Antje Radcke, Sprecherin des Bundesvorstands von Bündnis 90/Die GrünenRede auf dem 19. ordentlichen Gewerkschaftstag der IG Metall
Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Freundinnen und Freunde! Ich sage das jetzt vor dem Hintergrund, dass ich mir unsere jüngsten Wahlergebnisse angeguckt habe; wenn ich die auf die Zahl der hier anwesenden Delegierten hochrechne, dann traue ich mich einfach, auch die Anrede "Freunde und Freundinnen" zu benutzen.
(Beifall)
Ich freue mich sehr, dass ich hier und heute die Gelegenheit habe, zu Ihnen zu sprechen, und bedanke mich ganz, ganz herzlich für die Einladung.
(Beifall)
Ich sage auch gleich angesichts der eben abgeschlossenen Debatte: Ich stehe hier als bekennende Quotenfrau.
(Beifall)
Für mich war dies eben ein ziemlich wichtiger Moment. Ich habe nicht damit gerechnet, ausgerechnet während dieser Debatte im Saal zu sitzen. Es ist ein wichtiger Moment, dass die IG Metall mit diesem Beschluss endlich das nachvollzogen hat, was wir ja schon sehr lange vorgemacht haben. Aber ich denke, es ist höchste Eisenbahn, und ich beglückwünsche Sie auf das Herzlichste zu diesem Beschluss; er ist ein wesentlicher Beitrag dazu, Frauen endlich dorthin zu befördern, wo sie auf Grund ihrer Qualifikation hingehören.
(Beifall)
Ich habe mit großer Aufmerksamkeit die Debatte über die Rente mit 60 verfolgt. Ich für meine Person danke Herrn Zwickel ausdrücklich dafür, dass er diesen Stein ins Rollen gebracht hat. Allerdings scheint mir bei vielen die Angst vor einer Lawine größer zu sein als der Wunsch, diesen Stein gemeinsam ins Ziel zu befördern. Die Aufregung, die mit dieser Forderung nach der generellen Herabsetzung des Rentenalters ausgelöst wurde, zeigt mir, dass es sich hier um eine notwendige, wenn nicht gar längst überfällige Debatte handelt.
Für mein Verständnis wurde die Diskussion zu schnell mit dem Hinweis auf das fehlende Geld abgewehrt. Selbstverständlich ist die Rentenfrage auch - und nicht zuletzt - eine Geldfrage, die beantwortet werden muss. Politik darf sich aber nicht darin erschöpfen, berechtigte Forderungen lediglich unter dem Finanzierungsaspekt zu diskutieren.
(Beifall)
Vielmehr ist es doch Aufgabe von Politik, zunächst die Forderungen nach ihrem gesellschaftlichen Nutzen zu bewerten. Die Frage nach der Finanzierung gehört ans Ende, nicht an den Anfang der Debatte.
(Beifall)
Die jüngsten Arbeitslosenzahlen machen deutlich, dass wir noch einen lang Weg vor uns haben, um die Arbeitslosigkeit nachhaltig zu beseitigen. Wir haben kleine Fortschritte erreicht, was insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit betrifft. Ausreichend ist das nicht.
(Vereinzelter Beifall)
Wenn wir nicht grundlegend umdenken, wird es dabei bleiben: Auf der einen Seite werden einige Arbeitsplätze geschaffen, auf der anderen Seite aber abgebaut. Wir müssen uns endlich davon verabschieden, dass es in der heutigen Zeit noch erreichbar bleibt, einen lebenslangen Vollzeitarbeitsplatz zu ergattern. Wir kommen nicht darum herum, die vorhandene Arbeit - und damit meine ich ausdrücklich die Erwerbs-, Familien- und auch ehrenamtliche Arbeit - anders zu verteilen. Dazu ist die Debatte um die Verkürzung auch der Wochen- und Lebensarbeitszeit ein notwendiger Beitrag.
(Beifall)
Wenn wir hier aber einen wirklichen Schritt vorankommen wollen, dürfen wir sie nicht zu einer symbolischen Debatte verkommen lassen.
Sowohl der Arbeitsminister als auch der Bundeskanzler haben darauf hingewiesen, dass es vom Grundsatz her richtig ist, die Rente mit 60 zu fordern. Darauf sollten wir aufbauen, statt uns schmollend in die Ecke zu verziehen.
Das Bündnis für Arbeit ist der richtige Ort, um dieses Anliegen zu diskutieren.
