Klaus Zwickel

1. Vorsitzender der IG Metall

Rede auf dem 19. ordentlichen Gewerkschaftstag der IG Metall

am 6. Oktober 1999 in Hamburg

 

 

"Aufbruch ins neue Jahrhundert - mit einer starken IG Metall "

Es gilt das gesprochene Wort!

05.10.99

I.

Kolleginnen und Kollegen,

vor gut 100 Jahren schrieb Jules Verne seinen utopischen Roman

"Die Reise um die Erde in 80 Tagen".

Heute können wir in den 86 Tagen vor Beginn des Jahres 2000 fast 80 mal die Erde umrunden. Darin zeigt sich das gigantische Ausmaß an technischem Fortschritt und Produktivkraftentfaltung, das wir in hundert Jahren erreicht haben.

Die Bilanz des zurückliegenden Jahrhunderts ist mehr als zwiespältig:

Es ist unauslöschlich mit nationalsozialistischer Barbarei und der Ausrottung der Juden verbunden. Es ist das Jahrhundert totalitärer Verführungen, aber auch demokratischer Durchbrüche.

Dieses Jahrhundert sah Aufstieg und Niedergang einer großen Menschheitshoffnung: der kommunistischen Revolution. In ihm hatten nationalistische Abgrenzung, aber auch die europäischen Integration Platz.

Das 20. Jahrhundert ist geprägt von der Rolle der Arbeit und den Erfolgen der Arbeiterbewegung. Dazu gehört der Aufstieg des abhängig beschäftigten Menschen vom Untertan des Kaiserreichs und Lohnsklaven eines Betriebsherren zum gleichberechtigten Staatsbürger und selbstbewussten Arbeitnehmer.

Der Emanzipationskampf der Arbeiterbewegung hat das Leben von Frauen und Männern schrittweise verbessert. Wir haben dafür gesorgt, dass ökonomische Macht und politische Ignoranz auf Gegenkräfte treffen.

Wir waren nicht immer stark genug, unsere Interessen durchzusetzen.

Wir haben auch Fehler gemacht.

In der jüngeren Geschichte waren am bittersten für mich die Vorgänge um die Neue Heimat. Politisches Versagen und menschliche Unzulänglichkeit machen auch vor den Gewerkschaften nicht Halt.

Aber Gewerkschaften haben keine Kriege zu verantworten. Sie haben schon für Demokratie, Gleichberechtigung und Menschenrechte gekämpft, als das Bürgertum noch dem Kaiser zujubelte.

Wir haben für die Würde der Menschen und gegen die Allmacht der Profitmaximierung gestritten. Damit haben wir das Gesicht der Gesellschaft mitgeformt.

Günter Grass hat vor wenigen Wochen unter dem Titel "Mein Jahrhundert" seine Bilanz dieses Jahrhunderts vorgelegt.

Es ist ein beeidruckendes Werk!

Kolleginnen und Kollegen,

Günter Grass gehört zu jenen Schriftstellern, die in den 60iger Jahren in dieser Republik den "Ratten und Schmeißfliegen" zugeordnet wurden.

Diese Zeiten sind - so hoffe ich - für immer vorbei.

Ich freue mich sehr, dass Günter Grass für sein literarisches Werk und sein gesellschaftliches Engagement jetzt den Nobelpreis für Literatur erhalten hat.

Ich werte das auch als späte Genugtuung für frühere Diffamierung.

Herzlichen Glückwunsch an Günter Grass - ich gehe davon aus, auch in Euer aller Namen!

Und ich kann Euch auch mitteilen, dass wir mit Günter Grass am 16. Oktober in unserer Vorstandsverwaltung in Frankfurt

feiern werden!

II.

Kolleginnen und Kollegen,

die Jahrhundertwende stellt sich als spannungsreiche Umbruchphase dar.

Wir sind Zeitzeugen rasanter technischer Veränderungen.

Dafür wenige Beispiele:

Das Mobiltelefon ist binnen fünf Jahren alltäglich geworden: 11,2 Millionen Internet-Nutzer gibt es allein in Deutschland. Der eigene PC, der individuelle Internetzugang und die persönliche e-mail-Adresse sind kein Privileg mehr. Ein Microchip, kleiner als ein Fingernagel, speichert heute mehr Informationen als ein Computer, der vor 15 Jahren noch einen 40-Kubik-Meter-Raum füllte.

Computer haben die Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten radikal verändert.

Sie haben den globalen wirtschaftlichen Wandel ermöglicht.

Dadurch wurden einerseits hunderttausende Arbeitsplätze geschaffen.

Dadurch wurden aber auch der betriebliche Alltag und die Arbeitsbedingungen umgestaltet.

Völlig neue Formen von Produktions- und Arbeitsbeziehungen, von Warenaustausch und Finanzströmen sind entstanden.

Vor allem für die Finanzwirtschaft - den Geldmarkt - gelten längst keine nationalen Grenzen oder Regeln mehr.

Unvorstellbare Geldströme jagen kreuz und quer um den Erdball.

10 Billionen Dollar Tag für Tag.

Spekulationsgeschäfte sind globale Geschäfte und Spekulationsrisiken sind globale Risiken!

Wir könnten ja noch ruhig sein, wenn dieser Casino-Kapitalismus tatsächlich nichts anderes wäre als ein globales, computergestütztes Spielcasino.

Aber der Casino-Kapitalismus betrifft uns alle:

Weil er gegen Arbeitsplätze spekuliert und die reale Wirtschaftsentwicklung sogar konterkariert.

Weil er Volkswirtschaften vernichten und die Weltwirtschaft in Krisen stürzen kann.

Darum ist es gemeinwohlgefährlich, dass die Politik der faktischen Autonomie des Geldes zur Zeit wenig entgegensetzt.

Darum fordern wir, hier endlich politisch zu handeln!

Die Umbrüche, die wir erleben, umfassen schließlich die ganze Gesellschaft.

Die Arbeitsverhältnisse ändern sich.

Stammbelegschaften schrumpfen, sogenannte Randbelegschaften und atypische Beschäftigungsverhältnisse wachsen.

Zirka 7 Millionen Teilzeitbeschäftigte, etwa 4,5 Millionen geringfügige Beschäftigungsverhältnisse, nahezu 600.000 Zeitarbeiter und ein boomender Telearbeitsmarkt.

Die Lebensverhältnisse sind völlig anders geworden.

Das gilt für die Altersstruktur:

1975 lebten mehr als doppelt so viel Menschen unter 25 als über 65 Jahre.

Heute liegt dieses Verhältnis fast bei 1 zu 1!

Und es gilt für die Familiensituation:

Die durchschnittliche Haushaltsgröße lag 1950 bei 3 Personen.

Heute liegt sie noch knapp über 2!

Dahinter verbirgt sich eine Revolution der Lebensformen:

Jeder zweite Haushalt in einer deutschen Großstadt ist ein Single-Haushalt.

Jede zweite Familie hat nur ein Kind. 15 Prozent aller Kinder wachsen bei der Mutter oder - seltener - beim Vater auf.

Das hat natürlich Auswirkungen auf soziale Sicherungssysteme - und nicht nur auf diese.

Es verändert auch die Bedürfnisse z.B. bei den Arbeitszeiten, den Ladenöffnungszeiten, beim Wohnen und vieles andere mehr.

Chancen und Risiken kennzeichnen diese Wandlungsprozesse.

Sie bieten Möglichkeiten, neue Arbeitsplätze zu schaffen, die Lebensqualität zu verbessern und neue Lebensziele zu entwickeln.

Wenn ich mich aber frage:

Wie gehen die Menschen mit diesen Prozessen um?

dann stelle ich vor allem eine große Verunsicherung fest.

Die scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten der Technisierung lösen nicht nur Begeisterung, sondern auch Ängste aus.

Die scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten des freien Marktes haben nicht nur die Güterversorgung verbessert, sondern auch mafiotische Strukturen, Bestechung und Korruption gefördert.

Die scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten des Individuums haben Drogenmissbrauch, Jugendkriminalität und Rassismus begünstigt.

Auf die Fragen:

Wie kann es weitergehen?

Wie gestalten wir die Zukunft?

gibt es kaum tragfähige Antworten.

