Frauen nach vorn - wir meinen es ernst
Emanzipation der Gesellschaft fängt bei uns an
Grüne Strukturvorschläge erreichen uns mittlerweise im 5-Minuten-Takt. Und Bild ist immer dabei... Der grüne Papierkrieg ist in vollem Gange. Zwischen "Rein in die neue Mitte" und "Raus aus der neuen Mitte" ist die virtuelle Marktlücke im Parteienspektrum noch nicht gefunden. Überall ruft es wie bei Hase und Igel: "Ich bin schon da."
Herr Westerwelle lädt ein zum Eintritt in die Dreipünktchenpartei. Der Machtkampf zwischen den selbsternannten Modernisierern und denen, die trotz Regierungsbeteiligung unverändert auf Kurs bleiben wollen und den Oppositionsreflex noch nicht ganz abgelegt haben, ist in vollem Gange. Mann gegen Mann. Was beide Seiten eint, ist die Tatsache, daß Frauenpolitik bestenfalls beiläufig erwähnt wird. Die 3. Säule der Grünen neben Friedens- und Umweltpolitik ist scheinbar out.
Die Durchsetzung der Interessen von Frauen ist auch bei Rot-Grün Schwerstarbeit
Im letzten Bundestagswahlprogramm hieß es noch vollmundig "Frauenpolitik für eine emanzipierte Gesellschaft". Was ist seitdem geschehen?
Ein langer Weg liegt hinter uns. Von der Protestpartei zur Programmpartei hat uns der Kampf um die Gleichberechtigung von Frauen begleitet. Nun sind wir Regierungspartei und orientieren uns am Machbaren.
Die Koalitionsvereinbarung verkündet noch einen " Neuen Aufbruch in der Frauenpolitik". Die Verhandlungen für einen neuen Gesellschaftsvertrag "Frauen wollen eine andere Politik" klingen den Schreiberinnen dieses Kapitels noch in den Ohren. Inzwischen holt sich die Ministerin manch blutige Nase im Kabinett. Sei es beim Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft oder beim Thema Gewalt gegen Frauen. Da ist der Kampf um die Einführung der RU 486 vergleichsweise harmlos. Hier steht frau nur gegen die Würdenträger der katholischen Kirche, einer zweitausend Jahre alten Männerdomäne, die über die Jahre in die Jahre gekommen ist.
Die Rechte der Mehrheit der Bevölkerung durchzusetzen, erweist sich auch unter Rot-Grün als Knochenarbeit. Wie sollte es auch anders sein. Die Entscheidungsgremien der Wirtschaft sind unverändert fast ausschließlich von Männern besetzt. Und ohne die Wirtschaft läuft in dieser Republik ganz offensichtlich gar nichts, es sei denn die Vergabe von Prüfaufträgen.
Bei der Regierungsarbeit beschäftigen wir uns aus Sicht der SPD vor allem mit Minderheitenthemen. Der Ausstieg aus der Atomenergie erweist sich als Jahrhundertwerk. Vor einer ökologisch sinnvollen Altautoverordnung ist der VW-Chef. Und selbst die Ukraine will beim Ausstieg aus der Atomkraft nicht mitspielen. Zeit für eine moderne Umweltpolitik - aber nur im Einvernehmen mit der Wirtschaft, meint die Mehrheit der Fraktion. Und bei sozialpolitischen Themen schreibt uns die Presse das Label "Rambos" zu.
Die Doppelspitze wird zum doppelten Sündenbock gemacht
Ein "Schrei nach Führung" ist für den "heimlichen" Vorsitzenden seit langem vernehmbar. Ob sich die Mitglieder der Bundestagsfraktion der "Bild am Sonntag" anvertrauen oder sich in den Berliner Hackeschen Höfen ein neues "Zentrum" bildet, die Frauen in der Doppelspitze seien schuld. Schließlich hätten sie es versäumt, der Partei mit Hilfe von Papieren rechtzeitig den Weg zu weisen, was in einer basisdemokratischen Partei im übrigen äußerst schwierig ist. Und daß für Äußerungen von Mitgliedern der Bundestagsfraktion nicht in erster Linie der Parteivorstand zuständig ist, auf die Idee kommt mann erst gar nicht.
Aktuell wird versucht, aus den Wahlniederlagen persönliche Schuld einzelner abzuleiten und Köpfe rollen zu lassen. Damit soll der Weg freigemacht werden für eine Struktur, in der dann EINER das Sagen hat, den Weg weist und Machtworte spricht. Keine neue Erscheinung. Steter Tropfen höhlt den Stein. Oder: Irgendwann ist die Basis mal weichgeklopft.
