Frankfurter Rundschau
Donnerstag, 07.10.1999.


"Deutschland orientiert sich am falschen Vorbild"

US-amerikanische Wissenschaftler warnen vor Spar- und Deregulierungskurs
Mehr Jobs durch Sozialpolitik

rb FRANKFURT A. M. In einem gemeinsamen Memorandum haben sich 81 amerikanische Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler "besorgt" ueber das Sparpaket der deutschen Regierung geaeussert. Der Versuch, die
Wirtschaft nach dem Muster des angeblichen "amerikanischen Modells" umzubauen und zu deregulieren beruhe auf "Missverstaendnissen" ueber den Kern und die Tragfaehigkeit des amerikanischen Weges. Die "Erklaerung an deutsche Kollegen" wurde initiiert vom renommierten Economic Policy Institute in Washington und dessen Praesidenten Jeff Faux. Zu den Unterzeichnern gehoeren unter anderem James Galbraith, Buchautor und Professor an der Universitaet von Texas, sowie Ray Marshall, Arbeitsstaatssekretaer in der Regierung Carter.

Die Professoren widersprechen der These, Lohnsenkung und Deregulierung vermindere die Arbeitslosigkeit. In den Vereinigten Staaten sei die Beschaeftigung zuletzt am staerksten in Zweigen wie dem Gesundheitswesen gestiegen, in denen der Staat nach wie vor eine grosse Rolle spiele - nicht hingegen im Lkw- und Luftverkehr oder bei den Banken, wo die Wirkungen der Deregulierung am groessten seien. Die Zunahme der Jobs sei zudem einher
gegangen mit einem ueberdurchschnittlichen Anstieg der Niedrigloehne in den USA.

Umgekehrt habe die fruehere Reagan-Aera gezeigt, dass Einschnitte bei den Sozialleistungen und oeffentlichen Investitionen keine Impulse fuer die Beschaeftigung bringe. Die Ungleichheit habe in den USA am meisten in den
siebziger und achtziger Jahren zugenommen, als auch die Arbeitslosigkeit gestiegen sei.

Als wichtigste Quelle des amerikanischen Wachstums der vergangenen Jahre bezeichnen die Wissenschaftler dagegen "eine Politik niedriger Zinsen und reichlichen Kredits" durch die Notenbank Fed. Dies habe sowohl den privaten
Konsum als auch die oeffentlichen Investitionen angekurbelt. "Mittlerweile haben wir allerdings Befuerchtungen hinsichtlich der Tragfaehigkeit" eines solchen kreditfinanzierten Booms.

Im Vergleich zur amerikanischen habe die deutsche Wirtschaft in den zurueckliegenden Zeiten die Produktivitaet deutlich staerker gesteigert und die USA inzwischen im absoluten Produktivitaetsniveau ueberholt. Daher koenne es
nicht verwundern, dass in der Bundesrepublik auch die Realloehne vergleichsweise hoch seien. Auch bei einem Verzicht auf diesen Fortschritt wuerden deutsche Unternehmen "keine zusaetzlichen Arbeitnehmer einstellen, die
sie ansonsten nicht benoetigen."

Deutschland befinde sich heute "im Griff einer Ideologie der freien Maerkte, der Deregulierung und Privatisierung", meinen die US-Experten, "die von hier ausgegangen ist". Aber weil diese Ideologie die Quelle der amerikanischen
Fehlschlaege in den achtziger Jahren, und nicht der juengsten Erfolge war, sei man dabei, sich in den USA umzuorientieren. In diesem Land werde zunehmend erkannt, dass die Regierung eine wesentliche Rolle spiele: "um
Menschen mit niedrigen Einkommen zu helfen, die Alten durch ein starkes System der sozialen Sicherheit zu unterstuetzen, wesentliche Infrastrukturen bereitzustellen, fuer Ausbildung auf allen Ebenen zu sorgen, den Zugang zu
erstklassiger Gesundheitsfuersorge zu erweitern und den Finanzsektor angemessen zu regulieren." Deutschland sollte "diese positiven Zuege der amerikanischen Politik und nicht unsere destruktivste fruehere Phase studieren", raten die Professoren.

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