Gerade angesichts des Wandels und der Unsicherheiten, die er auslöst, gilt aber auch:

Die Menschen wollen neue Orientierungen, sie verlangen nach politischer Gestaltung.

Nicht zuletzt das hat in ganz Europa auch zu politischen Veränderungen geführt.

Kein Mensch hätte vor drei Jahren diese Kette von Regierungswechseln in Europa vorhergesagt.

Ausnahmslos sind die Konservativen oder Neoliberalen abgewählt worden.

Weil die Menschen deren Politik für falsch gehalten haben, weil sie die politische Gestaltung und soziale Gerechtigkeit in der Gegenwart vermisst haben und in Zukunft verwirklicht wissen wollen. Das gilt auch für Deutschland.

Die Wählerinnen und Wähler haben Gerhard Schröder und der SPD zugetraut, den radikalen Wandel in allen Bereichen politisch in diesem Sinne zu gestalten: Innovativ und gerecht zugleich - wie im Wahlkampf versprochen.

Gegenwärtig haben die Sozialdemokraten Stimmverluste. Noch schlimmer wäre der Verlust der Herzen.

Niemand hat von der neuen Regierung kurzfristige Erfolge bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit erwartet.

Aber zumindest, dass die möglichen Instrumente erweitert werden.

Dazu gehört z.B. die Arbeitsumverteilung!

Hier muss ein Programm "Mit 60 raus - Junge rein" verwirklicht werden.

Junge Menschen wissen:

Auch diese Bundesregierung kann fehlende Ausbildungsplätze nicht herbeizaubern.

Sie erwarten aber zumindest, dass das unwürdige Theater um die Ausbildungsverpflichtung der Wirtschaft beendet wird.

"Wer nicht ausbildet, muss zahlen", das muss politisch eingelöst werden.

Damit statt Bittstellung politischer Druck für Ausbildungsplätze gemacht wird.

Niemand hat erwartet, dass die einseitige Vermögensverteilung grundlegend geändert werden kann.

Zumindest aber:

Wenn die Vielen, die wenig haben, beim Sparen herangezogen werden, müssen auch die Wenigen, die viel haben ebenfalls einen Beitrag leisten, z.B. für einen nationalen Innovationsfonds, um damit Forschung und Entwicklung, Umwelt- und Humanprojekte zu fördern.

Ohne solche Pfeile im Köcher gibt es keinen Aufbruch für eine andere Politik!

Die Menschen lehnen es zu Recht ab, "Markt" und "Wettbewerb" zu den Götzen des nächsten Jahrhunderts zu machen.

Sie haben ein feines Gespür und wissen:

"Markt pur" ist sozial blind und ökologisch verantwortungslos.

Sie spüren, der Mensch wird immer mehr zum Kostenfaktor - Lebensqualität bringt keine Dividende.

Sie wollen die Marktwirtschaft, wehren sich aber gegen die Marktgesellschaft.

Das verlangt aber politische Gestaltung und Werte.

In dieser Situation sind auch und gerade wir als Gewerkschaften gefragt.

Wie sieht denn unsere Vorstellung zur Gestaltung der Globalisierung aus?

Wie wollen wir die Informationsgesellschaft denn ausgestalten?

Wie sieht unsere Idee zur Arbeitsgesellschaft des nächsten Jahrhunderts aus?

Und nach wie vor stellt sich die Frage:

Wer beherrscht, wer verfügt über Produktionsmittel?

Kolleginnen und Kollegen!

Ich will unterstreichen:

Wir brauchen neue Antworten angesichts technischer Revolutionen, wirtschaftlicher Umbrüche und gesellschaftlicher Änderungen.

Wir wollen keine Rückkehr in die 60er und 70er Jahre.

Die Vergangenheit zu verklären hilft nicht bei der Gestaltung der Zukunft.

Wir wollen die Modernisierung der Wirtschaft mit einer sozial gerechten Gesellschaft.

Sozialer Fortschritt und individuelle Emanzipation, Entfaltung der kulturellen und geistigen Möglichkeiten der Menschen und Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum: das ist für mich Erneuerung, politischer Aufbruch und zugleich das Spannungsfeld, in dem wir selbst gefordert sind.

Wie schaffen wir es - auch als gestaltende Kraft des Jahrhunderts, das zu Ende geht - den Einstieg in das neue Jahrhundert so, dass es gerecht und sozial gestaltet zugeht?

Diese Frage entscheidet sich weder per Zufall oder Mausklick, noch irgendwann abstrakt in der Zukunft.

Wir werden zur Antwort nur gestaltend beitragen, wenn wir uns nicht auf die Verteidigung des Bestehenden konzentrieren, sondern das Mögliche formulieren.

Wir müssen den Mut zur "Neubenennung des Möglichen" und die Kraft zur Veränderung der Realität miteinander verbinden.

Das ist der Kern der Zukunftsdebatte, die wir führen wollen und müssen, um Tagespolitik mit Visionen zu verbinden, um konkrete Realpolitik mit grundlegenden Reformkonzepten zu verknüpfen.

Wirklich epochale politische Veränderungen, wie z.B. die Entstehung der Europäischen Union, machen deutlich, dass Visionäre die eigentlichen Realisten sind!

Haben wir also Mut zur Vision!

Hüten wir uns aber zugleich vor dem Irrtum, Zukunft wäre exakt planbar.

Zukunftsentwürfe enthalten immer Reales und Visionäres zugleich.

Weil sie einerseits den Gesetzmäßigkeiten von gesellschaftlichen Entwicklungen folgen und andererseits auf Bausteine des "Reiches der Freiheit" setzen.

III.

Ich will Umrisse einer Zukunftsvision benennen, Eckpunkte einer Gesellschaftsreform.

Sie sind für mich beschrieben mit den Begriffen

Wir wollen eine demokratische Zivilgesellschaft.

Sie hat eine politische und ein ökonomische Seite.

Die politische Seite heißt: Krieg ist kein Mittel der Politik.

Die Zivilgesellschaft verlangt aber auch den wirksamen Schutz der Menschenrechte, auch gegenüber einzelnen Staaten.

Es geht nicht an, dass unter dem Deckmantel der Staatssouveränität Regierungen Teile der eigenen Bevölkerung unterdrücken und terrorisieren können.

Es darf aber auch keine selbstherrlichen Entscheidungen regionaler Organisationen und Bündnisse zu militärischer Intervention mehr geben!

An die Stelle des alten Kolonialismus darf kein neuer Menschenrechtsimperialismus treten.

Nicht ökonomische Interessen und politische Willkür dürfen darüber entscheiden, wann und von wem gegen Verletzung von Menschenrechten interveniert wird!

Diese Entscheidung muss bei der UNO liegen.

Darum muss ihre Rolle gestärkt, ihr Gewaltmonopol durchgesetzt werden.

Die ökonomische Seite der Zivilgesellschaft heißt:

Vorrang der Politik gegenüber dem Terror der Ökonomie!

Die Antwort auf den globalen wirtschaftlichen Wandel kann nicht in erster Linie von den Gewerkschaften gegeben werden.

Die Antwort darauf muss von der Politik gefunden werden.

Ihr wisst, ich habe den Rücktritt Oskar Lafontaines heftig kritisiert. Dazu stehe ich.

Viele, die es heute auch tun, haben damals heuchlerisch die Flucht bejammert.

Es nützt nichts, im Herzen links zu bleiben, aber die politische Gestaltung den anderen zu überlassen.

Klar ist aber:

Mit dem Abgang Lafontaines ist das Thema globaler politischer Regulierung nicht von der Tagesordnung deutscher und internationaler Politik verschwunden.

Nicht fragwürdige Modernisierungskonzepte, sondern dieses Thema muss auf die Tagesordnung, wenn sich Schröder, Blair, d'Alema, Jospin und Clinton

Ende November in Rom treffen!

Die Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände fordere ich auf:

Hört endlich auf, Globalisierung zum Druck auf Betriebsräte und zur Erpressung von Belegschaften zu missbrauchen!

Tretet gemeinsam mit uns für internationale Regulierung und den Ausbau globaler Mindestbedingungen ein.

Das wäre eine moderne Kooperation, die keinem einzigen Unternehmen seine Gewinnchancen beschneidet, aber auch allen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Vorteile bringt.