Hierbei riskiert mann ganz gewaltfrei politische Leichen: Frauen werden persönlich wie politisch demontiert; ein jeder sieht sich berufen, öffentlich ihre Kompetenz zu bewerten und seine ‚Mädels‘ als Lückenbüßerinnen so lange zu benutzen, bis ein nach seinem Gutdünken angeblich Besseres zur Verfügung steht.
Strukturreformen müssen überlegt in Angriff genommen werden und nicht als Reflexreaktion auf Wahlniederlagen. Inhaltliche Erneuerung muß auf Grundlage eines wohlgeplanten und innerparteilich breitgefächerten Diskussionsprozesses erfolgen - und eben nicht als Reflex auf "Modernisierungsgeschrei".
Das Ende der Flügelstreitigkeiten wird von allen Seiten eingefordert. Und wenn es keine zwei Flügel mehr gibt, wozu in aller Welt eine Doppelspitze? Die Forderung nach ihrer Abschaffung habe nichts mit der Frauenquote zu tun, so haben es alle maßgeblichen PolitikerInnen in Erfurt immer wieder betont. Haben sie sich also damit abgefunden, daß wir dann ausschließlich Frauen an der Spitze von Partei und Fraktion haben werden? Kaum zu glauben!
Die Doppelspitze als Integrationsinstrument
Die Doppelspitze vereinte seit ihrer Einführung die Strömungen der Partei - bis 1991 waren es drei. Folgerichtig gab es eine Dreifachspitze mit 2 Frauen und einem Mann. Seit der 13. BDK gibt es nur noch eine Doppelspitze mit mindestens einer Frau. Nicht nur bei Bündnis 90 /Die Grünen sind Spitzenteams Erfolgsmodelle. Auch andere Parteien blicken auf positive Effekte zurück. Tandems gibt es immer wieder, sei es bei Kohl/Schäuble, Schröder/Lafontaine oder jetzt bei Schröder/Müntefering. Die Doppelspitze ist eine Methode, um das politische Meinungsspektrum und den Zusammenhalt der Partei zu sichern. So können gemeinsame Ziele vermittelt und ein breites Meinungsspektrum vertreten werden.
Wer nun verkündet, sie sei kein gutes Instrument, aber als ‚kleineres Übel‘ zu akzeptieren, verspricht nur ein kurzfristiges Trostbonbon, damit ‚das Geschrei aufhört‘. Wir befürchten, daß mit einem Generalsekretär zusätzlich zum Geschäftsführer den SprecherInnen die zwei vor die Nase gestellt werden sollen, die dann das eigentlich Wichtige leisten und die SprecherInnen dieses dann als ihr Sprachrohr nur noch attraktiv-weiblich verkünden dürfen. So ist die Funktionsbezeichnung SprecherIn nicht zu verstehen. SprecherInnen sind Parteivorsitzende, auch wenn sie anders bezeichnet werden! Bundesgeschäftsführer oder GeneralsekretärInnen sollten den SprecherInnen den Rücken freihalten!
Satzungsmäßig verankerte Strukturen einhalten
Grüne Frauen haben sich mit viel Engagement ihre Rechte erkämpft. 1986 die paritätische Mindestbesetzung aller Gremien (50%-Quote), das Frauenstatut, quotierte Redelisten und schließlich analog zum Länderrat den Bundesfrauenrat, eine Mehrheit im Parteirat und seit Ende 1998 zwei Bundesvorstandssprecherinnen. Die Erfolge grüner Frauenpolitik sind Vorbild für Organisationen im In- und Ausland. Bevor die GRÜNEN in den Bundestag einzogen, hatte es 40 Jahre gedauert, bis der Frauenanteil von 6% auf 10% stieg. Dann ging es rapide bis auf heute über 30%. Selbst die CDU sah sich genötigt, zumindest ein Quorum zu verabschieden. Frauenquote, quotierte Redelisten und Frauenstatut sind keine alten Zöpfe, die es gilt abzuschneiden und bei der Entrümpelung des Dachbodens der Verwertung zuzuführen! Sie sind Instrumente, von denen Frauen in anderen Parteien, in der Wirtschaft und in der Wissenschaft bisher nur träumen können! Sie müssen in der Satzung verankert bleiben und auch auf jeder Ebene eingehalten werden.
