Rede Kerstin Müller, BDK Erfurt, 6. März 1999

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Es gilt das gesprochene Wort


Liebe Freundinnen und Freunde,


Diese Debatte macht mich langsam wirklich wütend! - Wir haben eine Serie von Niederlagen - die Jugendlichen laufen uns in Scharen davon.

Die CDU - ausgerechnet führt uns mit einer rassistischen Kampagne vor Augen, daß wir unsere Kampagnenfähigkeit längst verloren haben Und was machen wir? Wir machen das, was wir in Krisen immer gemacht haben Wir diskutieren über unsere Parteistrukturen.

Liebe Freundinnen und Freunde,

das bringt uns keinen Schritt weiter. Das lenkt nur ab, und das ist auch verlogen, Liebe Freundinnen und Freunde.

Denn am Ende geht es doch um was ganz anderes: nämlich um die alte Frage: "Wer hat wieviel Einfluß in dieser Partei?" Strukturdebatten bei uns das sind wieder einmal nur Machtkämpfe!!

Und einige vertreten jetzt gar die Meinung, wenn wir möglichst viel Macht auf möglichst wenig Männer verteilen dann wird es mit den Grünen schon wieder aufwärts gehen.

Ich bin der Meinung, liebe Freundinnen und Freunde, daß wir dann erst recht dort bleiben, wo wir seit über 2 Jahren sindauf der Straße der Verlierer.

Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ja, ich glaube, wir haben Grund zur Selbstkritik. Aber habt ihr von irgend jemandem in den vergangenen Wochen gehört, daß er sich selbst kritisiert?

Schuld sind immer die anderen: Die Linken, die Realos, die Strukturen, die Basis. Genau das nenne ich verlogen.

Weder mit Strukturdebatten, noch mit politischen Kampfbegriffen werden wir die Wähler gewinnen.

Die Menschen interessieren sich doch nicht für unsere Strukturen, sondern für unser Programm.

Und dazu müssen wir heute und in den nächsten Monaten zunächst mal eine ehrliche Bestandsaufnahme machen:

Was ist schiefgelaufen? Wo stehen wir? Wo wollen wir hin?

Erst wenn wir darüber ehrlich reden, werden wir die Glaubwürdigkeit zurückgewinnen, die wir in den Augen vieler Wählerinnen und Wähler verloren haben.

Vor allen Dingen auch bei den Jugendlichen. Vom Grün-Alternativen Jugendbündnis kommt da ein Thesenpapier das ich allen zur Lektüre empfehlen will.

Darin steht: "Was die Grünen brauchen, ist keine halbherzige Verjüngung, die von 50jährigen Ex-Spontis initiiert und kontrolliert wird. Die Grünen brauchen eine radikale Bestandsaufnahme und eine schonungslose Erneuerung."

Recht habt Ihr!
Aber diese Erneuerung kann sich nicht auf ein paar modische Begriffe beschränken, wie ich sie in einigen Interviews in diesen Tagen gelesen habe.

Was bitte ist eine neue Familienpartei? Was ist das für eine Mitte, in die wir uns bewegen sollen? Was, bitte, ist öko-neoliberal? Wie soll ich mir eine "wirtschaftsliberale Bürgerrechtspartei" im einzelnen vorstellen? Wo genau soll die Partei nach der Radikalkur stehen, für die Du, Joschka, uns immerhin ein Jahr zugestehst?

Die Menschen wollen wissen, wofür wir stehen, und sie wollen wissen, was das konkret heißt.

Die Menschen lassen sich nicht mit Worthülsen abspeisen, schon gar nicht von einer Partei, die groß geworden ist, gerade weil sie eben anders war als die anderen Parteien.

Und ich wehre mich auch gegen die Empfehlung, die jetzt in manchen Zeitungen gegeben wird: "Wir müßten realistischer werden."

Liebe Freundinnen und Freunde, das heißt doch nichts anderes als: ihr müßt angepaßter werden. So wie die anderen.

Ihr braucht z.B. eine stärkere Führung. Am besten macht ihr Joschka zum Parteichef, lese ich.

Liebe Freundinnen und Freunde, Ich habe vier Jahre mit Joschka zusammen die Fraktion geführt -
wir haben uns manches mal gestritten, wir haben auch vieles aus gemeinsamer Überzeugung getragen.
Joschka war und ist ein Zugpferd unserer Partei.

Aber, liebe Freundinnen und Freunde, bei aller Wertschätzung für unserer Außenminister:

Wohin ist eine basisdemokratische Partei gekommen, wenn nicht nur aus den Medien, sondern sogar aus den eigenen Reihen der Ruf nach einem großen Erlöser kommt?

Das kann doch nicht die Lösung unserer Probleme sein.

Nein, was wir brauchen, ist eine Rückbesinnung auf unsere alten Stärken: Die thematische Vielfalt, die kritische Kompetenz, die Fähigkeit zum Dialog in weite Gruppen der Gesellschaft und damit unsere Kampagnenfähigkeit.

Nehmen wir die Staatsbürgerschaft was wir da bisher gemacht haben, seien wir ehrlich, das hat den Namen Kampagne nicht verdient.

Wo waren wir denn, als die CDU ihre rassistische und ausländerfeindliche Kampagne losgetreten hat? Gut - es gab ein Plakat, es gab auch Stände aber das ist doch noch keine Kampagne.

Liebe Freundinnen und Freunde, das müssen wir dringend nachholen

Denn eines steht für mich fest:

Wenn wir hier verlieren, wenn es der CDU gelingt, das Klima in der Gesellschaft weiter auf dem Rücken der hier lebenden MigrantInnen zu vergiften - dann haben wir mehr verloren, als in der Frage der Staatsbürgerschaft - dann werden die Spielräume für Reformen insgesamt enger werden!!