Die Ideologen des freien Marktes halten es für selbstverständlich, Computerschnittstellen, Internet-Protokolle, computergestützten Aktienhandel und TV-Standards global zu harmonisieren.

Sie setzen aber alles daran, jeden Ansatz der Harmonisierung von Sozial-, Arbeits- und Umweltbedingungen als Ausgeburt von Rückschritt und Betondenken zu diffamieren.

Ohne Zweifel:

Der Schutz ausländischer Investitionen in jedem Land und die Garantie von Rechts- und Vertragssicherheit in der globalen Wirtschaft sind wichtig.

Aber der Schutz der Gesundheit, das Verbot der Kinderarbeit, die Absage an Zwangs- und Sklavenarbeit und der Schutz der Umwelt in einer humanen Weltgesellschaft sind tausendmal wichtiger.

Die internationale Gewerkschaftsbewegung muss hier Zeichen setzen.

Wir unterstützen die Bewegung unserer Bekleidungs- und Textilinternationalen für "Saubere Kleidung".

"Saubere Kleidung" heißt in diesem Falle:

Bekleidung und Textilien dürfen nicht durch Kinder- und Sklavenarbeit hergestellt werden!

Von gleicher Bedeutung ist die Forderung der Holzarbeiter, die sich gegen die Vernichtung des Regenwaldes und den Raubbau an Tropenhölzern zur Wehr setzen.

Unsere Vision lautet:

Das 21. Jahrhundert muss das Jahrhundert neuer globaler Spielregeln werden, für die Angleichung der Arbeits- und Lebensbedingungen, für die Durchsetzung sozialer und ökologischer Mindeststandards, für die Überwindung von Lohn-, Sozial- und Umweltdumping!

Ich habe als zweites Leitbild die innovative Informationsgesellschaft genannt.

Sie wird nicht dadurch erreicht, dass man Bill Gates als Papst des Medienzeitalters zu Veranstaltungen einlädt und Microsoft alle Wege ebnet.

Hier ist ein Monopol entstanden, das seinesgleichen in der Geschichte sucht!

Die Wissens- und Informationsgesellschaft verlangt, dass an Bildung und Qualifizierung nicht gespart, sondern dafür öffentlich und privat investiert wird.

Der Zustand unserer Schulen und Hochschulen ist zum Teil katastrophal.

Ich weiß, es gibt immer ein Bündel von Ursachen.

Es ist aussichtslos, auf Dauer beim Lebensstandard im Welt-Spitzentrio zu bleiben, aber bei der Mathematik auf Platz 22 zu liegen.

Sozialdemokratische Bildungspolitik, dies stand einmal für höhere Bildungsqualität und mehr Chancengleichheit.

Davon ist heute nur noch wenig zu spüren.

Dafür einige Beispiele:

Die Diskussion um die Gesamtschule ist nahezu völlig eingeschlafen.

Oder:

Warum gibt es bis heute kein breites Angebot an Ganztagsschulen?

Fehlende Ganztagsbetreuung in Kindergärten und Schulen ist das größte Hindernis für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, für eine partnerschaftliche Arbeitsteilung und für eine höhere Frauenerwerbsquote.

Auch nach dem Regierungswechsel fehlt bislang eine Initiative, die lebenslange Aus- und Weiterbildung systematisch zur vierten Säule unseres Bildungssystems auszubauen.

Mit unserem eigenen Versuch, mittels Qualifizierungstarifverträgen weiterzukommen, sind wir nach dem Vorstoß in Nordwürttemberg-Nordbaden vor 15 Jahren bis heute wegen des Widerstands der Arbeitgeberverbände steckengeblieben.

Qualifizierungsansprüche und -angebote werden aber die Dynamik der Wirtschaft und die Optimierung der Arbeitsproduktivität ganz besonders bestimmen.

Hier kann ich mir auch erste grenzüberschreitende Tariflösungen vorstellen.

Mit dem technischen Fortschritt geht ein größer werdender Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften Hand in Hand.

Beschäftigung im unteren Einkommenssektor geht zurück.

Darum ist die richtige Strategie für ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland:

Qualifizierte Arbeit in Produktion und Dienstleistung muss ausgebaut werden!

Für Geringqualifizierte sind Qualifizierungs- und Beschäftigungsbrücken zum ersten Arbeitsmarkt zu schlagen.

Hier sind wir für Modellversuche und neue Wege offen.

Für die Phasen der Umstellung und des Übergangs ist ein stabiles Netz sozialer Sicherungen aufrecht zu erhalten.

Der Weg in die Wissensgesellschaft der Zukunft kann keine Absage an den Sozialstaat sein.

Dieser Weg ist nur auf seiner Grundlage erfolgreich zu beschreiten.

Ralf Dahrendorf hat vor gut 30 Jahren das Recht auf Bildung auch aus dem Grundgesetz abgeleitet.

Hier ist auch staatliche Fürsorge und gesellschaftliche Verantwortung gefragt.

Es ist deshalb falsch, nur dem Einzelnen die Verantwortung für seine berufliche Verwendbarkeit und seine Beschäftigungsfähigkeit zuzumuten.

Es liegt nach wie vor in der Verantwortung des Staates und der Unternehmen, Angebote für lebenslange Bildung und Bildungsförderung zu schaffen.

Aber es liegt auch in der Verantwortung des Einzelnen, diese Angebote anzunehmen und damit seinen Teil zum Gelingen des Strukturwandels beizutragen.

Die Gemeinschaft zu fordern und der Gemeinschaft zu geben, sind zwei Seiten ein und derselben Medaille.

Ich nenne als drittes Leitbild die solidarische Arbeitsgesellschaft.

Es zielt auch im nächsten Jahrhundert auf Vollbeschäftigung und sozialstaatliche Verfassung.

Arbeitsgesellschaft und Sozialstaat bleiben dem Wandel unterworfen.

Der Diskurs darüber lohnt, ihn müssen wir führen:

Wie sieht ihre Zukunft aus?

Ich halte nichts von dem Geschwätz über das Ende der Arbeitsgesellschaft und von vorschnellen Aussagen über die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses.

Der Gestaltungsauftrag lautet: Die Zukunft der Arbeit vorstellbar zu machen.

Daraus ergibt sich auch die Antwort für die Attraktivität der Gewerkschaften.

Die Arbeitsgesellschaft der Zukunft muss allen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern dreierlei ermöglichen:

Erwerbsarbeit und Qualifizierung, Familien- und Freizeitleben sowie gesellschaftliches Engagement. Mit unterschiedlichen Schwerpunkten in verschiedenen Lebensphasen.

Damit wird eine größere Vielfalt neuer Arbeitsformen und neuer Arbeitsverhältnisse verbunden sein.

Der Wandel des Normalarbeitsverhältnisses, aber auch Teilzeit und befristete Beschäftigung, Teleheimarbeit und arbeitnehmerähnliche Selbstständigkeit, Leih- und Zeitarbeit zu gestalten: das ist unsere Aufgabe.

Wir haben uns z.B. vorgenommen, vernünftige Bedingungen für Leih- und Zeitarbeit durchsetzen.

Die Tarifverträge mit ADECCO in Niedersachsen und START in Nordrhein-Westfalen sind erste Schritte.

Ich plädiere für ein gewerkschaftliches Gütesiegel für Zeitarbeitsfirmen, die soziale Mindeststandards, unbefristete Beschäftigung und angemessene Tariflöhne akzeptieren.

Dies ist zugleich die Ansage, dass wir schwarze Schafe auch in Zukunft strikt bekämpfen.

Kolleginnen und Kollegen,

einen Königsweg zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit gibt es nicht.

Es gibt aber ein wirksames Strategiebündel mit folgenden Eckpunkten:

Wir brauchen Wachstum durch Produkt- und Prozessinnovation.

Mit neuen Produkten und Dienstleistungen entstehen beschäftigungspolitische Chancen.

Ein wichtiger Weg zu mehr Arbeitsplätzen und zu mehr Umweltqualität ist die konsequente Umsetzung einer ökologischen Reformstrategie.

Darüber gibt es viel Skepsis.

Auch in den Gewerkschaften und bei Betriebsräten.

Befürchtet werden der Abbau von Arbeitsplätzen und die Verteuerung von Konsumgütern.

Gezielte Propaganda schürt diese Ängste.

