LaVo-Rücktritt und Parteiaustritt

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Offener Brief
an die Partei Bündnis 90/Die Grünen

29.3.1999

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Ökologie, solidarische Umverteilung, gleiche Rechte für alle, Frieden. Vier für mich nach wie vor wichtige Projekte, mit denen die GRÜNEN im politischen System der Bundesrepublik Deutschland für einen Aufbruch sorgen wollten. Was ist heute davon übrig geblieben?

"Für die Zukunft sehe ich die erhebliche Gefahr, daß die Bundesregierung, Koalition und Generalität nach den Gesetzen der Salamitaktik Anlässe suchen oder Anlässe schaffen werden, um die Barrieren abzuräumen, die es gegenüber der Außenpolitik des vereinigten Deutschland noch gibt. Als Vehikel dienen dabei die Menschenrechts- und die Humanitätsfragen."

Die gleiche Person, die dieses am 30.12.1994 in "Die Woche" äußerte, kündigte vier Jahre später an, daß sie keine grüne, sondern deutsche Außenpolitik macht. Deutscher geht´s kaum. Von einer "außenpolitischen Kontinuität", wie sie von Joschka Fischer versprochen worden ist, kann aber schon nicht mehr die Rede sein. Rot-Grün setzt das in die Tat um, was alle Bundesregierungen vorher nicht gewagt haben: Nach 54 Jahren den ersten völkerrechtswidrigen und durch das deutsche Grundgesetz untersagten Angriffskrieg gegen einen souveränen Staat. Der nach wie vor blasse Angriffsminister Scharping wird von der Presse gefeiert, weil er Deutschland in den Krieg führt.

Das Völkerrecht und die UNO verlieren durch eine Selbstmandatierung der NATO an Legitimation. Auf dem NATO-Gipfel im April will die NATO diese Strategie der Selbstmandatierung auf Dauer bestätigen. Die NATO ist keine Friedenstruppe. Für die Zeit nach den Luftangriffen ist kein Konzept und kein Lösungsansatz vorhanden, ihre Auswirkungen sind unklar. Es ist wahrscheinlich, daß sie den Krieg zwischen Milosevic und der UCK noch anheizen werden.


"Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik." (Koalitionsvertrag)

Eurofighter sind Friedensfighter. Krieg ist die Fortsetzung von Frieden mit anderen Mitteln. Soldaten sind Friedenstruppen. Die Bundeswehr ist die größte Friedensbewegung der Welt. (Variationen zum Koalitionsvertrag)


Scheitern auf ganzer Linie

Im Bundestagswahlkampf wurde von allen vermieden, Knackpunkte oder Essentials für grüne Koalitionsverhandlungen und Regierungspolitik festzulegen. Dennoch haben alle die Verlautbarungen grüner PolitikerInnen im Ohr oder selbst in den Mund genommen: "Ohne einen wirksamen Einstieg in die Ökologische Steuerreform, ohne einen unumkehrbaren Einstieg in einen raschen Atomausstieg und ohne die doppelte Staatsbürgerschaft wird es keine rot-grüne Bundesregierung geben." Für die Durchsetzung der drei zentralen Projekte wurden zahlreiche Kröten geschluckt: Verkehrsprojekte werden fortgeführt, die Gentechnik befürwortet, die Bundeswehr und die Wehrpflicht nicht angetastet. Viele haben das zähneknirschend in Kauf genommen - für eine sichtbare grüne Handschrift bei Ökosteuer, doppelter Staatsbürgerschaft und Atomausstieg.


In vielen anderen Politikfeldern sind die GRÜNEN von früheren Positionen ohne Not abgewichen:

Nachhaltigkeit und Agenda 21

Die allermeisten GRÜNEN glauben an das Konzept der "Nachhaltigkeit". Suffizienz und Effizienz werden allzuoft so aufgeteilt, daß Männer für die Effizienz (technische Entwicklung z.B. neuer Autos) und Frauen für die Suffizienz (z.B. Putzen ohne Putzmittel, Baumwollwindeln) zuständig sind. Ökologie wird von den GRÜNEN schon länger auf ein Technologieproblem reduziert. Ein gesellschaftliches Ökologieverständnis wird durch Nachhaltigkeitskonzepte vernebelt. Es stimmt einfach nicht, daß die deutsche Chemieindustrie mit hungernden Menschen im Trikont übereinstimmende Interessen am Umweltschutz hat und mit ihnen "im selben Boot" sitzt.

