Daniel Kreutz
Einstiegsfrage: "Was ist linke Politik?"
Das sind zwei Fragen: Was ist die Linke- oder was ist links -, und was ist dann linke Politik. Was die Linke ist, ist heute schwer definierbar geworden. Im späten Rheinischen Kapitalismus war das noch vergleichsweise einfach. Da konnte man aus guten Gründen noch einerseits so was wie eine breite reformistische Linke identifizieren, politisch hauptsächlich vertreten in SPD und Grünen, und andererseits halt eine bürgerliche Rechte. Diese beiden Lager unterschieden sich ganz wesentlich dadurch, wie sie sich jeweils im Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit positionierten. Auch die ökologischen Bestrebungen der Grünen waren da im Großen und Ganzen links zu verorten, weil sie sich gegen Verwertungsinteressen des Kapitals richteten. Das gleiche galt für die grünen feministischen Bestrebungen, die die Lebenssituation von Verkäuferinnen und von Krankenschwestern stärker im Blick hatten als die von Unternehmerinnen und Frauen im mittleren Management. Soziale Gerechtigkeit war sozusagen eines der zentralen identitätsstiftenden Prinzipien einer breiten parteiförmigen Linken. Zwar war soziale Gerechtigkeit in der sozialdemokratischen Regierungspolitik schon spätestens Anfang der 80er Jahre schon ein außerordentlich relativer Begriff, relativ zu dem, was die Konservativen und Liberalen wollten. Aber man wusste, dass es für die SPD Grenzen gab, dass sie nie so weit gehen konnte, wie die Mitte-Rechts-Parteien, weil da fundamentale interessenpolitische Bindungen an die gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmerschaft wirksam waren. Die neoliberale Revolution des shareholder-Kapitalismus hat alles verändert. Heute lassen sich praktisch keine Prinzipien oder grundsätzlich unterscheidbare Richtungen mehr definieren, anhand derer die Politik der SPD oder der Grünen substanziell unterscheidbar wäre von der des früheren bürgerlichen Lagers. Die SPD hat gewissermaßen aufgehört, in einem inhaltlichen Sinne "sozialdemokratisch" zu sein, und die Grünen haben aufgehört, "sozial-ökologisch" zu sein. Die PDS mag da - besonders vom Westen aus betrachtet, wo sie marginal bleibt - auf den ersten Blick noch vergleichsweise bessser aussehen. Aber was ich so mitbekomme über die PDS in Regierungsverantwortung und was ich an Klagen höre von PDS-KollegInnen über den Vormarsch neoliberal infizierter Politikmuster auch in dem Laden, das relativiert den ersten Blick doch sehr. Kenner der europäischen Szene sagen, dass dieses Problem - das Verschwinden der reformistischen Linken als gesellschaftlicher Massenströmung - ein europaweites Phänomen darstellt. Alle Parteien folgen heute im Wesentlichen den gleichen angebotspolitischen Doktrinen der Standortpolitik: die Wettbewerbsfähigkeit müsse auf der Kostenseite gestärkt werden, Arbeit müsse billiger werden, die Steuer- und Abgabenbelastung der Wirtschaft müsse sinken, die soziale Sicherung müsse mindestens teilweise privatisiert werden, usw. usf. Welches Parteibuch man hat, sagt heute nichts mehr aus über den politischen Standort, den man in unserer kapitalistischen Realität im globalisierten Interessengegensatz von Kapital und Arbeit, von Reich und Arm, von ökologischer Nachhaltigkeit und zerstörerischer Profitmacherei, von patriarchaler Herrschaft und weiblicher Emanzipation tatsächlich einnimmt. In diesen Gegensatzpaaren ist für mich übrigens zwar nicht alles, aber doch vieles benannt, was zu meiner Definition von Links gehört. Es gibt heute weder einen parteiförmige Vertretung der Linken, noch einen "Ismus", mit dem wir das, was Links ist, begrifflich zusammenfassen könnten, aber trotzdem für andere verständlich bleiben. Vielleicht sind Zukunftsfähigkeit und Teilhabe zwei Begriffe, mit denen man arbeiten kann - wenn man sie einerseits global und andererseits radikal - im Sinne von an die Wurzeln - versteht. Die Linke muss sich also jenseits - oder besser: diesseits - von Parteibetrieben und -routinen gleichsam neu erfinden