Und nicht zuletzt ahnt man, dass ökologischer Umbau auch Verhaltensänderung verlangt.

Andere Konsum- und Lebensgewohnheiten. Das fällt immer besonder schwer. Auch mir.

Diese Ängste müssen wir ernst nehmen.

Ängste werden aber nur dadurch abgebaut, wenn zumindest einige Eckpunkte für den ökologischen Umbau benannt werden.

Wir brauchen in Zukunft ein System der Indikatoren, aus denen der gesellschaftliche Nutzen und Schaden von Produktion und Konsum hervorgeht. Das ist bisher unzureichend entwickelt.

Wir brauchen eine Koppelung des Energie- und Rohstoffverbrauchs mit dem Preissystem. Dass dies schrittweise geschehen muss, versteht sich von selbst.

Der ökologische Umbau muss auch bessere Arbeitsbedingungen ebenso wie den Erhalt der Gesundheit umfassen.

Letztlich geht es also um die schwierige Frage:

Wie viele Waren, wie viele Dienstleistungen brauchen wir zum Leben?

Was ist notwendig, um glücklich zu sein?

Was tun wir, um denen, die nach uns kommen, nicht nur viele Schrotthalden und wenige Naturschutzgebiete zu hinterlassen?

Kolleginnen und Kollegen,

auch im nächsten Jahrhundert muss der industrielle Kern der Beschäftigung in Deutschland gesichert werden.

Wir haben einen Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft, auch im Umfeld industrieller Produktion.

Er bedeutet aber weder die Abkehr von der Industriegesellschaft noch die Hinwendung zu millionenfacher Niedriglohnbeschäftigung.

Gerade im Bereich der Metall- und Elektroindustrie gab und gibt es mannigfache Dienstleistungen qualifizierter Art.

Und eine moderne Gesellschaft braucht auch in den Bereichen von Gesundheit und Pflege, von Bildung und Erziehung, von Sport und Freizeit qualifizierte Arbeitsplätze und nicht stumpfsinnige und nervtötende Billigjobs.

Wir sind dafür, den Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft vernünftig zu gestalten.

Gegen den Marsch in die Dienstbotengesellschaft werden wir uns aber entschieden wehren.

Ein zweiter Punkt ist unverzichtbar für eine solidarische Entwicklung der Arbeitsgesellschaft:

Arbeitsumverteilung und Arbeitszeitverkürzung.

Arbeitszeitverkürzung ist keine Verwaltung des Mangels.

Sie ist eine Verteilung gesellschaftlichen Reichtums, des Wachstums an Produktivität, zu dem Menschen in unterschiedlicher Weise beitragen:

Als Erfinderinnen und Entwickler, als Ingenieurinnen und Konstrukteure, als Arbeitsvorbereiter und Arbeitsplaner und - vor allem - als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Produktion, Verwaltung und Dienstleistung, aber genauso durch Haus- und Familienarbeit, durch Kindererziehung und Altenpflege.

Es ist gesellschaftlicher Fortschritt, wenn wir immer weniger Zeit dafür investieren müssen, die bezahlten Güter und Dienstleistungen herzustellen und zu verteilen.

John Maynard Keynes hatte schon 1935 die Vision der 18-Stunden-Woche, und Robert Bosch postulierte 1928 immerhin den 6-Stunden-Tag.

Arbeitszeitverkürzung allein kann das Problem der Massenarbeitslosigkeit nicht lösen.

Da haben wir nie Illusionen aufkommen lassen.

Aber die Ausblendung der Arbeitszeitverkürzung ist eine gesellschafts- und beschäftigungspolitische Katastrophe, weil sie entweder zu steigender Arbeitslosigkeit oder zu unfreiwilliger Unterbeschäftigung führt!

Wir wollen weder das eine noch das andere.

Das dritte Strategieelement zur Verringerung der Arbeitslosigkeit ist öffentlich geförderte Beschäftigung.

Wir wollen keinen dauerhaften dritten oder vierten Sektor, der sich neben dem ersten Arbeitsmarkt und den öffentlichen Diensten etabliert.

Ich sehe hier aber gerade angesichts des wirtschaftlichen Strukturwandels einen wachsenden Bereich, der vor allem folgende Funktionen ausübt.

Der wirtschaftliche Strukturwandel und der flexible Arbeitseinsatz drohen immer öfter, zu temporärer Arbeitslosigkeit zu führen. Dies muss für organisierte Qualifizierung genutzt werden.

In öffentlich-privater Partnerschaft können Aufgaben erledigt werden, die gesellschaftlich wichtig und nützlich sind, aber rein privatwirtschaftlich nicht unbedingt profitabel. Ich denke an Umwelt und Gesundheit, an Bildung und soziale Dienste.

Und nicht zuletzt geht es darum, jenen Arbeitslosen dauerhaft eine Chance zu geben, die aus Altersgründen oder wegen gesundheitlicher Beeinträchtigungen kaum mehr Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt bekommen und oft auch keine mehr suchen. Das ist fast eine Million Menschen!

Das Angebot und auch die öffentliche Unterstützung sinnvoller Beschäftigung ist für diese Betroffenen und für die Gesellschaft allemal besser, als bezahlte Arbeitslosigkeit und steigende Sozialhilfekosten.

Kolleginnen und Kollegen,

die Zukunft der Arbeitsgesellschaft und des Sozialstaates stehen in einem engen Zusammenhang.

Die Überwindung der Massenarbeitslosigkeit ist auch der entscheidende Beitrag, um den Sozialstaat zukunftsfest zu machen.

Soziale Sicherungssysteme, paritätisch finanziert und auf ausreichende Versorgung angelegt, sind und bleiben Eckpfeiler des Sozialstaats!

Trotzdem müssen wir uns der Frage stellen:

Sind mit der Überwindung der Massenarbeitslosigkeit wirklich alle Probleme der sozialen Sicherungssysteme gelöst?

Nein, alleine damit nicht, z.B. bei der Rente.

Denn mit der Zahl der Einzahler wächst auch die Zahl der Anspruchsberechtigten.

Und die Veränderung des Altersaufbaus unserer Bevölkerung lässt sich nicht wegdiskutieren.

Zu Zeiten Bismarcks lag die durchschnittliche Lebenserwartung zwei Jahre unter dem gesetzlichen Rentenalter. Heute liegt sie fast zwanzig Jahre darüber.

Es gehört zur Aufrichtigkeit und hilft dazu, Denkblockaden zu überwinden,

wenn wir feststellen:

Soziale Sicherungssysteme haben in einer Gesellschaft, die insgesamt zweifellos reicher geworden ist - gerade auch dank unserer Tarifpolitik - eine andere Funktion als vor 50 oder vor 100 Jahren.

Diese Debatte gilt es, nicht anderen zu überlassen, sondern selbst offensiv zu führen, um ihre Richtung zu beeinflussen.

Aus meiner Sicht müssen wir - auch in den eigenen Reihen - über den Doppelcharakter von Solidarität diskutieren.

Solidarität stellt zunächst Anforderungen an die Gesellschaft, an den Staat:

Für den Einzelnen ist die Vorsorge und Sicherung im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Pflege und Alter zu organisieren.

Solidarität stellt aber auch Anforderungen an den Einzelnen in einer solidarischen Gesellschaft:

Es geht nicht nur um die Frage:

Was tut die Gesellschaft für den Einzelnen?

Jeder muss sich auch fragen:

Durch welches Verhalten kann ich die Solidargemeinschaft entlasten?

In dem Sinn ist zum Beispiel gesundheitsgerechtes Verhalten erwünscht und in der Krankenversicherung auch entsprechend zu fördern.

Und hier steht die Frage, wie Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe so ausgestaltet werden können, dass sie möglichst rasch zur Wiederaufnahme zumutbarer Arbeit führen.

Wir müssen Ideen, Vorschläge entwickeln wie zur Sicherung des Lebensstandards im Alter auch stärker betriebliche oder individuelle Altersvorsorge beitragen können.

Tun wir das nicht, können sich junge Menschen mit unseren Alternativen gar nicht beschäftigen. Sie kennen dann nur das Angebot der privaten Versicherungswirtschaft und werden sich dafür entscheiden.