Umweltpolitik wird in der Bundestagsfraktion von Rechten wie sogenannten Linken nur noch "dialogorientiert" durchgeführt. Oft genug heißt das Zauberwort "Agenda 21", also Befürwortung von Gentechnik, Atomkraft, Straßenbau und der gleichberechtigten Beteiligung der Wirtschaft an staatlichen Maßnahmen. Da diese Problematik inzwischen fast allen bekannt ist, wurde für das gleiche ein neuer Begriff gefunden: Der Nationale Umweltplan. Ihn soll die Industrie in Zusammenarbeit mit der Bundesregierung festlegen, um ordnungspolitische Regelungen des Staates im Umweltschutz zu verhindern.

Die "Nachhaltigkeit" wurde zwar im wesentlichen vom SPD-nahen Wuppertal-Institut erfunden und propagiert, doch sind in dieser Legislaturperiode die im Bundestag vertretenen SPD-UmweltpolitikerInnen meist fortschrittlicher als die für Umwelt zuständigen GRÜNEN Fraktionsmitglieder: Der Berliner Tagesspiegel vom 28. März 1999 faßt das Problem gut zusammen: "Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion im Bundestag, Michael Müller, hat seine Partei aufgefordert, sich wieder stärker auf die Umweltpolitik zu besinnen." Mit Blick auf Bundeskanzler Gerhard Schröder fügte Müller hinzu: "Wir müssen die Politik vorgeben, und dann mit den Interessengruppen sprechen." In der SPD wird kritisiert, daß Schröder zu stark auf die Wirtschaft eingehe. Die bündnisgrüne Umweltexpertin Michaele Hustedt forderte "Der grüne Umweltminister Jürgen Trittin müsse einen Neuanfang machen. Umweltpolitik gegen die Wirtschaft könne nicht erfolgreich sein."

Der Berliner Landesverband ist nicht besser: Der Satz "Umwelt darf nicht dem Markt überlassen werden" wurde mehrheitlich aus dem Abgeordnetenhauswahlprogramm 1999 gestrichen.

Hauptsache Arbeit

Die Wahlfreiheit für Jugendliche bei Ausbildungsplätzen wird die rot-grüne Bundesregierung nicht aufrechterhalten. Auch hier sind die Mehrheiten innerhalb der GRÜNEN klar: Mit 25:6:1 Stimmen verabschiedete die Bundestagsfraktion am 23. März 1999 diese Position im Papier "Initiative für Investitionen, Arbeit und Umwelt". Quasi als Gegenleistung für die Einführung eines teilsubventionierten Niedriglohnsektors wird Arbeitslosen die Handlungsfreiheit genommen: "Neuen Angeboten für Arbeitslose werden aber auch Pflichten gegenüberstehen, diese Angebote anzunehmen." In die gleiche Richtung gehen geplante Sprüche für Plakate im Europawahlkampf: "Jugend braucht Arbeit, Europa die Jugend." Von "Anders leben - anders arbeiten", wie es die grüne Bewegung früher formulierte, kann keine Rede mehr sein. Nicht nur moralisch verwerflich - weil gegen das Selbstbestimmungsrecht des Individuums gerichtet - sondern auch arbeitsmarktpolitisch unsinnig sind Niedriglohnsektor und Zwangsarbeit. In England haben ähnliche Maßnahmen zu den "working poor" geführt, die Betroffenen haben trotz mehrerer Jobs oft nicht genug Geld für eine ausreichende Gesundheitsversorgung. Die Arbeitslosenquote - deren Heranziehung als Argumentation für solche Positionen eigentlich zynisch ist - ist in England statistikbereinigt noch höher als in der BRD.

Wirtschaft und Finanzen: Os-wald statt -kar

Wenn nach dem Rücktritt von Oskar Lafontaine von GRÜNEN ein Rückgang von "Reibungsverlusten" bejubelt wird, dann zeigt auch dies, daß aalglatte Poilitik wichtiger ist als das Durchsetzen von Inhalten. Wenige Tage später wird von grünen Bundestagsabgeordneten die noch stärkere Senkung von Unternehmenssteuern gefordert. Die Regierung Kohl hat über 16 Jahre hinweg die Unternehmenssteuern gesenkt und war damit bekanntlich erfolglos bei der Schaffung von Arbeitsplätzen. Warum soll dieses Konzept jetzt helfen? Selbst dem in das Bundeswirtschaftsministerium gewechselten Industriemanager Werner Müller geht die Einflußnahme der Wirtschaft zu weit, so seine Äußerung bei der Vorstellung des Jahreswirtschaftsberichtes: "Es ist nicht gut, wenn die Wirtschaft den Anschein erweckt, sie wolle die Bundesregierung vor sich hertreiben."

