FAZ-net vom 27.8.01 :
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Interview :
Tischmann: "Grüne müssen sich als linke Partei profilieren"
27. Aug. 2001
Bündnis 90/Die Grünen wollen sich ein neues
Grundsatzprogramm geben. Doch der mühsam erarbeitete Entwurf trifft
auf Widerspruch bei den Linken in der Partei. Im Gespräch mit FAZ.NET
fordert die niedersächsische Grünen-Vorsitzende Heidi Tischmann,
dass die Parteitagsbeschlüsse zum Asylrecht und der Trennung von
Amt und Mandat in den Entwurf aufgenommen werden müssen. Der Entwurf
sei bisher nicht mehr als ein Regierungsprogramm, es fehlte der Blick
in die Zukunft, sagt Tischmann, die zum linken Flügel der Partei
gehört.
Frau Tischmann, gibt es eine
grüne Vision, das Ideal einer zukünftigen Gesellschaft?
Um solche grundsätzlichen Fragen endlich zu klären, brauchen
wir ein Grundsatzprogramm. Das würde uns Grünen ganz gut tun,
gerade in Zeiten in der Regierungsverantwortung.
In welche Richtung sollte diese
Debatte gehen?
Die Grünen sollten sich wieder wie früher für die einsetzen,
die keine Lobby haben: für die sozial Benachteiligten, für
die Zuwanderer, für die Umwelt, für das bedrohte Grün,
für das Klima.
Wie denken Sie über den
Begriff der "Partei der linken Mitte"?
Davon halte ich nichts. Die Grünen müssen nicht in die Mitte.
In der Mitte drängeln sich alle. Ich denke, die Grünen müssen
sich am linken Rand profilieren.
Im Programmentwurf heißt
es, die Grünen bezögen sich auf "linke und wertkonservative
Traditionen und den Rechtsstaatliberalismus". Eigentlich müsste
also jeder Bundesbürger den Grünen beitreten, weil sie das
ganze demokratische Spektrum abdecken?
Man muss natürlich sehen, was dahinter steckt. Wertkonservativ
bin ich zum Teil auch. Ich will nicht alles erneuern, will nicht freie
Fahrt für freie Bürger, will, dass man sich einschränken
muss in seinen Lebensweisen. Ich bin für das Bewahren der Umwelt
und finde auch, dass man dafür eine andere Lebensweise braucht.
Das ist alles etwas Konservatives.
Wozu muss eigentlich ein Grundsatzprogramm
dienen? Muss es Regierungspolitik bestätigen?
Das ist gerade unsere Kritik, dass der jetzige Entwurf im Grunde nur
ein Regierungsprogramm ist. Im Entwurf steht, er soll das wiedergeben,
was Schritt für Schritt verwirklicht werden kann. Dazu muss man
aber kein Parteiprogramm haben. Das ist nichts anderes als eine Regierungserklärung
oder ein Wahlprogramm. Natürlich muss man Schritt für Schritt
nach Lösungen suchen. Nur muss ein grünes Programm das beschreiben,
wohin wir mit diesen kleinen Schritten wollen und was unsere Vorstellung
einer besseren und gerechteren Welt ist.
Aktuelle Fragen der Politik gehören
also nicht in so ein Programm?
Die kleinen nicht. Die großen natürlich schon, etwa der Verbrauch
der Ressourcen. Dass wir die Erde zerstören, ist längst erforscht,
es fehlen nur die Politikentwürfe, die zeigen, wie man dagegen
vorgehen kann. Das möchte ich gerne in dem Programm lesen.
Ist die Debatte um das Grundsatzprogramm
eine Auseinandersetzung zwischen Macht und Ideal?
Ja, das glaube ich schon. Und ich hoffe, dass es uns noch gelingt, in
der kurzen Zeit bis zum Parteitag im November eine konstruktive Diskussion
zu führen. Eine solche Debatte kann uns Grünen nur gut tun,
und auch unseren Wahlergebnissen.
Ersetzt der Programmentwurf nicht
alte Werte der Grünen durch neue, belanglosere, wenn von "ökologisch-sozialer
Marktwirtschaft", "Selbstbestimmung" und "Gerechtigkeit"
geschrieben wird?
Wir sind einmal angetreten mit den Werten sozial, ökologisch, basisdemokratisch,
gewaltfrei. Diese vier Ideale kommen in dem neuen Entwurf gar nicht
mehr vor. Sie kommen aber aus den sozialen Bewegungen, aus denen wir
uns gegründet haben. Deshalb wäre es schon wichtig, sie in
das Programm zu schreiben. Auch sonst fehlt mir vieles, wofür Grüne
einmal gestanden haben. Bei den sozialen Fragen ist schon der Grundtenor
anders. Es geht immer um Freiheit und dass jeder die gleichen Chancen
und Zugänge zu allem hat. Dieser individualistische Akzent ist
mir zu stark.
Nun haben sich die Grünen
in den vergangenen zwanzig Jahren sehr verändert. Ist das eine
Ursache dafür, dass die Grünen immer mehr an den Rand gedrängt
werden?
