vom 22.10.1999

Hermann Scheer
Parlamentarier


SCHLEIFEN DIE EIGENEN INSTITUTIONEN
Verfassungsstaat - Ihn zu erhalten, muß das linke Projekt sein

Parteien unterscheiden sich von anderen Organisationen, die sich in Regelungen öffentlicher Angelegenheiten einmischen - Gewerkschaften, Wirtschafts- oder Umweltverbände zum Beispiel - in einem entscheidenden Punkt: Sie treten zur Wahl an und fragen damit nach dem demokratischen Mandat. Ob sie Menschen dazu motivieren, sie zu wählen, hängt davon ab, ob sie den Eindruck vermitteln können, deren Ideen, Werte oder Interessen wirkungsvoll zu vertreten. Besteht dieser Eindruck nur dem Scheine nach, ist es eine Frage der Zeit, bis der Partei das Mandat entzogen wird. Dafür gibt es bekanntlich zwei Möglichkeiten: Einer anderen Partei wird das politische Mandat gegeben oder man beteiligt sich nicht mehr an der Wahl. Solche Abstinenz weist darauf hin, dass immer mehr Menschen nicht wissen, wem sie ein Mandat erteilen könnten. Wird das zum Verhalten der Mehrheit, haben wir einen demokratischen Systemdefekt. Dass zum Beispiel bei der Europawahl nur noch 45 Prozent der Wahlberechtigten zur Wahl gegangen sind, ist eindeutiges Indiz für solche Defekte, die in allen demokratischen Systemen Europas zunehmen. Die meisten Wahlanalytiker starren allerdings auf Prozentergebnisse, nicht auf Wahlbeteiligung. Auch den Parteien ist die nahezu überall dramatisch sinkende Wahlbeteiligung relativ egal, solange es ihre Prozente nicht wesentlich verändert. Erst wenn Wahlenthaltungen überproportional eine Partei treffen - wie gegenwärtig in Deutschland die SPD und auch die Grünen - wird es schmerzlich.

In meinem Buch Zurück zur Politik habe ich im Abschnitt "Die Auflösung des Politischen" die Wahlergebnisse in Europa noch einmal nachgerechnet. Ich fragte, wieviele der jeweils Wahlberechtigten die Parteien tatsächlich gewählt haben. Das Ergebnis ist, beginnend mit den Wahlen der achtziger Jahre, alarmierend. Bei der Europawahl im Juni 1999 haben nur noch 14 Prozent aller Wahlberechtigten die SPD gewählt. In Österreich hatten die Parteien der Großen Koalition schon vor vier Jahren zusammen weniger Wähler, als die SPÖ 1979 noch allein hatte. New Labour unter Tony Blair erreichte bei dem triumphalen Wahlsieg 1997 wesentlich mehr Mandate, aber weniger Wähler als bei der Wahlniederlage fünf Jahre zuvor: die Wahlenthaltung traf überproportional die Konservativen. Als die französische Rechte 1981 gegen die Linke verlor, wurde sie von 30 Prozent aller Franzosen gewählt; als sie 1993 einen Erdrutschsieg landete und über 80 Prozent der Mandate holte, wählten sie nur noch 27 Prozent: die Wahlenthaltung schlug vor allem die Linke, die lediglich 12 Prozent der Wahlberechtigten überzeugte, 1997 war es umgekehrt: die Linke gewann die absolute Mehrheit im Parlament mit 20 Prozent, weil die Rechte knapp darunter blieb.

Dies signalisiert: Der Eindruck, dass es keine Partei mehr bringt und sich alle zunehmend ähneln, verbreitet sich. Zwei Regierungsmodelle kristallisieren sich vor diesem Hintergrund in Europa heraus. Nennen wir es das französische und das österreichische.

Das französische Modell: Nach jeder Parlamentswahl gibt es eine neue Regierungsmehrheit, so wie es in Frankreich seit 1981 regelmäßig geschehen ist. Das österreichische ist das der Großen Koalition: Sie steigt mit 75 oder 80 Prozent für die großen Parteien insgesamt ein. Anschließend verlieren sie von Wahl zu Wahl fünf Prozent, bei gleichzeitig wachsender Wahlenthaltung, bis aus Großen Koalitionen kleine werden. So kann man sich vier oder fünf Legislaturperioden halten: für die persönliche Biographie des noch regierenden Personals reicht das. Für die Zukunft der Parteien und die Zukunftsfähigkeit des politischen Systems reicht es nicht. Was ist also los?