und neu definieren durch ihr praktisches, ihr öffentliches und eigenständiges Tun. Ich glaube, dass wir von dieser Überlegung ausgehen müssen, um Perspektiven der Linken heutzutage sinnvoll diskutieren zu können. Den realitätstauglichsten Ansatz, um so was wie eine neue politische Linke zu Stande zu bringen, die vielleicht auch wieder öffentlich wahrnehmbar wird, die vielleicht auch wieder mobilisierungsfähig und damit politikfähig werden kann - den realitätstauglichsten Ansatz dazu sehe ich heute in dem, was die InitiatorInnen der Berliner Halb-Zeit-Konferenz vorhaben. Da geht es darum, in einem möglichst breiten Spektrum von MultiplikatorInnen aus Netzwerken, aus Verbänden und Initiativen und auch aus Parteien einen Verständigungsprozess zu versuchen darüber, ob und wie wir eine gemeinsame, zivilgesellschaftliche Opposition zur rot-grünen Politik der Neuen Mitte und gemeinsame, zukunftsfähige Alternativen zum shareholder-Kapitalismus definieren können. Dabei wird es darauf ankommen, ein gemeinsames Verständnis für das konzeptionelle und strategische Aufeinander -Angewiesen-Sein der sozialen, der ökologischen, der arbeits- und wirtschaftspolitischen, der friedenspolitischen und emanzipatorischen Bestrebungen zu entwickeln. Meines Erachtens bilden dabei die Fragen der Verteilung gesellschaftlichen Reichtums, nicht nur von Geld, sondern auch der produktiven Ressourcen, von Arbeit, einen zentralen roten Faden für alle wesentlichen Politikelder. Der HalbZeit-Ansatz ist für Deutschland etwas ähnliches, was Bourdieu mit der Versammlung der europäischen Generalstände für Europa vorschwebt. Ob es tatsächlich gelingt, über die Halb-Zeit!-Konferenz einen neuen - wenngleich auch zunächst kleinen - politischen Kristallisationspol für eine neue Linke zu entwickeln, muss sich zeigen. Wie immer gibt's da eine Menge Schwierigkeiten. Aber ich kann zu diesem Versuch derzeit keine plausible Alternative erkennen. Weder in der Konzentration auf den innerparteilichen Kampf in den Neue-Mitte-Parteien, noch in dem Glauben, die PDS politisch zukunftsfähig und zu einer relevanten Kraft auch im Westen machen zu können, noch in der Auflösung in Strukturen unterschiedlicher Ein-Punkt-Bewegungen. Ich glaube eher, dass diese Optionen alle nichts dazu beitragen, dem Verschwinden der Linken zu begegnen und neue gesellschaftspolitische Perspektiven von links zu eröffnen. Linke Politik ist nach meinem Dafürhalten zuallererst mal Interessenpolitik - wie jede Politik überhaupt. Sie bezieht sich auf kollektive Lebens- und Überlebensinteressen real existierender Menschen, die vom shareholder-Kapitalismus und vom Patriarchat negiert und untergepflügt werden. Linke Politik ist aber nicht bloße Interessenpolitik, sondern fußt auf einem Verständnis dessen, was gesellschaftspolitisch hierzulande und auf dem Globus tatsächlich vor sich geht, welche widerstreitenden Kräfte in der Gesellschaft Kräfteverhältnisse bilden und Ursache von Entwicklungen sind. Linke Politik ist also zweitens aufgeklärte Politik. Die ist drittens darauf ausgerichtet, den Leuten die real existierenden Interessengegensätze zwischen ihnen und ihren Nachkommen und den Realitäten des globalen patriarchalen Kapitalismus ins Bewusstsein treten zu lassen. Es ist aufklärerische Politik. Und das geht am besten immer dann, wenn die Leute zur Verteidigung ihrer Interessen gemeinsam aktiv werden. Ein Warnstreik kann ungleich mehr an kollektiver politischer Bildung bringen als 10 Jahre Flugblattpropaganda. Deshalb ist es enorm wichtig, dass sich etwa jetzt bei der Rente Bewegung entwickeln kann. Linke Politik muss meines Erachtens also drittens mobilisierende Politik sein . Alles zusammen zielt darauf, die Menschen zu befähigen, sozusagen mit der Demokratie radikal ernst zu machen, und zwar in einer qualifizierten, verantwortlichen Weise. Linke Politik ist die Hefe in einem Prozess der Selbstemanzipation der Gesellschaft. Ob ich damit die Frage zureichend beantworten konnte, darüber müsst Ihr befinden. |