Die Sicherung des Lebensstandards im Alter wird für jüngere Menschen immer stärker zu einer Kernfrage ihrer individuellen Arbeits- und Lebensperspektive.

Damit geht es zugleich um einen wichtigen Schlüssel für die Attraktivität nicht nur der Parteien, sondern auch der Gewerkschaften.

Kolleginnen und Kollegen,

die Vertretung der Belegschaften muss auch in der Arbeitsgesellschaft der Zukunft, bei geänderten Unternehmens- und Betriebsstrukturen gewährleistet sein.

Darum gehören die Reform der Betriebsverfassung und die Sicherung der Mitbestimmung in diesen Zusammenhang.

Betriebe werden kleiner, Aufspaltung und Ausgliederung schreiten voran, Neugründungen sind fast ausschließlich Klein- und Kleinstbetriebe.

Ein modernes Betriebsverfassungsgesetz muss es einfacher möglich machen, in diesen Betrieben zu Strukturen der Interessenvertretung zu kommen.

Wenn zum Beispiel der virtuelle Betrieb mit immer mehr Teleheimarbeitsplätzen Zukunft hat, dann muss der Arbeitnehmerbegriff der Betriebsverfassung erweitert werden.

Wenn eine größere Zahl rechtlich selbständiger Klein- und Mittelbetriebe in einem Wertschöpfungszusammenhang stehen, dann gehört eine betriebsübergreifende Interessenvertretung ins Gesetz.

Neue Technik und Arbeitsorganisation verlangen, die Mitbestimmungsrechte auszuweiten!

Status quo der Betriebsverfassung ist angesichts des Wandels der Strukturen schlicht und einfach Verschlechterung.

Das höhlt die betriebliche Mitbestimmung aus und erschwert die Gewerkschaftsarbeit.

Reform heißt hier: Auch in Zukunft organisierte Interessenvertretung ermöglichen.

Geld kostet die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes nicht.

Allerdings Mut und Klarheit vonseiten der Bundesregierung!

Kolleginnen und Kollegen,

Die Tarifautonomie ist für uns ein Eckpfeiler der Arbeitsgesellschaft auch für die Zukunft.

Weder staatliche Lohnpolitik noch betriebliche Atomisierung sind geeignet, das erfolgreiche Modell des Flächentarifvertrages abzulösen.

Für uns steht die Reform des Flächentarifvertrages nachweislich seit einem Jahrzehnt auf der Tagesordnung.

Mit "Tarifreform 2000" wollten wir den Dialog und die Verhandlungen zur Reform der Inhalte und der Strukturen der Flächentarifverträge beginnen.

Die Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektroindustrie haben dies damals verweigert und tun es zum Teil auch heute noch.

Natürlich kann Reform nicht bedeuten, betrieblich die Löhne senken und die Arbeitszeiten verlängern zu können und mit Betriebsräten statt mit Gewerkschaften als Vertragspartner die Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen regeln zu wollen.

Das ist keine "neue Partnerschaft", sondern alte Unternehmermacht!

Dies wäre keine Reform, sondern zielt ab auf die Abschaffung des Flächentarifvertrages und die Aushebelung der Tarifautonomie!

Reform heißt für uns, Inhalte neu zu regeln:

Gemeinsame Entgeltstrukturen für alle Beschäftigten, neue Entlohnungsgrundsätze über das Verhältnis von Arbeitsleistung und Entgelt, Gestaltung der Arbeitsorganisation und Arbeitszeitregelungen, die die Dauer der Arbeitszeit nicht verlängern, aber ihre Verteilung flexibel gestalten.

Wir wollen die Standards unserer Flächentarifverträge in der Metall- und Elektro-, in der Textil- und Bekleidungs- und Holzindustrie halten.

Aber wir müssen uns auch der Aufgabe stellen, die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen in den expandierenden industrienahen Dienstleistungsbereichen zu gestalten.

Ich weiß nicht, zu welchen Lösungen wir kommen werden. Aber eines ist mir klar:

In den industrienahen Finanz- und EDV-Dienstleistungen, im Kommunikations- und Telekommunikationsbereich müssen wir für Neues offen sein:

Für andere tarifliche Gestaltung von Eingruppierung und Entlohnung, von Zielvereinbarungen und Vorgesetztenbeurteilung, von Projekt- und Qualifizierungszeiten, von betrieblicher Erfolgs- und Gewinnbeteiligung.

Ich habe hier einen sehr einfachen und klaren Maßstab:

Mit einem Tarifvertrag der IG Metall muss es aus der Sicht der Betroffenen bessere und besser gesicherte Arbeits- und Entlohnungsbedingungen geben als ohne Tarifvertrag.

Oder mit anderen Worten:

Mit einem Tarifvertrag müssen die Einkommen höher, die Arbeitszeiten kürzer, die Beteiligungsrechte der Menschen größer sein als ohne Tarifvertrag.

Ob wir damit in jedem Fall und im ersten Schritt immer die 35-Stunden-Woche oder unsere Vorstellung vom Standardentgelt erreichen, lasse ich dahingestellt.

Die Zukunft des Flächentarifvertrags wird uns die Aufgabe stellen, die Differenzierungsangebote zu erweitern, Branchenergänzungen zu suchen.

Strategisch von Bedeutung ist aus meiner Sicht, dass die IG Metall diese Differenzierungsangebote abschließend in den Tarifverträgen gestaltet und Entscheidungen nicht in die Betriebe verlagert werden.

IV.

Kolleginnen und Kollegen,

wir werden Industriegesellschaft bleiben, aber immer mehr Dienstleistungsgesellschaft werden.

Wir wollen Industriegewerkschaft bleiben und zugleich mehr Dienstleistungsgewerkschaft werden.

Beschäftigung in unserem Organisationsbereich war immer schon zu einem hohen Prozentsatz Dienstleistung in Handwerk und Montage, bei Wartung und Kundendienst!

Unser künftiges Organisationspotential liegt immer stärker in den industriellen und industrienahen Dienstleistungen.

Natürlich müssen wir darauf achten, dass wir in den Bereichen, in denen wir traditionell gut verankert sind, den Organisationsgrad halten und womöglich steigern - in den Kernbereichen der Eisen- und Stahlindustrie, der Metall- und Elektroindustrie, im Textil- und Bekleidungsbereich sowie in der Holzindustrie.

Aber genauso wichtig ist, dass wir uns in den industrienahen Dienstleistungsbereichen besser verankern.

Analysen der metallindustriellen Entwicklung für die nächsten Jahre zeigen:

Die Zahl der Beschäftigten insgesamt wird zurückgehen.

Und es zeichnet sich eine deutliche Verschiebung ab - weg von den industriellen Kernbereichen, hin zu den industriellen und industrienahen Dienstleistungen.

Wir alle wissen über den höchst unterschiedlichen Organisationsgrad in diesen Bereichen Bescheid!

Den Wandel in der Beschäftigtenstruktur auch in unserer Mitgliederstruktur nachzuvollziehen - das ist die organisationspolitische Schlüsselaufgabe der nächsten Jahre!

Die Lösung dieser Aufgabe entscheidet in hohem Maße über unsere Zukunft.

In unserer Organisationspolitik geht es auch darum, dass wir in Klein- und Mittelbetrieben stärker werden.

Für den Metallbereich gilt:

80 Prozent der Mitgliedsbetriebe der Arbeitgeberverbände haben weniger als 200 Beschäftigte.

Natürlich ist bis heute nach wie vor die große Zahl der Beschäftigten in den restlichen 20 Prozent, aber mit deutlich abnehmender Tendenz.

In den Organisationsbereichen von GTB und GHK gibt es fast nur Klein- und Mittelbetriebe!

Eine wichtige Rolle spielt auch das Handwerk.

Hierbei gilt besonders:

Es darf die große IG Metall nicht als Bedrohung empfinden, sondern muss sie als Helfer erfahren.

Wir haben in der Metallwirtschaft eine lange Tradition handwerksspezifischer Tarifpolitik.

Wir führen im Textil- und Bekleidungsbereich branchenspezifische Tarifpolitik fort.

Und wir werden auch die besonderen Belange des Holz- und Kunststoffbereichs, das Tischlerhandwerk eingeschlossen, weiterhin berücksichtigen.

Darauf kann sich das Handwerk verlassen!