Die Grünen haben sich verändert, aber schließlich verändert
sich jeder Mensch im Laufe seines Lebens. Die Probleme, die auf uns
als Grüne zukommen, sind ganz andere geworden als vor zwanzig Jahren.
Deswegen ist es auch wichtig, jetzt ein neues Programm zu schreiben.
Wir müssen neue Akzente setzen. Wir dürfen nicht wie die anderen
nur sagen, dass wir immer nur tun, was ist im Moment möglich ist.
Wir müssen auch zeigen, wie wir als Gesellschaft miteinander leben
können, in der Vielfalt, die wir haben: mit Zuwanderern, mit Behinderten,
mit selbstbewussten Frauen.
Braucht es dafür ein neues
Gesellschaftsmodell?
Ja, man muss sich erst darüber verständigen, wie man miteinander
leben kann und will. Wenn wir soweit sind, können wir daraus Schlüsse
ziehen.
Welches Verhältnis haben
Grundwerte und alltägliche Politik?
Gerade das ist unser allerschwierigstes Problem. In der Frage des Kosovokriegs
haben wir beispielsweise unsere Unschuld verloren, was die Durchsetzung
von Grundwerten angeht. Allerdings haben wir damals auch stellvertretend
für die Gesellschaft eine sehr grundsätzliche Debatte geführt.
Was mich aber ärgert, ist, dass sich eine Reihe von ähnlich
grundsätzlichen Parteitagsbeschlüsse nicht im Programmentwurf
wiederfinden: weder die Trennung von Amt und Mandat noch das Grundrecht
auf Asyl. Wenn man einen Entwurf schreibt, dann hat man sich zumindest
an die Parteitagsbeschlüsse zu halten.
Sie sagen auch, dass die sozialen Bewegungen im Programmentwurf nicht
genug bedacht sind.
Das ist der größte Fehler des Entwurfs, weswegen uns auch
die Wählerschaft abhanden kommt, die uns früher gewählt
hat. Man kann die Umweltbewegung, die Anti-Atom-Bewegung, die Globalisierungsgegner
nicht als Feinde betrachten. Diese Bewegungen müssen wir als Grüne
nutzen, als Rückenwind und Stärkung unserer politischen Positionen.
Wir müssen ja nicht immer einer Meinung sein, auch nicht über
den Weg, wie wir Politik machen. Aber wir dürfen nicht so wie Joschka
Fischer die Leute verurteilen, die in Genua demonstriert haben.
Das Gespräch führte Karsten Polke-Majewski
Text: @kpm
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Analyse
Die Linken suchen die grüne Vision
Von Karsten Polke-Majewski
27. Aug. 2001
Die Linke bei Bündnis 90/Die Grünen begehrt
auf. Provoziert vom Entwurf des neuen Grundsatzprogramms der Partei
wettert sie gegen Angepasstheit und übermäßige Kompromissbereitschaft.
Statt sich von den Zwängen der Regierungsverantwortung fesseln
zu lassen, müssten die Grünen sich auf ihre Vision einer besseren
Gesellschaft besinnen, fordert sie.
Vom vergangenen Samstag an wird der Entwurf auf sieben Regionalkonferenzen
diskutiert. Die letzte dieser Konferenzen findet am 13. Oktober in Stuttgart
statt, bevor das Programm auf dem Bundesparteitag im November in Rostock
beschlossen werden soll.
Kritiker vermissen klare Positionen
Mit harscher Kritik leiteten die Landesvorsitzenden von Niedersachsen,
Thüringen und Berlin - Heidi Tischmann, Astrid Rothe und Till Heyer-Stuffer
- und der Sprecher der Grünen Jugend, Werner Graf, die Sitzungsreihe
in der vergangenen Woche ein. Das Papier ähnele eher einer Regierungserklärung
als einem grünen Zukunftsentwurf, schrieben sie in einer Erklärung,
und: "Während die SPD eine Zähmung des weltweiten Kapitalismus
diskutiert, verleugnen die Grünen Teile ihrer eigenen Geschichte
und feiern ihre Ankunft in der Regierung." Die Kritiker vermissen
klare Positionen in dem Programm, zur Gentechnik, zum Grundrecht auf
Asyl, gegen Arbeitszwänge für Sozialhilfeempfänger, für
die Zusammenarbeit mit Globalisierungskritikern.
Nochmals: Fundis gegen Realos?
Tatsächlich scheint der Kampf der alten Lager von linken Fundamentalisten
und liberalen Realpolitikern in der Debatte um das Grundsatzpapier nochmals
aufzuflammen. Nicht hinnehmen wollen die Linken die neue Verortung der
Partei, die der Bundesgeschäftsführer Reinhard Bütikofer
den Grünen mitgeben will. Für ihn hat die Partei in dem Programm
ihren Kurs wiedergefunden. Es sei ein realistischer, ökologischer
Kurs der linken Mitte, sagte Bütikofer bei der Vorstellung des
Entwurfs im Juli in Berlin.
Dem wiederspricht Tischmann vehement. Im Gespräch
mit FAZ.NET sagt sie: "Davon halte ich nichts. Die Grünen
müssen nicht in die Mitte. In der Mitte drängeln sich alle.
