Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.8.99

Rein in die neue Mitte - oder raus aus der neuen Mitte?

Die Grünen auf der Suche nach ihrem Platz an der Sonne / Von Professor Dr. Jürgen Falter und Kai Arzheimer

Vor kurzem forderte eine Gruppe junger bündnisgrüner Politiker für ihre Partei "eine zweite Chance". Plakativ und mit flotten Formulierungen wandten sich die Unterzeichner des Papeirs an die von ihnen so apostrophierte "zweite Generation" der Grünen, die sich von den Altachtundsechzigern durch einen ganz und gar anderen Politikstil unterscheide. Geradezu kategorisch wird in dem von Jens Kröcher und Mathias Wagner verfassten Papier, das auch grüne Jungstars wie Matthias Berninger, Cem Özdemir und Tarek Al-Wazir unterzeichneten, nicht nur eine grundlegende Erneuerung des Politikstils, sondern nicht weniger als eine programmatische Neuorientierung der Bündnisgrünen verlangt. Neben einem Verzicht auf symbolische Politik, wie sie etwa die Propagierung
dramatischer Benzinpreiserhöhungen oder die Verteufelung von Ferienflügen darstellten, wird in dem inhaltich ansonsten nicht allzu konkret argumentierenden Papier einer Konsolidierung der Steuer- und Finanzpolitik unter Verwendung "marktkonformer" Instrumente und einer familienfreundlicheren Politik das Wort geredet.

Parteiintern fordert das Papier Stärkung der Parteiführung, Professionalisierung der politischen Arbeit, Öffnung der Partei für junge Pragmatiker und grundlegende Abkehr von jeglichem Sektierertum. Zumindest implizit wird damit ein Generationswechsel innerhalb der Partei eingefordert. Die Grünen benötigten nicht länger die Politfolklore der Achtundsechziger-Generation mit ihrer häufig nur symbolisch gemeinten, auf Konflikt um des Konflikts willen angelegten dysfunktionalen Politik. Die Partei müsse vielmehr verantwortungs- und selbtbewusster mit der errungenen Macht umgehen und sich, so die am stärksten Aufsehen eregende Forderung der grünen Jungtürken, innerhalb
des Parteienspektrums dadruch grundlegend neu positionieren, dass sie "das brachliegende Erbe des verantwortungsvollen Liberalismus" aufnehme und "soziale Verantwortung mit freiheitlicher Lebenseinstellung"
verbinde. Anderenfalls katapultiere ssie sich selbst politisch "zunehmend in die Bedeutungslosigkeit".

Wie linke Gegenreformatoren das Profil der Partei zeichnen wollen

Ein linkes Gegenmanifest ließ nicht lange auf sich warten. Unter dem Titel "Raus aus der neuen Mitte" versuchte eine junge Gruppe um den ebenfalls noch sehr jungen Bundestagsabgeordneten Christian Simmert "Wege zu einem klaren grünen Profil" aufzuzeigen. Unter Verweis auf die nach wie vor bestehende "Gerechtigkeitslücke" finden sich in dem Papier vor allem altsozialdemokratische Forderungen wie die nach Wiedereinführung der Vermögensteuer, nach einer Reform (lies wohl: Erhöhung) der Erbschaft- und Schenkungsteuer und nach einer stärkeren finanziellen Beteiligung der Wirtschaft an der Ausbildungsplatzoffensive der Regierung. Außerdem verlangen die Verfasser eine Garantieerklärung für die kostenlose Hochschulbildung und die Einrichtung eines groß angelegten Ausbildungsprogramms. Dass der kategorische Wunsch nach sofortigem Atomausstieg in diesem Katalog nicht fehlen darf, versteht sich beinahe von selbst. In den Augen der sozialliberalen Erneuerer dürfte eine solche - angesichts der finanziellen, rechtlichen und ökologischen Kosten geradezu grotesk wirklichtsfremde - Forderung wohl eher in den Bereich symbolische Politik fallen. Parteipolitisch sehen die linken Gegenreformatoren um Christian Simmert den Platz der Grünen klar links von der Schröder-SPD: "Die Zukunft der Grünen ist die einer pragmatischen Linkspartei", so ihr Fazit, deren Identifikationspunkte "soziale Gerechtigkeit, faire Bildungschancen... und nachhaltiges ökologisches Wirtschaften" seien.