Es gibt keine spezifische existenzielle Krise nur linker Parteien, sondern der Parteiendemokratie insgesamt. Sie trifft prioritär jeweils diejenigen, die gerade regieren, durchzieht aber alle, denn es ist eine Krise der parlamentarischen Demokratie. Schuld der Parteien ist, dass sie diese Krise nicht aufhalten, sondern verstärken, indem sie die schleichende Entmachtung der demokratischen Verfassungsinstitutionen selbst Zug um Zug beschließen. Angeblich, weil internationale und wirtschaftliche Sachzwänge es gebieten. Damit sägen sie an dem einzigen Ast, auf dem sie sitzen können.

Gestaltungsverantwortung wird systematisch weggeworfen:

Schon längst geht es dabei nicht mehr um die Frage von Markt- oder Planwirtschaft. Sogar das elementare Credo marktwirtschaftlicher Ordnung wird ignoriert, demzufolge die vornehmste Aufgabe des Staates darin besteht, Kartelle und Monopole zu verhindern. Heute sind es Regierungen, die den Prozess der Kartell- und Monopolbildung gezielt fördern, zumindest nichts mehr dagegen unternehmen. Fast jede der aktuellen Großfusionen erhielt politische Rückendeckung oder aktive Nachhilfe, weil sie angeblich der internationalen Wettbewerbsfähigkeit diene - ohne noch zu fragen, ob den Gesellschaften damit gedient ist.

So werden Regierungen zu Kolonialverwaltungen transnationaler Unternehmen; Parlamente zu Bestätigungsgremien für das, was angeblich "ohne Alternative" ist; Parteien zu Rechtfertigungsorganisationen dessen, was ohne sie abläuft; Wähler zum Objekt von Entwicklungen, die sie schlucken sollen, selbst wenn es gegen ihre Ideen, Werte, Bedürfnisse, Informationen und Interessen läuft. Deshalb fliehen Parteien in die Personalisierung der Politik und werden auf Personenkult getrimmt. Lichtgestalten werden aufgebaut und deren Alleskönnerschaft inszeniert, je weniger sie selbst zu sagen haben. Dies gilt als Erfolgsrezept für Wahlen, obwohl jedesmal nach knapper Frist der schöne Schein vor der Realität verschwindet. Spitzenkandidaten werden zu Placebo-Gestalten. Je leerer, desto aufwendiger die Verpackungen. Aber gekaufte Verpackungen werden eines Tages geöffnet. Kein Inhalt entgeht dem Los, unverpackt konsumiert werden zu müssen. Die Qualitätskontrolle ist programmiert.

Das Ganze ist längst kein individuelles Problem mehr. Es ist ein Systemproblem: die verhängnisvolle Folge des Schleifens demokratischer Verfassungsinstitutionen und der damit einhergehenden Entparlamentarisierung. Aber der demokratische Verfassungsstaat ist der wichtigste zivilisatorische Fortschritt der Geschichte. Er wird verspielt durch Kompetenzverlust der politischen Institutionen und Kompetenzverzicht der gewählten Akteure. Sie betrachten zunehmend selbst - Niklas Luhmanns Systemtheorie folgend - Regierung und Parlament als ein "Subsystem" neben anderen Subsystemen der Gesellschaft, und zunehmend sogar als nachgeordnetes Subsystem. Dabei wird übersehen, dass es zwei wesentliche Unterschiede gibt: Politische Institutionen sind demokratisch legitimiert, und sie haben als einzige einen allgemeinverbindlichen Gestaltungsauftrag - das gesellschaftliche Gesetzgebungsmonopol! Wird auf dessen Ausfüllung und Ausgestaltung verzichtet - durch Atomkonsensgespräche oder "Bündnisse für Arbeit" statt Gesetzgebung und sonstige Gestaltung in gewählter Verantwortung - , geht die Demokratie zugrunde. Private Machthaber können darauf verzichten, die Gesellschaft als Ganzes nicht. Wirtschaftsliberale Parteien können diese Institutionen schleifen lassen, linke Parteien nicht.

Die Wiederbelebung der parlamentarischen Demokratie ist für deren Existenz lebenswichtig. Sie kann nur geschehen durch Inanspruchnahme des demokratischen Mandats gegen das Diktat vermeintlicher Alternativlosigkeit neoliberaler Prämissen, die religiösen Charakter haben. Man kann sich dieses Mandat so lange zurückholen, wie die demokratische Verfassung nicht offiziell beerdigt ist. Mindestvoraussetzung ist eine gestaltungsbewusste Konfliktbereitschaft gegenüber nicht demokratisch legitimierten Kräften. Die Erhaltung des demokratischen Verfassungsstaats - nicht nur der äußeren Form und dem Scheine nach - ist das zentrale linke Projekt. Gelingt dies nicht, scheitern alle anderen Projekte.