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Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW)

SAGT NEIN
zum "ungestörten Betrieb" von Atomkraftwerken

Bielefeld/Berlin/Heidelberg, 18. Juni 2000

Offener Brief an die Delegierten der Bundesdelegiertenkonferenz von Bündnis 90/Die Grünen am 23. Juni in Münster

"Unser erklärtes Ziel, die deutschen Kernkraftwerke zu wirtschaftlich akzeptablen Bedingungen weiterhin nutzen zu können, haben wir erreicht ... Die Bundesregierung wäre in der Lage gewesen, den Bestand und Betrieb der Kernkraftwerke nachhaltig zu beeinträchtigen." Dr. jur. Otto Majewski, Vorstandsvorsitzender der Bayernwerk AG, Präsident des Deutschen Atomforums

Sehr geehrte Grüne Delegierte!

In wenigen Tagen entscheiden Sie auf der Bundesdelegiertenkonferenz in Münster über den ausgehandelten Pakt mit der Atomwirtschaft.

Jahrzehntelanger Weiterbetrieb, kein einziges Atomkraftwerk geht kurzfristig vom Netz, Transportbereitstellungslager und neue Zwischenlager für den Atommüll, Festschreiben der längst überholten Sich erheitsstandards, Garantien für einen "ungestörten Betrieb", Festschreiben des Fehlens einer angemessenen Risikovorsorge durch volle Haftpflichtversicherung. Das ist in wenigen Worten das Verhandlungsergebnis.

Jede und jeder von Ihnen trägt persönlich die Verantwortung für die Entscheidung, ob dieses Diktat der Atomindustrie die Zustimmung durch die grüne Partei erfährt.

Sie persönlich müssen sich entscheiden, ob Sie die Atomindustrie unter Gefährdung der Gesundheit und des Vermögens der deutschen Bevölkerung mit weiteren Milliardengewinnen priviligieren oder ob Sie eine Politik der Risikovorsorge für die Bevölkerung betreiben wollen.

Das atomare Risiko ist real: Bei 19 Atomkraftwerken und einer durchschnittlichen Laufzeit von rund 30 Jahren tritt nach der offiziellen "Risikostudie Kernkraftwerke" ein Super-GAU in Deutschland mit einer Wahrscheinlichkeit von 2% ein. Allein aufgrund von technischem Versagen. D.h. Mit einer Chance von 1 zu 50 kommt es zum Super-GAU. Menschliches Versagen wie in Tschernobyl oder bei dem gefährlichen Störfall in Biblis 1987 ist hierbei noch gar nicht berücksichtigt.

Wollen Sie Ihre Zustimmung dazu geben, dass die Bevölkerung noch Jahrzehnte diesem Risiko ausgesetzt wird?

Verstehen Sie das unter Regierungsverantwortung?

Sie haben Medienprofis an die Spitze der Partei sowie in die Fraktion und Regierung gewählt. Diese können sich und die Regierungspolitik hervorragend verkaufen. Doch was haben sie politisch erreicht?

Die einfache Formel "wir machen Rot-grün" und schon läuft die Reformpolitik, hat sich als naive Wunschvorstellung herausgestellt. Es fehlte eine Strategie, um als kleinerer Koalitionspartner einen kurzfristigen Ausstieg aus der Atomenergie, wie er vor der Bundestagswahl versprochen wurde, durchzusetzen. Bis heute wird es versäumt, die Basis einer realpolitischen Macht zu organisieren:

Es gab keine professionellen strategischen Absprachen zwischen Regierungsmitgliedern, Fraktion und Partei mit dem Ziel, abgestimmt arbeitsteilig vorzugehen. Stattdessen wurde innerhalb weniger Monate der eigene Umweltminister demontiert. Die eigene Parteibasis wurde nicht "auf die Straße geschickt", um vor Ort in der Bevölkerung für einen schnellen Ausstieg zu werben. Stattdessen war die Erwartung an die Basis, stillhalten, abwarten, zustimmen. Es gab keine professionellen strategischen Absprachen mit dem gesellschaftlichen Umfeld, mit den befreundeten Verbänden. Stattdessen wurden Angebote von diesen schroff zurückgewiesen.

Und so wurde schlicht erwartet, dass Gerhard Schröder seinem kleinen Koalitionspartner freiwillig ein paar Brosamen zukommen läßt. Doch der tut das nicht. Das ehemalige Mitglied im Aufsichtsrat des Atomkraftwerksbetreibers PreussenElektra, der einen ehemaligen Manager der Muttergesellschaft VEBA zum Wirtschaftsminister machte, ist in der Atompolitik keinen Millimeter von seiner Position bzw. von der der Atomindustrie abgerückt.