Ich denke, die Grünen müssen sich am linken Rand profilieren."
Nicht überall trifft Tischmann mit dieser Position auf offene Ohren.
Thea Dückert, Bundestagsabgeordnete und führendes Mitglied
der Programmkommission, schätzt die Chancen ihrer Partei anders
ein: "Die Grünen müssen mehr Offenheit beweisen. Dafür
darf man sich nicht nur am linken Rand profilieren", sagt Dückert
FAZ.NET. Auch die inhaltliche Kritik von Tischmann, Rothe und Heyer-Stuffer
teilt sie nicht. "Da wird der Eindruck erweckt, als würden
ganze Landesverbände und die ganze Grüne Jugend gegen den
Entwurf stehen. in Wirklichkeit sind es aber nur individuelle Meinungen."
Politik ohne Utopie
Was den linken Parteimitgliedern fehlt, ist vor allem eine Utopie, die
grüne Politik ausmacht. "Die Regierungsbeteiligung hat den
Blick vieler Grüner unnötig verengt", sagte Rothe diesem
Online-Dienst. "Was sich im Programmentwurf findet, ist nicht auf
die Zukunft ausgelegt. Es geht nur noch um das, was in der Regierung
umgesetzt werden kann." Das Tagesgeschäft ersticke jedwede
Vision. Doch ohne solche Ziele hätten die Grünen kaum Chancen,
dauerhaft auf die Beine zu kommen, "zumal im Osten Deutschlands".
Und auch Rothe sieht die Zukunft der Partei nicht in der Mitte des Parteiengefüges.
"Man ist nicht ehrlich, wenn man glaubt, die Grünen könnten
in der Mitte mitschwimmen."
Verlassene Traumwelt
Der Kern des Streits findet sich in den Grundwerten, die der Programmentwurf
formuliert: "Wir verbinden Selbstbestimmung, Ökologie, erweiterte
Gerechtigkeit und lebendige Demokratie. In ihrer Wechselbeziehung machen
diese Begriffe den Kern grüner Vision aus." Doch wo bleiben
die alten "grünen" Grundsätze sozial, ökologisch,
basisdemokratisch, gewaltfrei, fragen die Linken. Bei ihnen wächst
die Sorge, mit einer solchen Umwertung weiteres traditionelles Wählerpotenzial
zu verlieren. Doch auch bei der Parteilinken ist das Bewusstsein gereift,
dass die alten Ideale spätestens seit dem Kosovokrieg und dem Atomkonsens
auslegungsbedürftig geworden sind. "Bütikofer denkt,
dass die Parteibasis noch in einer Traumwelt lebt", sagt Jan Fries,
Vorstandsmitglied der Bremer Grünen und Unterstützer der linken
Kritik. "Natürlich werden wir nur zukunftsfähig, wenn
wir linke Visionen mit realem Pragmatismus verbinden. Aber dennoch müssen
die Grünen eine Partei bleiben, die echten Weitblick zeigt."
Alleinstellungsmerkmal: nachhaltig
Der Streit um die Grundsätze also nur eine abstrakte Debatte um
theoretische Politikformeln? Antje Radcke, ehemals linke Bundessprecherin
ihrer Partei, nun Landessprecherin in Hamburg und Mitglied in der Programmkommission,
will die streitenden Seiten zusammenführen. Die wichtigste Funktion
des neuen Programms sei "eine klare Verortung der Grünen in
der Parteienlandschaft", sagte sie FAZ.NET. "Es muss ganz
klar werden, was uns von den anderen Parteien unterscheidet." Deshalb
lässt sie den Vorwurf nicht gelten, Werte wie Selbstbestimmung
und Gerechtigkeit seien einerseits schon vom bürgerlichen Lager,
andererseits von der SPD besetzt. "Das grüne Profil entsteht
aus dem Zusammenspiel dieser Werte und daraus, dass unsere Politik nachhaltig
sein soll."
Vision für zwanzig Jahre
So nachhaltig wie das Programm. Für zwanzig Jahre soll es ausgelegt
sein. Auch deshalb setzen viele Parteimitglieder große Hoffnungen
in die Debatte. "Im Idealfall wird das Programm so stimmig, dass
es als Grundlage für alle Regierungs- und Politikentscheidungen
dienen kann, im Kommunalen wie auf Bundesebene", sagt Radcke. Die
Mittel, wie die Ziele des Programm zu erreichen sind, will sie aus dem
Papier heraushalten. "Viel zu oft haben wir Mittel zum Dogma erhoben
und darüber die Ziele aus den Augen verloren."
Mit dieser Haltung wird Radcke Zustimmung bei den Entwurfkritikern finden.
Die hoffen darauf, dass auch andere prominente Linke aus Berlin sie
unterstützen. Die allerdings finden vor lauter Regieren kaum Zeit
für anderes. Hans-Christian Ströbele etwa lies mitteilen,
wegen des bevorstehenden Bundeswehr-Einsatzes in Mazedonien keine Zeit
für Programmdiskussionen zu haben.
Text: @kpm
Bildmaterial: dpa