Kolleginnen und Kollegen,

mit diesem Gewerkschaftstag schließen wir formell das Organisations-Entwicklungs-Projekt ab.

Der Organisations-Entwicklungs-Prozess darf nicht zu Ende sein!

Viele Entwicklungen und Ergebnisse des OE-Projektes waren umstritten.

Viele sinnvolle Erfahrungen, zukunftsträchtige Initiativen, attraktive Ideen sind aber noch keineswegs auf breiter Basis umgesetzt.

Dazu einige Feststellungen und Fragen:

Die Arbeit des Vorstandes ist noch keineswegs so organisiert, dass sie von den Verwaltungsstellen immer als rasche Hilfe, qualifizierte Dienstleistung und sinnvolle Orientierung erfahren wird. Das müssen wir gezielt verbessern.

Der Organisationsbericht liegt allen Verwaltungsstellen als qualifizierte Arbeitsgrundlage vor. Jede Verwaltungsstelle muss sich ein Mitgliederentwicklungsziel geben, sich vornehmen, die Zahl der Betriebe mit Betriebsräten, mit Jugend- und Ausbildungsvertretungen um einen realistischen Prozentsatz zu steigern.

Wir sind allen Gerüchten zum Trotz eben keine zentralistische Organisation, wo solche Vorgaben von oben gemacht und nach unten durchgestellt werden.

Um so mehr ist die Verantwortung und Initiative jeder einzelnen Verwaltungsstelle, jedes einzelnen Vertrauenskörpers gefragt.

Wir wollen eine Vielfalt von Wegen.

Aber wir haben auch ein klares Ziel:

Handlungsstark zu bleiben und mitgliederstärker zu werden.

Kolleginnen und Kollegen,

vor vier Jahren habe ich über die Veränderung der Gewerkschaftslandschaft, über die Entwicklung hin zu fünf großen Gewerkschaften gesprochen.

Der Prozeß ging noch schneller, als ich damals dachte.

Ich freue mich, dass die Integration der GTB gelungen und die der GHK auf bestem Wege ist.

Ich begrüße nachdrücklich, dass mit der Entstehung von ver.di die Trennung zwischen DAG und DGB überwunden wird.

Wir wollen auch in Zukunft einen starken DGB.

Er muss die gemeinsame politische Interessenvertretung bleiben.

Und ich setze darauf, dass wir im DGB zusammen neue Wege finden, nicht organisierte Bereiche zu gewinnen, anstatt über schon organisierte Bereiche zu streiten!

V.

Die Herausforderungen des Wandels sind groß und die Aufgaben schier unübersehbar.

Wenn wir nicht in Unübersichtlichkeit absaufen wollen, ist Konzentration gefragt.

Ich für meinen Teil sehe sie in folgenden Punkten:

Erstens:

Es geht darum, Konsolidierung und Erneuerung der IG Metall voranzubringen - damit wir starke Interessenvertretung und Reformkraft bleiben.

Alle Diskussionen der letzten Monate haben mir bei aller Kritik bestätigt:

Die Ziele, die mit dem Stichwort "IG Metall 2003" verbunden sind, sind richtig.

Sie heißen doch schlicht und einfach:

Ich halte diese Ziele für erreichbar.

Etliche haben auf und nach dem OE-Gewerkschaftstag gemeint, ich hätte ein zu pessimistisches Bild an die Öffentlichkeit gebracht.

Ich will dazu feststellen:

Ziele und Fakten, die ich genannt habe, sind weder pessimistisch noch optimistisch, sondern schlicht und einfach realistisch.

Wenn wir uns den Trend der Mitgliederentwicklung der letzten Monate und die Altersstruktur unserer Mitgliedschaft anschauen, bin ich leider bestätigt.

Ich bin überzeugt:

Wenn wir die Realität verdrängen, können wir sie nicht verändern.

Ich bin aber auch sehr zuversichtlich.

Denn wir haben die Mittel und die Wege, die Kraft und die Phantasie, die Menschen und die Möglichkeiten, die Realität zu verändern und alte Stärke zu erhalten sowie neue zu gewinnen.

Das kann keiner von uns allein. Das können wir nur gemeinsam bewältigen.

Zweitens:

Ich will das Bündnis für Arbeit mit allem Nachdruck zum Erfolg bringen, damit die Massenarbeitslosigkeit verringert wird.

Ich sage das ganz bewusst - gerade auch angesichts der öffentlichen Diskussionen und Spekulationen während der letzten Woche:

Ich sehe nach wie vor keinen schnelleren und besseren Weg, zu mehr Arbeits- und Ausbildungsplätzen zu kommen - wenn das Bündnis gelingt!

Ich muss nicht wiederholen, was wir im Bündnis für Arbeit wollen und wo wir klar Nein sagen.

Aber das Bündnis für Arbeit ist natürlich kein Selbstzweck.

Es bleibt dabei, Messlatte für das Bündnis für Arbeit sind konkrete Ergebnisse.

Darum geht es mir - und nur darum! Darauf habe ich öffentlich hingewiesen.

Die Bundesregierung hat das Bündnis für Arbeit zu einem Kernpunkt ihrer Politik gemacht.

Aber was liegt denn bislang vor?

An größeren Projekten haben wir das 100.000er-Programm für Jugendliche ohne Ausbildung oder Arbeit, zweifellos ein wichtiger Erfolg.

Und den Ausbildungskonsens. Sein Gelingen steht noch keinesfalls fest.

Weitere Vorhaben, die direkt auf den Abbau der Arbeitslosigkeit zielen, fehlen.

So reden wir seit Monaten über ein Modell "Mit 60 raus - Junge rein".

Übereinstimmung besteht, dass das gesetzliche Rentenalter nicht generell auf das 60. Lebensjahr herabgesetzt werden soll.

Und dass niemand gezwungen werden soll, mit 60 zu gehen.

Weder ich noch jemand anders von der IG Metall hat das gefordert.

Es ist daher unredlich, jetzt zu versuchen, mit Unterstellungen ein wichtiges Ziel kaputt zu machen.

Übereinstimmung besteht von Anbeginn darüber, erstens das Altersteilzeitgesetz weiterzuentwickeln, zweitens das vorzeitige Ausscheiden aus dem Erwerbsleben mit 60 mit Rentenabschlägen zeitlich befristet möglich zu machen und drittens für die Ausgleichszahlung eine tarifliche Lösung zu finden.

Was das Bundesministerium für Arbeit jetzt vorgelegt hat, bezieht sich ausschließlich auf das Alterteilzeitgesetz. Es ist "alter Wein in neuen Schläuchen".

Damit wird nie und nimmer ein entscheidender Ruck auf dem Arbeitsmarkt ausgelöst.

Ganze 33.000 Altersteilzeitanträge liegen seit 1996 der Bundesanstalt für Arbeit vor - gegenüber 3 Millionen, die nach unseren Vorstellungen ausscheiden könnten!

Wenn also früheres Ausscheiden aus den Betrieben arbeitsmarktpolitisch wirksam werden soll, dann müssen die Zugangsmöglichkeiten um einen entscheidenden Punkt ergänzt werden:

Heute können mit dem 60. Lebensjahr nur Frauen und Schwerbehinderte sowie Arbeitslose nach einem Jahr und in Altersteilzeit befindliche Arbeitnehmer nach zwei Jahren ausscheiden.

Was wir brauchen ist, dass Arbeitnehmer nach 35 Versicherungsjahren und mit Vollendung des 60. Lebensjahrs aufgrund eines Tarifvertrages, der einen Ausgleich für die Rentenabschläge sichert, ausscheiden können, wenn sie wollen.

Auf fünf Jahrgänge befristet.

Ich sage heute auch, das ist der Schlüssel für eine längerfristige Tarifpolitik!

Wenn jetzt die Bundesregierung von all dem nichts mehr wissen möchte, dann wäre dies eine Absage an ein glaubhaftes Modell, schnell ein mögliches Instrument einzusetzen, um Arbeitslosigkeit zu reduzieren und die Arbeitsplatzperspektive junger Menschen zu verbessern.

Was ich zur Kenntnis nehmen, aber nicht akzeptieren könnte, wäre, wenn die Bundesregierung sagt:

Die damit verbundenen Kosten sind wegen der großen Zahl an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die zum Ausstieg bereit sind, wegen der Steuer- und Abgabenbefreiung der aufzubringenden Beiträge zu hoch.