Die beiden Strategiepapiere unterscheiden sich vor allem auf der symbolisch-stilistischen Ebene, doch sind auch programmatische Differenzen unübersehbar. Während die Reformer der "zweiten Generation" eine Neuorientierung der Grünen in Richtung auf eine gleichermaßen ökologisch wie marktwirtschaftlich orientierte sozialliberale Partei der
linken Mitte propagieren, fordern die Gegenreformatoren eine Rückbesinnung auf ökosozialistische Rezepte und Positionen, wie sie auch vom linken Flügel der SPD vertreten werden. Um es plakativ zu formulieren: Kröcher und Wagner möchten am liebsten Schröder rechts überholen und parteipolitisch den von der FDP seit Beginn der achtziger Jahre freigegebenen Platz des sozialen Liberalismus besetzen, während Simmert und seine Mitstreiter die SPD davor bewahren möchten, das Erbe Lafontaines den Schröder'schen und Blair'schen Götzen der Modernisierung und Globalisierung zu opfern.

Für den Wahlforscher werfen beide Entwürfe jenseits seiner eigenen Präferenzen Fragen auf, die nur durch empirische Analyse zu beantworten sind. Generell gilt es zu klären, wie realistisch die von beiden Strategiepapieren offen oder stillschweigend unterstellten Annahmen sind. Dabei stehen zwei Grundfragen im Vordergrund: (a) Wie
wahrscheinlich ist es, dass die bisherigen Wähler der Grünen den vorgeschlagenen Rechts- oder Linksschwenk mittragen? Und (b) gibt es außerhalb der bisherigen Grünen-Wählerschaft im Bereich der linken Mitte tatsächlich ein Potential, das sich durch eine programmatische Neupositionierung der Grünen erschließen ließe? Aus der Sicht der
empirischen Wahlforschung sind beide Strategien nach dem wahrscheinlichen Stimmengewinnen und -verlusten zu beurteilen.

Betrachten wir zunächst die momentane Wählerschaft der Grünen. Die Verfasser des Zweite-Chance-Papier stellen gleich zu Anfang ihres Manifests die Behauptung auf, dass ihre Altersgenossen, also die Neu- und Jungwähler, bei denen die Partei seit ihrer Gründung vor nunmehr 19 Jahren stets weit überdurchschnittliche Erfolge erzielen konnte, sich in Scharen von den Grünen abwendeten. Dies ist auch die Diagnose des "Raus aus der neuen Mitte"-Papiers. Ein Blick auf die Wahlergebnisse und Umfragen gibt beiden Recht. Wann dieser Einbruch genau stattgefunden hat, lässt sich recht genau mit Hilfe der täglich durchgeführten Umfragen des Forsa-Instituts ermitteln: Geradezu dramatisch war der Einbruch der Grünen bei den 18- bis 25jährigen im Frühjahr 1998, als die Debatte um den Benzinpreis, der nach Vorstellung der Magdeburger "Bundesdelegiertenkonferenz" binnen weniger Jahre durch sukzessive Steuererhöhungen auf fünf Mark pro Liter getrieben werden sollte, den Grünen parteiinternen Streit und durchweg negative Schlagzeilen einbrachte. In den Medien wurde der Benzinpreisbeschluss häufig verkürzt dargestellt und als Rückfall in die Zeiten des grünen Fundamentalismus interpretiert. Die Grünen verloren unter den jungen und jüngsten Wählern binnen weniger Wochen nahezu die Hälfte ihrer Klientel. War noch im Februar 1998 die Wahlabsicht zugunsten der Grünen in dieser Gruppe mit knapp 20 Prozent fast doppelt so hoch wie in der übrigen Bevölkerung, so sank sie innerhalb eines einzigen Monats auf nur noch knapp über 10 Prozent, ein Wert, auf dem die Grünen bei den Jung- und Erstwählern das ganze Jahr 1998 über stagnierten. Die Wahlen in Hessen, Bremen und zum
Europäischen Parlament im ersten Halbjahr 1999 belegen deutlich, in welch starkem Maße und vor allem wie nachhaltig die Grünen bei dieser ihr bis dato geradezu selbstverständlich zufallenden Klientel an Sympathien eingebüßt haben. Dass die von den jungen Grünen angeprangerte symbolische Politik der drastischen, für frisch gebackene Autofahrer geradezu prohibitiv wirkenden Benzinpreiserhöhung zu diesem Absturz der Partei in der Jungwählergunst beigetragen hat, erscheint angesichts der Parallelität der Ereignisse als zumindest hoch wahrscheinlich.