Und deshalb müssen wir um die gesellschaftlichen Mehrheiten kämpfen.

Die Grünen waren und sind die Partei, die am konsequentesten für eine. Modernisierung Gesellschaft eintritt. Die Grünen sind eine progressive, eine kritische Partei.

Wir müssen wieder der Motor für Reformen werden. Ich will das an konkreten Projekten deutlich machen:

Wir sind für die ökologische Erneuerung der Gesellschaft angetreten Übriggeblieben sind Ökosteuer und Atomausstieg.

Das sind wichtige Projekte - keine Frage. aber wenn wir die Jugendlichen für dieses zentrale Thema gewinnen wollen, dann müssen wir vor allem den Einstieg in eine neue Energiepolitik konkret machen.

Und dann - da bin ich mir sicher: gewinnen wir auch wieder mehr Akzeptanz für den Ausstieg.
Und: wir sind für soziale Erneuerung der Gesellschaft angetreten.

Dann dürfen wir das Thema nicht der SPD überlassen,
dann müssen wir die Frage der sozialen Gerechtigkeit, von Solidarität, ins Zentrum unserer Politik stellen: - Generationengerechtigkeit schaffen bei der Rentenreforrn, - den Patienten in den Mittelpunkt stellen bei der Gesundheitsreforrn.

Hier haben wir wirklich viel anzubieten. Soziale Gerechtigkeit, das ist ein grüner Grundwert, liebe Freundinnen und Freunde.

Und, wir müssen auch neue Themen anpacken: wie die Frage der neuen Technologien, der Modernisierung von Bildungsinhalten.' das Leben mit Kindern, und die Schaffung neuer Ausbildungsplätze.

Das sind die Zukunftsthemen. Wir müssen sie zu unseren Themen machen.

Aber wie soll das gehen, fragen viele, wenn wir gleichzeitig in der Bonner Koalition stehen, in der wir ständig zu Kompromissen gezwungen sind. Wir müssen Kompromisse eingehen lind, wir können sie machen, wenn wir klar sagen, wohin wir wollen.

Ein Kompromiß wird dann zum faulen Kompromiß, wenn die Menschen spüren, daß wir uns einfach nur einem allgemeinen Anpassungsdruck unterwerfen.
Dann wird unsere Regierungsarbeit zur reinen Machtpolitik, die in der Wahrnehmung unserer Wähler
nicht mehr ihnen sondern nur noch den Amtsinhabern dient.

Und das, liebe Freundinnen und Freunde, das heißt, das wir an bestimmten Punkten gegenüber der SPD auch mal sagen müssen: Jetzt reicht es! Bis hier her und nicht weiter.

Liebe Freundinnen und Freunde, Wir brauchen z.B. ein Staatsbürgerschaftsrecht, das eben nicht nur das Geburtsrecht einführt. Nein, wir müssen auch den Menschen,
die schon lange hier leben, ein glaubwürdiges Angebot zur Einbürgerung machen. Und dafür reicht das FDP-Modell eben nicht. Es grenzt die erste Generation weiter aus.

Wir haben doch nicht für eine neue Mehrheit gekämpft, um dann erfolgreich FDP-Politik zu machen.

Wir haben für eine Reformmehrheit gekämpft, um Reformpolitik zu machen. Und das gilt natürlich nicht nur für die Staatsbürgerschaft, sondern auch für Fragen wie den Atomausstieg.

Unsere Glaubwürdigkeit und unser Erfolg hängen davon ab, ob wir unsere Ziele selbst im Kompromiß noch vermitteln können. Laßt uns also mehr über die Ziele reden und ehrlich über Mißerfolge und Erfolge. Laßt uns über Inhalte streiten und erst dann über die Strukturen, die man braucht, um diese Inhalte nach draußen zu tragen - Strukturen sind Mittel, nicht Selbstzweck, hat Rezzo gesagt.

Genau, Rezzo, da stimme ich Dir zu.

Und deshalb möchte ich doch noch ein Wort zur Quote sagen. Die Quote ist kein Selbstzweck sie ist ein Mittel zur gleichberechtigten Teilhabe von Frauen.

Und solange diese Gesellschaft männlich dominiert ist von der Wahrnehmung der Medien bis hin zu den Verhaltensmustern in unserer Partei, ist dieses Mittel unentbehrlich.

Wir haben bei der Regierungsbildung erlebt, was passiert, wenn die Quote männlichen Karrierewünschen entgegensteht.

Wir haben die Quote eingeführt, um Frauen Platz in der ersten Reihe zu sichern. Für die politische Hausarbeit brauchen wir keine Quote.

Ich bin, liebe Freundinnen und Freunde, nicht zuletzt deshalb zu den Grünen gegangen, weil sie für eine konsequente Frauenpolitik stehen.

Und deshalb werde ich dafür kämpfen, daß es auch nach mir eine Frau an der Spitze der Bundestagsfraktion gibt - ganz egal, ob der Kanzler lieber mit Jungs Zigarren raucht.

Ich wünsche mir, daß wir alle wieder mehr kämpfen um gesellschaftliche Mehrheiten.

Ich wünsche mir, daß wir wieder weniger über die Leitartikel in den Zeitungen diskutieren und mehr über unsere Inhalte.

Ich wünsche mir, daß wir wieder Vertrauen in unsere eigene Stärke gewinnen.

Die Grünen waren nie bequem. Wir mußten immer gegen mächtige Platzhirsche ankämpfen.

Also laßt uns aufstehen, und wieder damit anfangen.

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