Allerdings wäre dann das Tariffondsmodell nicht an den Gewerkschaften, sondern an der Bundesregierung selbst gescheitert.

Und zur Kostenfrage merke ich an:

In ein Tariffondsmodell tragen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer selbst einen wesentlichen Teil der Kosten - zu Lasten von Lohnerhöhungen.

Und ich frage darüber hinaus:

Sind denn die Kostenbelastungen oder -ersparnisse durch hunderttausende Arbeitslose mehr oder weniger ganz aus dem Blickfeld verschwunden?

Hat die Öffentlichkeit vergessen, dass hunterttausend Arbeitslose an direkten Zahlungen und Abgabenausfällen ca. 4,5 Milliarden jährlich kosten oder erspart werden?

Das sind auch gesetzliche Lohnnebenkosten!

Der Verband der Rentenversicherungsträger spricht von "Vorfinanzierungskosten" in Milliardenhöhe für das Programm "Ausscheiden mit 60".

Selbst wenn das Projekt "Mit 60 ausscheiden - Junge rein" nur 400.000 Arbeitslose vermeidet, eine meines Erachtens zu pessimistische Schätzung, wäre diese "Vorfinanzierung" mehr als kompensiert.

Von den gesellschaftlichen Vorteilen bei 400.000 Arbeitslosen weniger und z.B. 100.000 Arbeitsplätze mehr für junge Menschen zu haben, will ich gar nicht reden!

Ich sage der Bundesregierung - nicht als Drohung - sondern zum Nachdenken:

Wenn auch beim "Ausstiegsmodell 60" nur halbherzig gehandelt wird, weiß ich nicht, was die Gewerkschaften über kurz oder lang noch im Bündnis für Arbeit sollen.

Ich füge hinzu:

Dann wird auch der Korridor für eine längerfristige Tarifpolitik unter Nutzung verschiedener qualitativer Bausteine zugebaut.

Es geht also um weit mehr, als um eine Aussage für die Dauer des Gewerkschaftstages.

Drittens:

Es geht mir darum, die europäische Gewerkschaftsarbeit zu stärken.

Wir müssen Motor sein, um das Europäische Modell voranzubringen.

Wir wollen der neoliberalen Doktrin einer gnadenlosen Markt- und Wettbewerbsgesellschaft ein europäisches Gesellschaftsmodell entgegenzusetzen.

Das verlangt zunächst eine abgestimmte Beschäftigungs- und Industriepolitik, eine gemeinsame Steuer- und Sozialpolitik innerhalb der Union.

Die Euro-AG darf keine mitbestimmungsfreie Zone werden und kein Einfallstor für das Anfang vom Ende der Unternehmensmitbestimmung in Deutschland sein.

Zu all diesen Herausforderungen vermisse ich eine Strategie der Politik, eine Vision der Regierenden, die die Menschen von den Chancen eines europäischen Konzepts für Arbeit und Gerechtigkeit überzeugt, sie für die Mitarbeit am Projekt einer europäischen Zivilgesellschaft begeistert.

Hier liegt eine Herausforderung an die Politik.

Wir als IG Metall sind bereit, unseren Beitrag zu leisten.

Wir wollen die europäische Zusammenarbeit im betrieblichen und gewerkschaftlichen Alltag fest verankern.

Europa muss sich lohnen, nicht für Absahner à la Bangemann und notorische Mitbestimmungsfeinde, sondern für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in allen Ländern der Union!

Viertens:

Ich werde mich weiterhin entschieden für Arbeitszeitverkürzung und Arbeitsumverteilung engagieren. Es geht nicht nur um die tarifliche Regelung, sondern um die gesellschaftliche Innovation.

Wir müssen zu einer anderen Aufteilung von Erwerbsarbeit, Familienarbeit und Bürgerbeteiligung zwischen den Geschlechtern und den Generationen, zwischen heute Beschäftigten und heute Arbeitslosen kommen.

Ich habe mit dem Vorschlag der 32-Stunden-Woche einen Stein ins Wasser geworfen, der damals in der Öffentlichkeit und in den eigenen Reihen kontroverse Diskussionen ausgelöst hat.

Mir geht es nicht um die Form der Arbeitszeitverkürzung, sondern um den Grundsatz: Mehr Arbeitsplätze für Alle durch kürzere Arbeitszeiten für Jeden.

Wir sind bereit, eine Vielfalt von Formen der Arbeitszeitverkürzung zu vereinbaren.

Ich fordere die Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände auf, endlich ihre dogmatische Ablehnung von Arbeitszeitverkürzung und Arbeitsumverteilung aufzugeben und darüber nach dem Kosten- und Nutzenkalkül zu verhandeln.

Ich begrüße in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Zustimmung der Arbeitgeber zur Arbeitsumverteilung im DGB/BDA-Papier vom 6. Juli 1999.

Und ich hoffe, dass auf dieser Grundlage in allen Branchen Verhandlungen zu einer zukunftsorientierten Arbeitszeitverkürzung geführt werden.

Ich fordere aber gleichzeitig die Bundesregierung auf, endlich Arbeitsumverteilung als ein unverzichtbares Element einer Strategie zur Überwindung der Arbeitslosigkeit anzuerkennen - und daraus Konsequenzen zu ziehen!

Und fünftens:

Ich werde weiterhin die qualifizierte Ausbildung für alle, insbesondere eine qualifizierte Erst- und Berufsausbildung für die junge Generation zum Schwerpunkt unserer Arbeit machen. Bildung und Jugend sind die elementaren Grundlagen für unsere Zukunft.

Das Bündnis für Arbeit steht auch hier vor einer Bewährungsprobe.

Die Bundesanstalt für Arbeit, Präsident Bernhard Jagoda, hat gestern die erste seriöse Ausbildungsbilanz des Jahres ´99 vorgelegt, die alle Wirtschaftsbereiche umfasst.

Danach ist das betriebliche Ausbildungsplatzangebot bislang nicht um die zugesagten mindestens 16.000 Ausbildungsplätze gestiegen, sondern um 3.000. Ausbildungsplätze gesunken.

Wenn das so bliebe, ist der Ausbildungskonsens gescheitert.

Diese negative Entwicklung ändert aus unserer Sicht aber nichts an der Ausbildungszusage an die Jugend.

Jetzt müssen in den regionalen Ausbildungskonferenzen die konkreten Zahlen auf den Tisch!

Wir erwarten daher von der Wirtschaft, dass sie den negativen Trend noch in diesem Jahr umdreht und die Zahl der betrieblichen Ausbildungsplätze im versprochenen Umfang steigert. Wir erwarten ebenso, dass sie diejenigen Jugendlichen, die sich jetzt noch melden, mit Ausbildungsplätzen versorgen.

Dies ist letzte Chance, die die Wirtschaft hat, ihre Glaubwürdigkeit in Sachen Ausbildung unter Beweis zu stellen.

Wenn das alles nichts bringt, ist die Politik am Zuge.

Und Gerhard Schröder muss die gesetzliche Ausbildungsumlage auf den Weg bringen.

Ich weiß, dass viele von uns gerne Fernsehübertragungen von Fußballspielen, Tennisturnieren und Formel-1-Rennen sehen.

Aber erlaubt mir dennoch die Anmerkung:

Die deutsche Wirtschaft hat 1998 2,5 Milliarden DM für Sportsponsoring ausgegeben.

Das dient zum Teil dazu, die Einkommen von Spitzensportlern auf viele Millionen zu erhöhen. Das stößt kaum auf öffentliche Kritik.

Und wo diese Einkommen versteuert werden, wird kaum mehr gefragt.

2,5 Milliarden DM für 100 000 und mehr zusätzliche Ausbildungsplätze sind eine weit bessere und wichtigere Zukunftsinvestition!

VI.

Kolleginnen und Kollegen,

in diesem Jahr ist das Grundgesetz 50 Jahre in Kraft.

Es ist die beste Verfassung, die Deutschland je hatte.

Sie hat manche Veränderungen erfahren, gegen die wir heftig gestritten haben.

Ich denke an die Notstandsgesetze und an das Asylrecht.

