, dass Schily für ein rot-grünes Projekt
nicht tragbar ist. Nein, unsere Politiker (mindestens die aus der
zweiten Reihe) fordern eher öffentlichkeitswirksam den Rücktritt
des eigenen Umweltministers, als sich zu trauen den Antidemokraten Schily
anzugreifen.
Wo bleibt da die Glaubwürdigkeit?
Bündnis 90 / Die Grünen sind angetreten
als Friedenspartei.
Nun wird zum zweiten Mal ein Angriffs-krieg mitgetragen
– gegen das internationale Völkerrecht und gegen unsere Parteistatuten
(Grundkon-sens). Ich spare mir die ganze inhaltliche Diskussion, diese
ist hinlänglich bekannt. Zwei Fragen aber bleiben, und diese waren
für meine Entscheidung mit ausschlaggebend.
-
1. Frage: Joschka Fischer hat die deutsche Kriegsbeteiligung
als „Friedensbewegung des 21. Jhdts.“ und die Partei Bündnis 90 /
Die Grünen weiterhin als Teil der Friedensbewegung bezeichnet. Ich
selbst halte diese Bezeichnung für eine Verhöhnung der Friedensbewegung,
viele andere aus den verschiedensten Friedensinitiativen tun das auch.
Aber darauf kommt es mir nicht in erster Linie an. Warum aber war, trotz
formeller und ausdrücklicher Einladung nicht ein einziger Mandatsträger
der Bundesebene, der BT-Fraktion oder eines Landesverbandes auf den Jahreskongress
des Bundesratschlages der Friedensi-nitiativen am letzten Wochenende in
Kassel und hat dort die in Rostock verabschiedete Position vor denjenigen
vertreten, die lange Zeit unsere Bündnispartner waren. Viel unglaubwürdiger
und - ich sage auch das ausdrücklich: feiger, kann man sich nicht
darstellen.
-
2. Frage: Unsere Parteiführung hat vielfach und
ausführlich begründet und vehement kritisiert, dass Gerhard Schröder
durch die Verknüpfung der Vertrauensfrage mit der Frage des Kriegseinsatzes
der Bundeswehr Bündnis 90 / Die Grünen in völlig ungerechtfertigte
Handlungszwänge gebracht und ihre Gewissensfreiheit bei der Entscheidung
ungerechtfertigt eingeschränkt hat. Ich teile diese Auffassung ausdrücklich.
Warum aber gibt es wiederum keinen Aufschrei, insbesondere dieser „Betroffenen“
und „exponierten“ Grünen, wenn die Regie der BDK die gleiche perfide
Verquickung der Fragen Fortbe-stand der rot-grünen Regierung und Kriegseinsatz
deutscher Soldaten auf die Tagesordnung stellt und durchpeitscht. Ich kann
auch in diesem Zusammenhang von innerparteilicher Glaubwürdigkeit
und Selbstbewusstsein keine Spur, insbesondere der Führung gegenüber
der Basis entdecken.
Zu den fehlenden Visionen will ich nur soviel sagen:
Eine Partei, die ihre Ziele ausschließlich an der unmittelbaren Machbarkeit
ausrichtet, verliert jedes eigene Profil. Das beste Beispiel (oder Trauerspiel)
ist dafür der vom Bundesvorstand vorgelegte Entwurf für
das neue Grundsatzprogramm. So ziemlich alles, was Bündnis
90 / Die Grünen als eigenständige visionäre Kraft einmal
ausgezeichnet hat ist aus diesem Programm verschwunden und der Koalitionsmachbarkeit
gewichen. Meiner Meinung nach wäre der Entwurf schon als Wahlprogramm
untauglich. Als Grundsatzprogramm macht er Bündnis 90 / Die Grünen
zu einer Partei der Beliebigkeit und das wird mittelfristig zur Überflüssigkeit
führen.
Noch eine Persönliche Bemerkung: mir hat es in der
Seele wehgetan, dass ich auf einer grünen LDK erleben musste, dass
mein eigener Landesvorsitzender in einer Rede zur Landespolitik eine Stunde
von der Notwendigkeit zur Machbarkeit redet und ich mir anschließend
von einem arroganten CDU-Gastredner (M. Friedmann) in oberlehrerhafter
Manier erzählen lassen muss, dass er sich im Gegensatz zu Bündnis
90 / Die Grünen die Freiheit zur politischen Vision nicht nehmen lässt.
Kurz und gut: ich will und kann mich nicht länger
für eine Politik und vor allem auch für eine politische Kultur
rechtfertigen, die nicht die meine ist. Ich bin kein politischer Kunstflieger
und will auch keiner werden. Und: ich bin nicht länger bereit als
„nützlicher Idiot“ /“Alibi“ für diejenige Mehrheit der neoliberalen
„Realpolitiker“ in der Partei Bündnis 90 / Die Grünen zur Verfügung
zu stellen, die ihre Politik gerne durch die Akzeptanz der Existenz einer
linken Minderheit gesellschaftlich aufwerten möchten.
Aufklärerische Politik muss selbstbewusste Politik
sein – dass ich dieses Selbstbewusstsein bei Bündnis 90 / Die Grünen
weitestgehend vermisse, habe ich gesagt – dass dieser Zustand oft zu Arroganz
und zur Ausgrenzung andersdenkender führt, ist die andere Seite ein
und derselben Medaille.
Die Art, in der soziale Kälte sich in der Partei
Bündnis 90 / Die Grünen auch und insbesondere beim Umgang miteinander
breitgemacht hat, wäre es sicher auch wert, einmal gründlich
bedacht zu werden.
Ich kann noch nicht genau sagen, wo meine zukünftige
politische Arbeit ihre Schwerpunkte haben wird.
Vielleicht bei ATTAC, vielleicht in der Friedens-
und/oder Demokratiebewegung – eventuell gibt es da und dort Möglichkeiten
der punktuellen Zusammenarbeit.
Ich will auch eine Rückkehr zu Bündnis 90
/ Die Grünen nicht ausschließen. Bedingung dafür wäre
allerdings, dass die Partei sich auf ihre Aufgaben und Ziele völlig
neu zurückbesinnt. Und ich denke, auch das will ich abschließend
offen sagen, dass diese Rückbesinnung nur gelingen wird, wenn die
Partei bei der nächsten BT-Wahl die 5% nicht erreicht.
Was ich gerade für die BT-Wahlen gesagt habe, sehe
ich übrigens sehr ähnlich auch für die Partei auf bayerischer
Landesebene im Jahr 2003.
Ausnehmen will ich bei dieser Kritik, zumindest teilweise,
die kommunalen Ebenen der Partei. In München - und an vielen anderen
Orten.
Ich möchte mich bei all denen bedanken, die mit
mir in der Partei zusammengearbeitet und gekämpft haben. Diejenigen,
deren Verhältnis zu mir eher von Misstrauen geprägt war, sind
jetzt wenigstens eine Sorge los.
Abschließend noch eine persönliche Bitte,
für den Fall, dass von dem einen oder der anderen von Euch gefordert
wird, meinen Austritt in der Öffentlichkeit zu kommentieren: begründet
meinen Austritt bitte nicht mit meiner „Unfähigkeit zur Realpolitik“.
Ich denke und Ihr wisst, dass ich diese Fähigkeit in den vergangenen
22 Jahren hinlänglich unter Beweis gestellt habe.
Ich danke Euch, dass Ihr mir zugehört habt und wünsche
Euch weiterhin viel Kraft. |