Das Bündnis aber wird entwertet, wenn es abwechselnd von Arbeitgebern und Arbeitnehmern als Drohmittel eingesetzt wird. Das Bündnis für Arbeit ist kein Spielball, den man beliebig hin und her werfen und nach Laune auch mal fallen lassen kann. (Beifall)
Ich fordere alle drei Seiten auf, in diesem Bündnis offen und ehrlich miteinander zu reden mit dem Ziel, tragfähige Lösungen zu entwickeln. Das Bündnis für Arbeit wird nur dann zum Erfolg führen, wenn alle Beteiligten bereit sind, zu geben und zu nehmen. Das Problem der Arbeitslosigkeit ist zu ernst, als dass wir es uns leisten könnten, richtige Ansätze schon im Keim zu ersticken.
Ich weiß, dass die Rente mit 60 ein finanzielles Problem ist. Die hohe Arbeitslosigkeit aber ist es auch. (Beifall)
Die rotgrüne Regierung ist unter anderem mit der erklärten Absicht angetreten, die Beseitigung der Arbeitslosigkeit als oberstes Ziel dieser Legislaturperiode spürbar voranzubringen. Die Gewerkschaften haben im Bundestagswahlkampf einen klaren Politikwechsel eingefordert und mit ihrem Slogan "Deine Stimme für Arbeit und Gerechtigkeit" massiv dazu beigetragen, dass die alte Bundesregierung abgelöst werden konnte.
Ich möchte Sie nicht langweilen mit dem x-mal wiederholten Hinweis auf das schwere Erbe, das die neue Regierung antreten musste; das wissen Sie selbst mindestens so gut wie ich. Stattdessen möchte ich mich bei Ihnen allen, die Sie diesen Regierungswechsel ermöglicht haben, bedanken - ein bisschen spät vielleicht ein Jahr nach der Wahl, aber bisher hatte ich persönlich noch nicht die Gelegenheit, diesen Dank bei Ihnen loszuwerden. (Beifall)
Manchmal erwecken wir offensichtlich den Eindruck, dass wir Ihre Unterstützung zwar gern entgegengenommen haben, ihren Wert aber nicht so richtig zu schätzen wissen - wie ein Weihnachtsgeschenk, das man vorher mit den Eltern abgesprochen hat, damit es auch ganz bestimmt das Richtige ist, und wenn man es dann endlich in der Hand hat, es etwas achtlos beiseite legt und sich lieber den unbekannten verlockenderen Dingen zuwendet.
Meine Damen und Herren, mir ist bewusst, dass es mit einem Dankeschön nicht getan ist. Vielmehr steht die neue Regierung in der Pflicht, sich Ihren Vertrauensvorschuss nachträglich zu verdienen. Und da haben wir einiges nachzuholen. (Starker Beifall)
Ich brauche Ihnen nicht zu erzählen, wie schwierig es ist, in der gegenwärtigen Situation soziale Gerechtigkeit und die Schaffung von Arbeitsplätzen zu verbinden mit der Konsolidierung des Haushalts, deren Notwendigkeit von niemandem ernsthaft bestritten wird. Ich sehe aber ein, dass wir bei der Vorstellung des Sparprogramms zu sehr das Sparen in den Vordergrund gestellt und zu wenig darauf geachtet haben, das Sparprogramm mit den notwendigen Perspektiven für die Zukunft zu verbinden. Da half auch der schöne Titel "Zukunftsprogramm 2000" nicht viel. (Beifall)
Die notwendige Rentenreform wurde erst dann ausführlich diskutiert, als die 30 Milliarden Mark Einsparungen bereits verkündet waren. Dadurch erntete die Bundesregierung den Vorwurf, sie würde eine Rentenreform nach Kassenlage konstruieren und nicht etwa an die Erfordernisse der Zukunft orientieren. Das aber, meine Damen und Herren, wird der Rentendebatte nicht gerecht. Wir brauchen ein Rentensystem, das der veränderten Bevölkerungsentwicklung gerecht wird. Das erfordert grundlegendes Umdenken. Mit den jetzt vorliegenden Plänen verteilen wir die Lasten gerecht zwischen der jungen und der alten Generation, wir ermöglichen Frauen eine eigenständige Alterssicherung, und wir ersparen alten Menschen den Gang zum Sozialamt.
Es ist der Erfolg der Bundesregierung, die Rentenversicherungsbeiträge erstmals gesenkt zu haben. Das dürfen wir nicht wieder aufs Spiel setzen, weder durch einen Zwang zur Eigenvorsorge noch durch die notwendige und sinnvolle Herabsetzung des Rentenalters. Um den richtigen Kern dieser Forderungen durchzusetzen, müssen wir andere Wege, gemeinsame Wege finden.