Bis in die jüngste Vergangenheit war es den Grünen gelungen, einen erheblichen Teil ihrer langsam alternden Stammwählerschaft aus den achtziger Jahren zu halten und gleichzeitig bis zu einem Viertel der Jung- und Erstwähler für sich zu mobilisieren. Sollte dieser Wählernachschub aus den jüngsten Altersgruppen versiegen, liefen die Grünen Gefahr, zu einem bloßen einmaligen Generationsphänomen zu werden, das irgendwann mit der Trägerkohorte der (Nach-)Apo-Generation untergehen wird.

Seit Beginn der neunziger Jahre ist das Durchschnittsalter der Wähler der Grünen deutlich angestiegen, nämlich von rund 30 auf mittlerweile etwa 40 Jahre. Auch was das äußere Erscheinungsbild, insbesondere der Partei- und Fraktionsführungen in Bund und Ländern angeht, ist das von Russell Dalton und Wilhelm Bürklin geprägte Schlagwort vom "Ergrauen der Grünen" durchaus berechtigt. Dies könnte als Indiz für eine gewisse Reifung oder auch Verbürgerlichung der Grünen gedeutet werden. Für die Verbürgerlichungsthese spricht ferner, dass sich die Schere zwischen dem traditionell sehr hohen Bildungsniveau der Grünen-Wähler - der Anteil der Grünen-Wähler, die mindestens die Fachhochschulreife aufweisen, liegt konstant bei über 40 Prozent - und ihren persönlichen Einkommen in den neunziger Jahren geschlossen hat. Während in den Anfangsjahren die Grünen-Anhänger zuweilen als "akademisches Proletariat" bezeichnet wurden, weil sie als Studenten oder Jungakademiker einen hohen
Bildungsstatus mit einem niedrigen ökonomischen Status kombinierten, liegt ihr persönliches Einkommen, ähnlich wie bei den Wählern der FDP, inzwischen über dem Bevölkerungsdurchschnitt.

Verbürgerlichung wiederum könnte implizieren, dass die Partei potentiell offener für sozialliberale Positionen geworden ist, wie dies vom Zweite-Chance-Papier unterstellt wird. Doch soziale Lage und politische Einstellungen sind nicht zwangsläufig deckungsgleich. Sowohl für die Grünen als Partei als auch für einen großen Teil ihrer Wähler waren in der Vergangenheit feste Überzeugungen, ökopazifistische Glaubensgewissheiten und das gesinnungsethische Engagement für nicht materielle Interesse charakteristisch. Dies hat sich nicht grundlegend geändert. Zwar ist der Anteil so genannter "postmaterialistischer" Wertorientierungen unter den Grünen-Wählern in den neunziger Jahren
erkennbar zurückgegangen. Isoliert betrachtet könnte dieser Trend möglicherweise ebenfalls als Argument für einen Kröcher'schen Neupositionierungsversuch gewertet werden. Da es jedoch unter den Wählern der Grünen nach wie vor signifikant mehr Postmaterialisten als bei allen anderen Parteien gibt und eine postmaterialistische Orientierung erfahrungsgemäß "altgrüne" Positionen begünstigt, wie sie vom Simmert-Papier favorisiert werden, handelt es sich bei dieser Deutung wohl eher um einen Trugschluß. Hinzu kommt, dass sich die Grünen-Wähler, ganz im Sinne der jungen Linken, konstant bis zum heutigen Tage deutlich weiter links einstufen als die Wähler anderer Parteien.