Für eine neue politische Kultur im Kaminzimmer
Offensichtlich ist der Gedanke, sich mit Frauen des Partei- und Fraktionsvorstandes im Kaminzimmer zusammenzusetzen und Kompromisse auszudealen, für Männer wie Gerhard Schröder schrecklich. Klappt es nicht sofort, bescheinigt mann den Politikerinnen per Spiegel aus dem Kanzleramt, sie seien wohl unbefriedigt.
Die Umgangsformen eines Männerstammtisches sind jedoch nicht nur dem Bundeskanzler, sondern allen Frontmännern in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft sehr viel vertrauter als sich mit grünen Doppelspitzen-Frauen zurechtzufinden. Um nicht zu sagen, sie kennen eigentlich nur männerdominierte Gremien, in denen Frauen bestenfalls in untergeordneten Funktionen vorkommen. Auch beim Bündnis für Arbeit stört höchstens die grüne Gesundheitsministerin Andrea Fischer. Daß es dabei wegen der höheren Erwerbslosigkeit in erster Linie um Maßnahmen für Frauen gehen muß, darauf kommt aus diesem Kreis sonst offenbar niemand.
Die Grüne Partei wollte eine andere politische Kultur praktizieren, die Frauen die gleichberechtigte Teilhabe in allen Bereichen ermöglicht. Für eine andere Politik und für die Teilhabe von Frauen haben wir doch über Jahre versucht, sogenannte "private" Bereiche wie Lebensstile, selbstbestimmtes Leben und Kinder in die Politik einzubringen. Wir halten am Ziel einer menschenfreundlichen Politik fest und werden sie Schritt für Schritt in Realität umsetzen. Dafür müssen sich vor allen die Politiker ändern, nicht die Politikerinnen.
12% der 18-40jährigen Frauen haben uns bei der letzten Bundestagswahl gewählt - wegen grüner Inhalte. Besonders aber wegen der Frauenpolitik und der gelebten Demokratie, die Frauen nicht auf die hinteren Plätze verweist, sondern wo Frauen an der Spitze stehen. Diese Frauen zu enttäuschen, wäre auch strategisch fahrlässig.
Wir Grünen Frauen halten an unseren Forderungen und Zielen fest. Auch an der Doppelspitze. Sie ist nicht nur eine Errungenschaft hinsichtlich der Gleichberechtigung von Frauen, sondern auch hinsichtlich Team-Work und flacheren Hierarchien, die in der Managementlehre große Erfolge feiern. Dabei werden wir die Spitzenfrauen nicht zu Sprachrohren der ‚mächtigen Männer‘ degradieren lassen.
Frauenpolitische Forderungen müssen von der GESAMTEN Partei umgesetzt werden
In der Frauenpolitik gibt es kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungs-problem. Bündnis 90/Die Grünen sind gefragt, als Regierungspartei gemeinsam mit der SPD endlich die notwendigen Bedingungen zu schaffen, um die Gleichstellung von Frauen auch in der Privatwirtschaft auf den Weg zu bringen, Arbeitszeitverkürzungen für Männer und Frauen zu forcieren und damit den Männern zu ermöglichen, ihren Anteil an der Haus- und Erziehungsarbeit zu leisten, eine eigenständige, existenzsichernde Altersversorgung für Frauen zu schaffen und gesetzliche Regelungen zu treffen, damit Gewalt gegen Frauen wirksam bekämpft werden kann. Das ist nur ein Ausschnitt aus den Themenfeldern, die ganz dringend anzugehen sind.
Neben der Umsetzung alter, aber noch immer aktueller Ziele kommt es darauf an, Entwicklungen rechtzeitig zu erkennen. Ein solches Thema ist die Frage nach Chancen und Risiken für Frauen in der Informationsgesellschaft. Sie wird die gegenwärtigen Strukturen der Erwerbsarbeit grundlegend verändern. Hieran müssen Frauen erfolgreich partizipieren können. Die Debatte zum Grundsatzprogramm gibt Gelegenheit, sich zu neuen Themen zu positionieren.
Dabei muß jedes Thema auf seine Frauenverträglichkeit überprüft werden. Nachhaltigkeit bedeutet auch: nachhaltig im Sinne einer sozialen Umgestaltung, einer gesellschaftlichen Beteiligung beider Geschlechter! Hieran müssen sich nicht nur unsere langfristigen Programme, sondern unsere konkreten politischen Umsetzungsschritte und unser eigener Politikstil messen lassen.