Der Vorwurf, das Sparprogramm sei sozial ungerecht, trifft eine rotgrüne Bundesregierung hart. Wir sind dringend gefordert, diesen Vorwurf zu entkräften. Worte helfen da nicht allein, Taten müssen folgen. (Beifall)
Es ist nicht zu spät, wenn wir jetzt eine Lösung finden, wie das erhöhte Kindergeld auch bei Sozialhilfeberechtigten ankommen wird. Und eine solche Lösung wird es geben. (Beifall)
Es ist auch nicht zu spät, wenn wir jetzt eine Lösung erarbeiten, wie hohe Vermögen dazu beitragen können, die Lasten des Sparpakets auf alle Schultern zu verteilen. (Lebhafter Beifall)
Ich gebe zu, dass diese Maßnahmen alle in das Gesamtpaket gehört hätten, bevor es der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Das haben wir versäumt. Dafür haben wir die Quittung erhalten, und dafür übernehmen wir die Verantwortung. (Beifall)
Ich reagiere allerdings empfindlich, wenn ich den Vorwurf zu hören bekomme, die neue Regierung mache nichts anders, dafür alles schlechter. Ich behaupte, dass die alte Bundesregierung niemals den Mut gehabt hätte, die notwendigen Reformen auf den Weg zu bringen - mit der Konsequenz, dass in absehbarer Zeit unsere sozialen Sicherungssysteme unter der zunehmenden Verschuldung zusammengebrochen wären und sich dann nur noch die Vermögenden gegen alle Risiken des Lebens hätten absichern können. Das durften wir nicht zulassen. (Beifall)
Wir haben große Aufgaben vor uns. An erster Stelle die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit, insbesondere der immer noch zu hohen Jugendarbeitslosigkeit. An dieser Stelle möchte ich gern noch ein paar Worte zu der gerade auch von Ihrer Jugend - und nicht nur von ihr - geforderten Umlagefinanzierung verlieren. Bündnis 90/Die Grünen haben dieses in ihrem Bundestagswahlkrampf - - Das war jetzt ein Freud’scher Fehler! (Heiterkeit und Beifall) Wir haben dieses in unserem Bundestagswahlprogramm gefordert, und dazu stehe ich.
Wir haben mit der SPD im Koalitionsvertrag vereinbart, dass zunächst die Möglichkeiten der freiwilligen Vereinbarungen gesucht werden sollen, dass aber, wenn dieses nicht zum Ziel führt, gesetzliche Maßnahmen notwendig sind. (Beifall)
Ich bin gerne bereit, darauf zu vertrauen und auch darauf zu warten, dass das tatsächlich auf freiwilliger Ebene passiert. Aber unendlich lange können wir nicht warten, besonders für die Jugendlichen, die jetzt immer noch auf der Straße stehen. (Starker Beifall)
Deshalb sollten wir die Forderung nach einer Umlagefinanzierung nicht in die Ecke der Ewiggestrigen schieben, sondern sie durchaus im Kopf behalten und notwendigenfalls auch anwenden. (Beifall)
Die zweite große Aufgabe ist die Modernisierung der sozialen Sicherungssysteme, damit weiterhin alle Menschen ein Leben in Würde führen können.
Der Ausstieg aus der Atomwirtschaft steht bevor. Damit machen wir endlich den Weg frei für ein Umsteuern in der Energiepolitik mit zukunftssicheren Arbeitsplätzen durch ein Ende der, wie wir es gerade wieder erlebt haben, zerstörerischen und nicht beherrschbaren Atomkraft. Hier möchte ich mich noch einmal ausdrücklich bei der IG Metall für ihre Unterstützung bedanken. Sie haben in Ihren Vorschlägen zur Sicherung von Arbeitsplätzen einen sehr konstruktiven Beitrag zu dieser Debatte geleistet.
Wir haben eine große gesellschaftliche Aufgabe vor uns. Das ist die Integration der Menschen ausländischer Herkunft. Integration in die Gesellschaft und in das Erwerbsleben. Hier haben wir mit der Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts einen großen Fortschritt erreicht. Integration aber findet nicht nur auf dem Papier und in den Köpfen statt, sie muss auch in den Herzen aller ankommen. Dafür brauchen wir Ihre Unterstützung, dafür müssen weitere Schritte erfolgen. Es kann nicht sein, dass Menschen, die hier seit Jahren leben, Woche für Woche zum Amt gehen müssen, sich eine Duldung abholen müssen, wenn doch klar ist, dass sie in ihr Herkunftsland nicht zurück können.