Kaum etwas muß so sehr als Argumentationsbasis für den Trend zur Mitte herhalten wie die junge Generation. Wenn das hessische Wahlergebnis so interpretiert wird, daß alte Positionen der GRÜNEN für junge Menschen nicht mehr attraktiv sind, dann ist dies eine Verdrehung von Ursache und Wirkung. In Hessen waren die GRÜNEN immerhin acht Jahre in der Regierung vertreten, auf Bundesebene etwa drei Monate. Der hessische Landesverband stellt den Außenminister, der wohl kaum das Problem hat, zu extreme grüne Positionen zu vertreten. Die hessischen Grünen und die Partei generell sind nicht zu radikal, sondern zu staatstragend für die Jugend!

Berlin ist nicht anders.

Aber der Berliner Landesverband ist doch anders als die Bundespartei. Das werden die Berlinerinnen und Berliner gerade im Abgeordnetenhauswahlkampf oft hören, obwohl es nicht mehr stimmt:

Auch vom Berliner Landesverband wird auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens hingearbeitet. Eine Verhandlungsführerin erklärte die erste Niederlage zum Atomausstieg in den Koalitionsverhandlungen: Man könne doch nicht die eigene Meinung "per ordre de mufti" durchsetzen. Sie erklärte das ein halbes Jahr nachdem massive Überschreitungen der Grenzwerte bei CASTOR-Transporten für eine hohe Anti-Atom-Stimmung in der Bevölkerung sorgte. Der gesellschaftliche Konsens bedeutet den GRÜNEN heute nicht ein Einverständnis mit den BürgerInnen, sondern mit den Lobbyverbänden der Wirtschaft.

Im Landesvorstand wären in einigen Punkten Mehrheiten für eine "andere" Politik vorhanden, wenn der Druck zur Mitte, zur diplomatischen und nichtssagenen Politik, nicht so groß wäre. Für eine Verurteilung des NATO-Angriffs auf Jugoslawien wäre - während des Urlaubs des Sprechers - eine Mehrheit vorhanden gewesen, ginge man nach den in persönlichen Gesprächen geäußerten Standpunkten. "Politikmanagement", das unbedingt einheitliche Erscheinungsbild der Partei verhinderte eine solche Erklärung. Alle außer dem Autor dieses Textes stimmten einer diplomatischen Erklärung zu, die den deutschen Angriffskrieg stillschweigend toleriert.

Die GRÜNEN haben sich entfremdet - von sich und von mir

Ich habe mich seit 1990 für ein politisches Zurückdrängen der Umweltverschmutzung von Müllverbrennungsanlagen, Flugzeugen und motorisiertem Individualverkehr eingesetzt. Heute muß ich mitansehen, wie meine Partei die Umweltpolitik den Lobbyverbänden der Großindustrie übergibt.

Ich habe an den Golfkriegsprotesten 1991 teilgenommen, weil ich gegen Krieg als Mittel der Politik bin. Jetzt bin ich Mitglied einer Partei, die nach weniger als 200 Tagen an der Regierung den ersten Angriffskrieg der Bundesrepublik Deutschland befiehlt.

Ich habe mich bei antirassistischen und antifaschistischen Aktivitäten 1992 und 1993 beteiligt, weil ich für gleiche Rechte aller Menschen, egal welcher Staatsangehörigkeit, eintreten will. Heute bin ich in einer Partei, die unnötigerweise auf die doppelte Staatsbürgerschaft verzichtet. (Das Gesetz hätte auch aufgeteilt werden und ohne Bundesratsbeschluß verabschiedet werden können.)

Ich habe 1994 die ersten Aktionen der "neuen" Anti-Atom-Bewegung mitgeplant, weil ich gegen die ökologische und innenpolitische Bedrohung durch die Atomindustrie vorgehen wollte. Heute bin ich Funktionär bei einer Partei, die den Atombossen verspricht, keine Verstopfungsstrategie oder eine andere atomfeindliche Strategie zu benutzen, um ihr Wohlgefallen zu erhalten.

Ich habe etwa ein Dutzend mal selbst beobachet, wie wehrlose Menschen auf Demonstrationen brutale Gewalttätigkeiten der Berliner Polizei erlitten haben. Jetzt erwarten manche, ich würde für eine Partei Wahlkampf machen, die mehr Polizei auf die Straße schicken will.

