Datum: 17.09.99, 11:15:39

Betreff: Laufzeiten


Liebe Freundinnen und Freunde,

der Vorschlag von Stefan Kohler, Leiter der Niedersächsischen Energieagentur, den er am vergangenen Freitag bei einer Diskussion der Heinrich-Böll-Stiftung machte, ist nicht neu. Er sieht vor, nicht länger auf der Festlegung einheitlicher Laufzeiten für die Atomkraftwerke zu bestehen, sondern die Frage für jede Anlage einzeln zu klären. Das Bundeswirtschaftsministerium, dass parallel dazu verkündete, es sähe eine Stillegung von AKWs in dieser Wahlperiode nicht als möglich an, begrüßte diesen Vorschlag. Auch innerhalb der GRÜNEN gibt es Stimmen, die den Ansatz von Kohler als eine diskussionswürdige Variante für einen möglichen Konsens ansehen.

Im folgenden einige Anmerkungen dazu:


· Sachlich könnte auf den ersten Blick für eine differenzierende Lösung sprechen, dass die Atomkraftwerke ihre bisherigen Laufzeiten recht unterschiedlich ausgenutzt haben (zwischen gut 50 und knapp 90 %, wenn man vom Sonderfall Mülheim-Kärlich absieht).

· Dies und das unterschiedliche Maß an Nachinvestitionen in den einzelnen Anlagen macht eine Einigung mit den Betreibern so schwierig. Diese sind geneigt, sich auf den größten gemeinsamen Nenner zu verständigen. Der liegt aktuell bei mindestens 35
Vollastjahren. Gegen die differenzierende Lösung spricht:

· Kernpunkt unserer Strategie ist: keine Zustimmungspflicht der Länder. Der differenzierende Ansatz unterläuft diese Strategie und macht den Ausstieg unter politischen Gesichtspunkten völlig unbeherrschbar. Er würde dem Bund den Ausstieg aus der Hand nehmen und in die Hände von Ländern wie Bayern, Baden-Würrtemberg und Hessen legen, die für den Vollzug des Atomausstiegs einschließlich der notwendigen Sicherheitsanalyse im Einzelfall verantwortlich wären. Es ist nicht vorstellbar, dass dieser Prozeß gegenüber den Ländern durch Weisungen des Bundes in jedem Einzelfall gesteuert werden könnte.

· Damit die Entsorgung auf Akzeptanz stößt, ist eine feste Begrenzung der Laufzeiten notwendig. Wenn die Betreiber - so
Kohler- "aufgrund eines von der Regierung definierten Sicherheitsstandards selbst entscheiden, welche Anlagen zu welchem Zeitpunkt stillgelegt werden sollen", sind die Mengen des zwischen- und endzzulagernden Atommülls nicht mehr zu kalkulieren. · Kohlers Ansatz stellt die Grundlagen eines Ausstieges in Frage. Bisher ging die Koalition davon aus, dass die Nutzung der Atomenergie wegen ihrer allgemeinen Risiken und nicht wegen spezieller Anlageprobleme nur noch für eine Übergangszeit hinnehmbar ist. Es geht bei den bisherigen Regelungsmodellen um einen generalisierenden Ausgangspunkt, dem man am besten dadurch Rechnung tragen kann, dass nur darauf abgestellt wird, ob die Investitionen der Betreiber amortisiertsind (was innerhalb von 25 Kalenderjahren einschließlich eines angemessenen Gewinns und eines gewissen Zuschlags für Unwägbarkeiten gewährleistet wäre). Eine sicherheitsmäßige Differenzierung kann nur eine gewisse Schwankungsbreite rund um ein auf Dauer eigentlich nicht akzeptabel angesehenes Sicherheitsniveau darstellen.

· Der differenzierende Ansatz würde das Risiko einer Unzahl an Prozessen und die Gefahr von Entschädigungen hervorrufen. Gibt es für eine gesetzliche Begrenzung von Laufzeiten nur eine Instanz - das Bundesverfassungsgericht - so wären hier flächendeckend Verfahren vor den Verwaltungs- und Zivilgerichten zu befürchten.

· Der Ausstieg würde auf lange Zeit verzögert und in einem Gutachtenkleinkrieg untergehen. Erforderlich wäre für eine differenzierte Regelung eine Analyse des aktuellen Sicherheitsstatus für alle Atomkraftwerke zum gleichen Zeitpunkt, unter gleichen Randbedingungen mit einheitlicher Vorgehensweise bei der Durchführung, Begutachtung und abschließenden
Bewertung. Eine solche Analyse wäre aber sehr zeitaufwendig und überstiege bei gleichzeitiger Durchführung bei Weitem die vorhandene gutachterliche Kapazität. Im übrigen gibt es für eine solche einheitliche Analyse zum Zweck eines Rankings der Atomkraftwerke keine anerkannten Maßstäbe.

· Eine pauschalierende Lösung hat den Vorteil der größeren Rechtsklarheit. Da formal jedes Kraftwerk gleich behandelt wird, ist der Argumentationsaufwand für die Pauschalierung im Prinzip geringer als für die Differenzierung. Der Zusammenhang zwischen Alter und Sicherheitsstandards ist mindestens so evident, wie ein notwendig abstrakter Sicherheitsstandard.

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