Postmaterialistische Werthaltung und linke Orientierungen schlagen sich auch, wenn es um konkrete politische Streitfragen geht, in den Einstellungen der Wähler nieder. Einwanderungspolitik und Atomkraft stellen für sie Schlüsselthemen dar. Dies gilt in besonderem Maße für die längerfristigen Parteianhänger. Eine starke Identifikation mit der Partei und die Vertretung grüner Herzensanliegengehen bei dieser Gruppe, die etwa 60 Prozent der Grünen-Wähler von 1998 umfasst, Hand in Hand. Die im Sinne des Parteiidentifikationskonzeptes nicht an die Partei
gebundenen Wähler der Grünen vertreten bei durchaus ähnlicher Tendenz im Durchschnitt eine etwas moderatere Position. So befürworteten im Umfeld der vergangenen Bundestagswahl 44 Prozent der parteigebundenen, aber nur
24 Prozent der nicht parteigebundenen Grünen-Wähler eine sofortige Abschaltung der Kernkraftwerke. In der Wählerschaft insgesamt vertraten nur 15 Prozent diese Tabula-rasa-Position. Ganz ähnlich sieht es bei Themen wie der doppelten Staatsbürgerschaft und der Einwanderungspolitik aus. Innerhalb der Grünen-Wählerschaft ist folglich eine von den Inhalten her definierte Mehrheit für eine - und sei es auch moderate - Neuorientierung der Partei in Richtung Sozialliberalismus und mehr Realismus nicht auszumachen. eine derartige Neupositionierung käme wohl
am ehesten den parteipolitisch nicht gebundenen unter den Grünen-Wählern entgegen. Diese stellen jedoch nur knapp 40 Prozent der gesamten Grünen-Wählerschaft. Mit Sicherheit würde ein solches Manöver aber die durch die bisherigen politischen Misserfolge, gerade bei ihren Herzensanliegen "Ausstieg aus der Atomkraft" und "doppelte
Staatsangehörigkeit" ohnehin schon arg gebeutelten grünen Kernanhänger noch weiter verprellen. Dass diese Gruppe eine sozialliberal gewendete grüne Partei weiterhin unterstützen würde, erscheint fraglich. Aus dem Blickwinkel der bisherigen Grünen-Wählerschaft stellt dehalb die vom "Zweite-Chance-Papier" geforderte programmatische Erneuerung und parteipolitische Neupositionierung der Grünen ein äußerst riskantes Unterfangen dar, das den Untergang der Partei zur Folge haben könnte.

Wenn auch bei der eigenen Klientel nur eine Minderheit für eine Neupositionierung ansprechbar erscheint, ließe sich einwenden, so könnte doch ein neues, größeres Wählerpotential für eine inhaltlich und stilistisch zur politischen Mitte hin gewendeten grünen Partei unter den politisch ungebundenen Wählern der linken Mitte und den bisherigen
Nichtwählern finden. Das scheint auch die Hoffnung der Verfasser und Unterzeichner des Manifests der "zweiten Generation" zu sein. Doch wie realistisch ist diese Erwartung? Wir müssen davon ausgehen, dass sich trotz insgesamt schwächer werdender Parteibindungen zumindest in den alten Ländern nach wie vor ein Großteil der Wähler mit einer der politischen Parteien identifiziert. Von diesen vergeben gewöhnlich zwischen 80 und 90 Prozent ihre Stimme entsprechend ihrer langfristigen Präferenz. Bei dieser Gruppe ist folglich kaum Platz für eine neu positionierte grüne Partei. Bei der vergangenen Bundestagswahl haben rund 60 Prozent der parteiungebundenen Wähler für die SPD gestimmt und rund 25 Prozent für eine der beiden Unionsparteien. Tatsächlich ist der enorme SPD-Zuwachs bei dieser Wahl vor allem auf den Zustrom parteiungebundener Wechselwähler zurückzuführen (siehe F.A.Z. vom zwölften Februar 1999, S. 11). Blickt man auf die jüngsten Umfragen, etwa das Juli-Politbarometer der Forschungsgruppe Wahlen, scheinen die meisten der parteiungebundenen Wähler inzwischen wieder zur Union zurückgekehrt zu sein.