Grüne Politik ist nicht nur falsch, sondern auch langweilig. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Positionen findet oftmals nicht mehr statt: "Das wird unser neues Magdeburg" - ein Argument gegen jede potentielle GRÜNEN-Forderung, die noch keine Mehrheit in der Mitte der Gesellschaft (z.B. bei den Kirchen - siehe Religionsunterricht in der Schule) hat. Vergessen wird dabei oft, daß es die F.D.P. schon gibt und die GRÜNEN ihre besten Bundestagswahlergebnisse unter dem Bundesvorstand mit Jutta Ditfurth hatten.

Ging es in meinen früheren politischen Zusammenhängen darum, politische Entscheidungen in die Richtung der eigenen Vorstellungen zu beeinflussen, kam mir die Tätigkeit im GRÜNEN-Landesvorstand eher wie ein Gesellschaftsspiel vor: Deine Aufgabe ist es, Deiner Partei möglichst viele Stimmen zu besorgen. Positionen sind egal, Management und Außendarstellung sind alles.

Eine Parteimitgliedschaft ist keine Liebeshochzeit, sondern ein Zweckbündnis. Ich erwarte nicht, daß eine Partei 100% meiner Positionen vertritt. Daß die Sache mit dem "Politikwechsel - nur mit uns." Eine Wahlkampflüge ist, war mir immer klar. Logisch: "Wenn Wahlen was verändern würden, wären sie verboten." Ich hätte mir aber gewünscht, daß eine komplett neue Bundesregierung kleine Schritte in die richtige Richtung gehen würde.

Erkennen muß ich aber, daß sich die Politik der GRÜNEN von ihrem früheren und meinen größtenteils nach wie vor vorhandenen Standpunkten entfremdet hat. Es sind nicht nur andere Ziele, sondern zu meiner Position entgegengesetzte Ziele, die sie vertreten.

Der Traum ist aus

Während meine politischen FreundInnen außerhalb der Partei schon länger nicht mehr verstehen, welche Hoffnungen ich in die grüne Parteipolitik noch setze, reagieren innerhalb der Partei viele anders: Bei jeder Positionsänderung der GRÜNEN wird mir gesagt, daß solche Leute wie ich gerade bei den GRÜNEN bleiben müssen, um gegen den weiteren Mitte-Rechtstrend anzukämpfen.

Es ist nachvollziehbar, wenn Menschen, die schon seit bis zu 20 Jahren am Projekt Alternative Liste - Die GRÜNEN mitarbeiten, eine andere Beziehung zu dieser Partei haben. Da klebt mehr Herzblut dran, vielleicht auch eine andere Wahrnehmung der Ereignisse: "Das kann und darf doch alles gar nicht sein. Wir sind die wahren GRÜNEN, wir sind die Letzten, die aus diesem Projekt austreten und das Feld denen überlassen, die in der F.D.P. besser aufgehoben wären."

Doch die Chancen für einen Umschwung sind nicht gut: Die Hälfte der grünen Mitgliedschaft ist seit 1994 eingetreten und hat zum allergrößten Teil keine Sozialisation in gesellschaftlichen Protestbewegungen erlebt. Viele junge Mitglieder treten heute der Partei bei, weil sie da anfangen wollen, wo Joschka aufhört. Damit sind sie von mir politisch noch weiter entfernt als Joschka selbst, der vermutlich im Hinterkopf noch in kleines bißchen Erinnerung an alte Zeiten und Positionen hat.

Selbst wenn die eher antimilitaristischen Kräfte bei den GRÜNEN einen Teilerfolg auf einem Parteitag durchsetzen würden - die Regierungspolitik läuft weiter. 80 Prozent der Mitglieder der Bundestagsfraktion würden entgegen einem Beschluß des Bundesparteitages die Bundesregierung weiter stützen. Aber selbst ein Beschluß des Bundesparteitages erscheint utopisch: Die Mehrheit der BDK-Delegierten hat das Gefühl, auch ein bißchen mitregieren zu dürfen, wenn Joschka nur einen Meter entfernt an ihnen vorbeiläuft. Mit einer Entscheidung gegen die Koalition wäre diese Illusion dahin. Die Rolle der Linken in den GRÜNEN gleicht sich zunehmend der Rolle der Jusos in der SPD an.

Die historische Aufgabe der GRÜNEN ist erledigt. Den Verelendungsprozeß möchte ich nicht aufhalten. Je schneller die GRÜNEN für Menschen mit einem linken, emanzipatorischen Veränderungsanspruch erledigt sind, desto schneller werden Zeit und Ressourcen für neue politische Projekte frei - ob als Partei oder in einer anderen Organisationsform.

Ich trete ich als Beisitzer im Landesvorstand zurück und aus der Partei Bündnis 90/Die GRÜNEN mit Wirkung zum Montag, 29. März 1999 aus.

Tilman Heller