Kein "weiter so" ist angesagt, sondern eine Regierungspolitik, die Interessen von Frauen offensiv vertritt. Dafür brauchen wir mehr Frauen und Männer an der Spitze der Partei und der Fraktion, die sich dieser alten, aber immer noch sehr zeitgemäßen und der neuen Themen annehmen und sie gemeinsam mit den frauenpolitischen Sprecherinnen auf allen Ebenen in die Öffentlichkeit bringen. Frauenpolitische Kompetenz muß wieder als solche gesehen werden. Frauenpolitisches Grundwissen muß im Sinne eines demokratischen Geschlechterverhältnisses notwendige Qualifikation für jeden Politiker und jede Politikerin sein.
Die Hälfte der Macht den Frauen
Untersuchungen haben ergeben, daß junge Frauen wenig Interesse an Politik haben. Um auf junge Frauen zuzugehen gibt es deshalb bei den Bündnisgrünen seit einem Jahr ein erfolgreich gestartetes Mentoringprogramm. Weibliche Vorbilder sind in allen Bereichen notwendig, damit junge Frauen sich in der Politik selbst auf den Weg machen. An männlichen Vorbildern mangelt es nicht.
Frauen erobern Parteien und Parlamente oder gründen ihr eigenes Unternehmen. Sie sind selbstbewußt und hervorragend ausgebildet. Und dennoch ist immer noch die erste Frage: Kann sie das überhaupt? Welche Qualifikationen bringt sie mit? Wird sie nicht bald schwanger? Hat sie nicht noch Kinder zu versorgen? Wer hat diese Fragen je an einen Mann gestellt? Erst wenn es - wie bei Männern - normal ist, daß sich gute, mittelmäßige und schwache Frauen in Politik, Verwaltung und Wirtschaft tummeln und die erste Reihe und die Hinterbänke füllen, haben wir unser Ziel erreicht. Erst dann sind wir bereit, ein weiteres Mal darüber zu diskutieren, ob es sinnvoll ist, die Doppelspitze beizubehalten.
Bis dahin gehört die Doppelspitze auch nach dem Umzug ins Berliner Wohnzimmer und nicht auf den Bonner Dachboden.
Berlin, 22.09.1999
Angelika Albrecht, frauenpolitische Sprecherin des Bundesvorstandes,
Gila Altmann, MdB
Gabriele Behrens, Präsidium Bundesfrauenrat Bü90/GRÜNE
Renate Backhaus, KV Lüneburg
Evelin Binne, KV Lüchow-Dannenberg
Marion Böker, KV Münster
Kirsten Böttner, Politische Geschäftsführerin des Landesvorstands Berlin
Franziska Conrad, KV Main-Stadt
Katharina Dickhaus, Berlin
Birgit Ebel, Sprecherin LAG Frauen NRW
Karin Emmrich, KV Mainz-Stadt
Friedel Grützmacher, MdL Rheinland-Pfalz
Simone Heitz, Kreisrätin Neckar-Odenwald-Kreis
Marianne Hürten, MdL NRW
Metha Jannssen-Kucz, MdL Niedersachsen
Sibyll Klotz, MdA Berlin
Anja Kofbinger, Frauenpolitische Sprecherin des Landesvorstands Berlin
Ina Korter, KV Wesermarsch
Karin Kurz, KV Mannhein
Sylvia Kotting-Uhl, KV Odenwald-Kraichgau
Cordula Leites, Landesvorstandssprecherin Hamburg
Sylvia Löhrmann, MdL und Parlamentarische Geschäftsführerin NRW
Sylvia Meyer, Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft Frauenpolitik
Kerstin Müller, MdB, Fraktionsvorsitzende
Regina Michalik, Landesvorstandssprecherin Bü90/GRÜNE Berlin
Iris Nürnberger, Sprecherin LAG Gesundheitspolitik NRW
Steffi Ober, Frauenpolitische Sprecherin des Landesvorstands Rheinland-Pfalz
Inke Pinkert-Sältzer, Landesvorstandssprecherin Brandenburg
Claudia Roth, MdB
Elke Sattler, KV Bielefeld
Irmingard Schewe-Gerigk, frauenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion
Regina Schmidt, Präsidium Bundesfrauenrat, MdA Berlin
Ulla Schnelling-Hebeler, MdL NRW
Beate Schumann, KV Lüchow-Dannenberg
Heide Simon, MdHB Hamburg
Bärbel Springer, KV Hannover-Stadt
Karin Trepke, Delegierte RLP Bundesfrauenrat
Marianne Tritz, Sprecherin KV Lüchow-Dannenberg
Felicitas Weck, KV Hannover
Bärbel Wilgermein, Fraktionsvorsitzende Rat der Gemeinde Lemgow
Manuela Wegener, Fraktionssprecherin BVV Berlin-Tiergarten
Ursula Wrona, KV Westerwald
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