Diese nicht durch längerfristige Identifizierung an eine Partei gebundenen Wähler stufen sich selbst zu fast 70 Prozent auf den drei mittleren Skalenpunkten einer elfstufigen Links-Rechts-Skala, also exakt im Zentrum des politischen Spektrums ein. Betrachtet man umgekehrt den Bereich der linken Mitte, so erreichten die Grünen bei der Bundestagswahl 1998 hier bereits einen Anteil von 25 Prozent, das heißt mehr als dreimal so viel wie in der gesamten Wählerschaft. Die SPD brachte es damals sogar auf über 60 Prozent; FDP und Union spielten hier nur eine untergeordnete Rolle. Damit stellten die Wähler der linken Mitte im Herbst des vergangenen Jahres knapp 60 Prozent der Grünen-Wählerschaft. Wo also sollen die neu zu gewinnenden Wähler einer noch weiter zur Mitte verschobenen grünen Partei herkommen? Sollten die Verfasser des Zweite-Generation-Papiers an parteipolitisch ungebundene
Sympathisanten der Grünen gedacht haben, müssen wir sie enttäuschen: Von diesen wählten bereits ein Drittel die Grünen und die restlichen zwei Drittel die SPD.

Dies aber bedeutet, dass es für die Grünen derzeit im Bereich der linken und "mittleren" Mitte nur ein relativ geringes Potential an neu zu gewinnenden Wählern gibt. Die Vorstellung, sozialliberale Wähler der FDP für sich mobilisieren zu können, ist vollends illusorisch, da diese Gruppe längst nicht mehr FDP wählt, sondern sich bereits vor längerer Zeit der SPD oder den Grünen zugewendet hat. Die derzeitigen Wählerschaften der Grünen sind von ihren politischen Einstellungen und Prioritäten her so weit voneinander entfernt, dass der Einbruch einer neu positionierten kosozialliberalen Bewegung in die ohnehin nur sehr spärliche Wählerschaft kaum gelingen kann.

Auch eine Rechtsverschiebung ist mit Risiken behaftet

Auch aus dem Lager der Nichtwähler ist für die Grünen kein großer Zustrom zu erwarten. Die Nichtwähler sind kein monolithischer Block, dessen Unterstützung durch ein bestimmtes politisches Programm gewonnen werden könnte, sondern eine ideologisch heterogene Gruppe. Da die große Mehrheit der Nichtwähler politisch kaum interessiert ist, erscheint es wenig wahrscheinlich, dass sie gerade durch einen Kurswechsel der Grünen angesprochen werden könnten.

Auch aus der zweiten, auf die politisch Ungebundenen außerhalb der Grünen-Wählerschaft abhebenden Perspektive ist folglich der Befund eher negativ. Auch hier gibt es weniger zu gewinnen, als die Verfasser des Zweite-Chance-Papiers sich vorstellen. Bei der propagierten Rechtsverschiebung der Grünen würden diese am ehesten mit der SPD um perteipolitisch ungebundene Wähler der linken Mitte konkurrieren; koalitionspoltiisch mündete dies in einem Nullsummenspiel, wo jeweils des einen Gewinne des anderen Verluste sind. Gleichzeitig sind die Chancen, rechts beziehungswiese der politischen Mitte zugeordnete parteipolitisch Ungebundene für die neue grüne Sache zu werben, denkbar gering, da die Grünen in diesem Bereich nicht nur mit der FDP, sondern vor allem mit den beiden großen Parteien konkurrieren müssten. Insofern erscheint das Manifest der jungen Linken aus der Sicht des Wahlforschers
insgesamt als realistischer als das der jungen Sozialliberalen, auch wenn Letztere im Hinblick auf die Inhalte durchaus näher am Geist der Zeit und näher an den realpolitischen Notwendigkeiten argumentieren.

Wenn es also um die Frage geht, ob die Grünen die FDP der siebziger Jahre beerben können, muss man deshalb zwei unterschiedliche Antworten geben: Eine kühne parteipolitische Neupositionierung im Sinne einer echten inhaltlichen Rechtsverschiebung der Partei verspricht wenig Erfolg, ja, sie ist mit so hohen Risiken behaftet, dass die Grünen daran zerbrechen oder zugrunde gehen könnten. Dagegen erscheint eine Art optischer und stilistischer Erneuerung, verbunden mit dem Versuch, "grüne Grausamkeiten" zu vermeiden, professioneller zu agieren und neue
Politikfelder (Steuern, Finanzen) zu besetzen, aussichtsreicher. Doch auch hier würde das Risiko eines solchen Schrittes eine spezielle Befragung bisheriger und potentieller grüner Wähler nahe legen.

Jürgen Falter ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Mainz,
Kai Arzheimer ist dort wissenschaftlicher Mitarbeiter


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