Für diese Menschen haben wir eine große Verantwortung. Da bitte ich Sie alle um Unterstützung. (Beifall)
Wir müssen die Rechte von Minderheiten stärken. Wir müssen endlich erreichen, dass alle Menschen, egal welcher Hautfarbe, ob Mann oder Frau, jung oder alt, mit oder ohne Behinderung, Ost oder West, schwul, lesbisch oder hetero, arm oder reich nicht nur formal die gleichen Rechte haben, sie müssen diese Rechte auch wirklich wahrnehmen können. (Beifall)
Wir brauchen ein Steuersystem, das kleine und mittlere Einkommen und Unternehmen entlastet, bei hohen und höchsten Einkommen aber dafür sorgt, dass Steuerhinterziehung nicht mehr möglich wird und dass Steuerschlupflöcher weiter geschlossen werden. (Beifall)
Wir haben die Aufgabe, in diesen schwierigen Zeiten aus unserer vereinzelten Gesellschaft wieder eine Solidargemeinschaft zu machen. Diese Aufgabe können wir aber nur dann lösen, wenn es gelingt, alle Einzelforderungen – und seien sie noch so berechtigt – daraufhin abzuklopfen, ob sie der Gesamtaufgabe gerecht werden oder ob sie, mit den Worten meiner Großmutter zu reden, mit dem Hintern umreißen, was sie mit den Händen aufbauen.
Ich will hier nur ein Beispiel nennen. Mag sein, dass die Einführung eines Niedriglohnsektors vordergründig mehr Arbeitsplätze schaffen würde. Wenn der Preis dafür aber ist, dass Menschen trotz eines Arbeitsplatzes unter das Existenzminimum sinken und Arbeitgeber sich dagegen an der staatlichen Subventionierung gesundschrumpfen können, dann ist etwas faul an dieser Forderung. (Beifall)
Große Probleme erfordern große Antworten. Bündnis 90/Die Grünen haben in Zeiten der Opposition viel Anerkennung für ihr Grundsicherungsmodell erfahren. Leider scheint es etwas in Vergessenheit geraten zu sein. Da möchte ich gar nicht ausschließen, dass auch wir einen gehörigen Anteil daran haben.
Wenn aber im Zuge des Sparpakets die originäre Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe vereint werden soll, wenn Niedriglohnsektoren herbeigerufen werden, dann schreit das geradezu danach, diese Debatte neu aufzurollen, zumal sich die Bundesregierung auch im Koalitionsvertrag darauf verständigt hat, hier zumindest einen Modellversuch zu starten.
Eine Einführung der Grundsicherung würde den Menschen die entwürdigende Bittstellerei beim Sozialamt ersparen. Sie würde einen enormen Abbau von Bürokratie bedeuten. Sie böte die Möglichkeit, Menschen die Aufnahme eines Arbeitsplatzes zu erleichtern, wenn sie durch die Grundsicherung in ihrer Existenz gesichert werden.
Sie würde allen GrundsicherungsbezieherInnen Maßnahmen nach dem Arbeitsförderungsgesetz zugestehen und damit die Integration in den Arbeitsmarkt erleichtern. Und sie würde vor allem dazu führen, dass Menschen eigenverantwortlich mit dem vorhandenen Geld umgehen könnten, statt jede Schultüte extra vom Sozialamt genehmigen zu lassen oder gar – wie teilweise bei Asylsuchenden praktiziert – nur per Gutschein einkaufen zu dürfen.
Wir müssen den Sozialstaat so modernisieren, dass alle Menschen in die Lage versetzt werden, ihr Leben eigenverantwortlich zu regeln. Das heißt nicht, dass der Staat nicht auch für Menschen sorgen muss, die es aus eigener Kraft nicht können. Das darf aber auch nicht heißen, dass Menschen von einer Maßnahme in die nächste geschoben werden – ohne wirkliche Perspektive für die Zukunft. (Kurzer Beifall)
Das kann uns nur mit einer gemeinsamen Kraftanstrengung gelingen. Sie erfordert den Mut, Altes neu zu denken und zu überdenken, sie erfordert, Neues nicht einfach von anderen zu übernehmen, sondern an alten Grundsätzen zu messen. Und sie erfordert eine breite gesellschaftliche Debatte, damit möglichst viele Menschen in Herz und Kopf erreicht werden und der Weg ins nächste Jahrtausend gemeinsam gegangen werden kann.
Dafür, sehr geehrte Damen und Herrn, liebe Freundinnen und Freunde, dafür brauchen wir nicht zuletzt den intensiven Dialog mit Ihnen, mit den Gewerkschaften. Sie sind ein Seismograf für die Stimmungen in der Gesellschaft. Sie sind ein Motor für notwendige Reformen. Sie sind aus Ihrer kritischen Distanz heraus der Motor für eine breite gesellschaftliche Debatte, und dazu gehört auch der konstruktive Streit.
In diesem Sinne bin ich bereit, mit Ihnen zu streiten und für die Gemeinsamkeiten zu kämpfen. Ich danke Ihnen. (Länger anhaltender kräftiger Beifall)