Das Grundgesetz ist bis heute Handlungsrahmen für gewerkschaftliche Politik geblieben, der Verteidigung wert und ausbaufähig.

Lasst mich beispielhaft deutlich machen, welche aktuellen Handlungsaufträge das Grundgesetz umfasst:

Artikel 1 - dort heißt es:

"Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung der staatlichen Gewalt."

Dauer- und Massenarbeitslosigkeit bedrohen die Menschenwürde.

Sie zu bekämpfen, ist elementarer Verfassungsauftrag.

Ihre Folgen für die Betroffenen menschenwürdig zu bewältigen, ist der Kern des Sozialstaatsgebots.

Artikel 9.3 legt fest:

"Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet."

Damit sind Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie sowie das ungeschmälerte Streikrecht durch die Verfassung gewährleistet.

Ständige Polemik gegen die Tarifautonomie oder der Versuch, den Tarifvorrang des § 77,3 des Betriebsverfassungsgesetzes einzuschränken, verstoßen dagegen.

Die Tarifautonomie zu verteidigen und das ungeschmälerte Streikrecht zu gewährleisten, ist Verfassungsauftrag.

Ich gehe davon aus, dass die Bundesregierung jetzt die Änderung des Anti-Streikparagraphen 146 SGB III auf den Weg bringt.

Wir wollen endlich verhindert sehen, dass die IG Metall zum Spielball unternehmerischer Macht werden kann und die Bundesanstalt für Arbeit faktisch Aussperrungshelfer sein muss.

Artikel 14.2 formuliert kurz und bündig:

"Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen."

Das Grundgesetz schreibt keine bestimmte Wirtschaftsordnung vor.

Aber eine Wirtschaftsordnung, die sich nur an Gewinnsteigerung und "shareholder value" ausrichtet, in der die Aktienkurse einen höheren Wert haben als die Arbeitslosenzahlen, steht im Widerspruch zur Verfassung.

Denn die soziale Regulierung der Wirtschaft ist zwingender Verfassungsauftrag.

Kolleginnen und Kollegen,

"Kapitalismus pur", dessen hässlichen Fratzen wir in diesem Jahrhundert erleben mussten, taugt nicht als Leitbild für das neue Jahrhundert.

Genauso wenig wie der Pseudosozialismus, der 40 Jahre im Osten Deutschlands regierte.

Freie und unabhängige Gewerkschaften waren und bleiben entschiedene Gegner der einen wie der anderen Richtung.

In den letzten 50 Jahren wurde in der alten Bundesrepublik der Sozialstaat ausgebaut und seine paritätische Finanzierung durchgesetzt.

Die Mitbestimmung ist als Teil von demokratischer Wirtschaftsgestaltung verankert.

Die Betriebsverfassung etablierte Gestaltungsmacht im betrieblichen Alltag.

Durch Tarifverträge wurden Einkommen erhöht und Arbeitsbedingungen verbessert, die Arbeitszeit verkürzt und der Urlaub verlängert.

Die deutschen Gewerkschaften haben die Lebens- und Arbeitsbedingungen in unserem Land auf eine internationale Spitzenposition angehoben.

Sie sind Anwälte der europäischen Integration und Träger des europäischen Sozialmodells.

Im Zusammenleben mit Menschen ausländischer Herkunft ist während der letzten Jahre vieles passiert, wofür wir uns schämen müssen.

In der Zusammenarbeit mit ausländischen Kolleginnen und Kollegen am Arbeitsplatz leisten die Gewerkschaften in Deutschland Beispielhaftes.

Zivilcourage und das Eintreten gegen nationalistische und rassistische Gewalt gehören zu unserem politischen Selbstverständnis.

Ich bin stolz darauf, dass in praktischen Aktionen Mitglieder der IG Metall immer wieder eine wichtige Rolle spielen.

Kolleginnen und Kollegen,

am 9. November diesen Jahres feiern wir zum zehnten Mal die Überwindung eines Zwangsregimes, das vier Jahrzehnte lang die Deutschen in Ost und West trennte.

Wenn es Sternstunden der Geschichte eines Volkes gibt, konnten wir damals eine solche erleben.

Ein verbrauchtes Regime hatte sich selbst in den Konkurs getrieben und wurde durch eine Volksbewegung zur Abdankung gezwungen.

Heute, zehn Jahre danach, muss gefragt werden, ob inzwischen alles auf einem guten Weg ist.

Wir wissen:

Die soziale Einheit lässt trotz politischer Einheit immer noch auf sich warten.

Wir erleben schmerzlich, wie sehr Arbeitslosigkeit und die härtere Konkurrenz um Teilhabe am Wohlstand solidarisches Miteinander untergräbt.

Was wir Gewerkschaften tun können, um gegenzusteuern, tun wir.

Es ist nicht zuletzt unser Verdienst, dass für die Menschen in den neuen Bundesländern die soziale Einheit überhaupt erst zur realen Perspektive wurde.

Wir haben durch Tarifverträge die Angleichung vorangebracht.

Wir haben durch Widerstand und Alternativen manchen Betrieb erhalten, der nach dem Willen der Treuhand stillgelegt werden sollte.

Und wir haben dafür gesorgt, dass das Prinzip "Qualifizieren statt entlassen" Eingang in den ökonomischen und sozialen Umbau fand.

Längst ist nicht alles erreicht, was wir erreichen wollten.

Es wird noch sehr lange dauern, bis die Lebensverhältnisse in Frankfurt/Oder den Anschluss an die Lebensverhältnisse in Frankfurt/Main gefunden haben.

Doch eines ist sicher:

Ohne die Gewerkschaften, ohne die IG Metall wäre es um die soziale Einheit Deutschlands weit schlechter bestellt.

Wir werden weiter unser tarifpolitisches Handeln nutzen, die soziale Kluft zwischen Ost und West zu verringern.

Und wir werden nicht aufhören, politische Initiativen für gleiche Lebensbedingungen im Osten und Westen Deutschlands zu fordern.

VII.

 

 

Kolleginnen und Kollegen,

überall auf der Welt bereiten sich Menschen auf die Feier des Jahreswechsels 2000 vor.

Concordeflug von Paris, Milleniumdom in London und Party auf der Fifth Avenue in New York.

Nichts, was es nicht gibt.

Das Spektrum zwischen Verrücktheit und Vertrautheit ist unendlich breit.

Wir haben alles andere als eine Weltuntergangsstimmung wenige Wochen vor der Jahrtausendwende.

Die Menschen wollen feiern, trotz alledem.

"Neugier auf die Zukunft" - das ist die vorherrschende Stimmung.

Ich möchte, dass auch wir uns das zu eigen machen.

Die Veränderungen, die wir erleben und gestalten wollen, sind atemberaubend.

Die Herausforderungen für unsere Arbeit sind gewaltig.

Ein Beitrag, sie zu bewältigen, soll eine neue Zukunftsdebatte sein.

Sie muss den Mut zu Visionen formulieren.

Sie muss die Realität als Ausgangspunkt, aber nicht als Fessel sehen.

Sie muss die tatsächlichen Probleme der Menschen, ihre Ängste und Befürchtungen, aber auch ihre Hoffnungen und Freuden zum Thema machen.

Eine neue Zukunftsdebatte muss gesellschaftsverändernd und politikbeeinflussend sein.

Eine neue Zukunftsdebatte muss schließlich auch darauf zielen, uns selbst zu verändern.

Damit auch wir neugierig ins nächste Jahrhundert gehen.

Damit wir attraktiv bleiben für die, die heute unsere Mitglieder sind, und attraktiv werden für alle, die wir in Zukunft gewinnen wollen.

Ich will am Ende Maxim Gorki zitieren, der gesagt hat:

"Je größer und intensiver das Interesse der Menschen für seinen Nächsten ist, desto schneller vollzieht sich der Prozess einer Verschmelzung der guten, schöpferischen Prinzipien zu einer einheitlichen Kraft, desto schneller vollenden wir unseren Golgatha-Weg, der zum Weltfesttag des gegenseitigen Verständnisses, der Achtung, der Brüderlichkeit und der freien Arbeit zum Ruhm der Menschen führt."

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

neue Meere kann man nur entdecken, wenn man den Mut hat, das Ufer aus den Augen zu verlieren!

Ich wünsche uns diesen Mut und die Zuversicht des Gelingens!

* * *