Im Gegenteil: Die Atomindustrie erhält Bestandsgarantien, wie es die CDU besser nicht hätte machen können:

a.. Die Betriebsgenehmigungen der Atomkraftwerke werden faktisch nicht befristet. Die jetzt ein geräumte Stromproduktionsmenge, die real rund 35 Reaktorbetriebsjahre pro Reaktor beträgt, liegt weit jenseits dessen, was die Atomkraftwerksbetreiber als Laufzeit für einen wirtschaftlichen Betrieb angesetzt hatten.

b.. Die Atomindustrie soll Transportbereitstellungslager und neue Zwischenlager bekommen, weil sich die Polizei zunehmend weigert, den Atommüll durch die Republik in die Zwischenlager zu prügeln und weil die Castor-Transporte dem Image der Atomindustrie schaden.

c.. Die Zwischenlagerung von Atommüll soll als Nachweis für die Entsorgung des Atommülls genügen. Damit beseitigt die Bundesregierung die zentrale juristische Schwachstelle für die Atomindustrie, die wegen des nicht vorhandenen Endlagers den gesetzlich geforderten Entsorgungsvorsorgenachweis bei nüchterner Betrachtung nicht erbringen kann. Das völlig ungelöste Atommüllproblem könnte auf der Basis des geltenden Atomrechts zu einem Entzug der Betriebsgenehmigungen genutzt werden. Darauf allerdings verzichtet die Bundesregierung.

d.. Obwohl SPD und Grüne immer gesagt haben, der Salzstock Gorleben sei für eine Endlagerung von Atommüll ungeeignet, wird in der Vereinbarung Gorleben als geeigneter Endlagerstandort bezeichnet . Die Pilotkonditionierungsanlage in Gorleben soll genehmigt werden.

e.. Die Atomindustrie darf ihre Verträge für die Wiederaufarbeitung vollständig einhalten und dann auf die von den Betreibern seit Jahren ohnehin favorisierte billigere Zwischenlagerung (mit anschließender potenzieller Endlagerung) umsteigen.

f.. Das beabsichtigte Verbot des Neubaus von Atomkraftwerken in Deutschland kann von jeder künftigen Bundesregierung bei Bedarf wieder aufgehoben werden. Aber aus heutiger Sicht möchte die Atomindustrie ohnehin nicht mehr in neue teure Atomkraftwerke in Deutschland investieren. Anfang der 90er Jahre ist ein "parteiübergreifender Konsens" noch an den Grünen und an der SPD gescheitert, weil diese keine Zukunftsoption für die Atomenergie offenhalten wollten. Dieser rot-grüne Konsens enthält aber genau diese Zukunftsoption: "Die Forschung auf dem Gebiet der Kerntechnik, insbesondere der Sicherheit, bleibt frei." Unter der Bezeichnung "Sicherheitsforschung" entwickelt Siemens mit Framatome beispielsweise den "Europäischen Druckwasserreaktor (EPR)" und es lassen sich deutsch-russische Dumping-Atomkraftwerke (z.B. WWER-640) weiterentwickeln, die in den nächsten Jahren in Osteuropa gebaut werden können (mit Atomstromimporten nach Deutschland). Diese Vereinbarung ermöglicht explizit die Entwicklung neuer Atomkraftwerke!

g.. Eine Erhöhung der Deckungsvorsorge auf nur 5 Milliarden DM – das sind weniger als 0,1% der vom Bundeswirtschaftsministerium erwarteten Schadenshöhe eines Großunfalls – befreit die Atomindustrie weiterhin von der Verpflichtung der angemessenen Risikovorsorge. Die Bevölkerung trägt weiterhin das Risiko, damit die Gewinne der Aktionäre nicht leiden.

h.. Alle 10 Jahre sollen Sicherheitsüberprüfungen bei den Atomkraftwerken durchgeführt werden, wie es bereits gängige Praxis ist. Allerdings muss sich die Bundesregierung verpflichten, den heutigen "Sicherheitsstandard und die diesem zugrunde liegende Sicherheitsphilosophie" nicht zu verschärfen und einen "ungestörten Betrieb" der Atomkraftwerke zu gewährleisten. Die bereits seit 10 bis 20 Jahren überholten Sicherheitsstandards sollen also im wesentlichen für weitere 20 bis 30 Jahre fortgeschrieben werden, ohne die neueren Erkenntnisse etwa über die hohe Eintrittswahrscheinlichkeit und die Folgen von Hochdruckkernschmelzen und Wasserstoffexplosionen angemessen zu berücksichtigen. Dies steht im Widerspruch zum geltenden Atomrecht, das einen Sicherheitsstandard nach dem jeweils aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik verlangt. Eine CDU-geführte Bundesregierung hätte es (mit den Grünen in der Opposition) vermutlich niemals gewagt, zuzusichern, dass der heutige Sicherheitsstandard auf Jahrzehnte festgeschrieben wird.

Und von Privilegien wie den steuerfreien Rückstellungen für Atomkraftwerke ist in der Vereinbarung erst gar nicht die Rede. Auch gibt es keine Klauseln, um den Import von billigem Atomstrom aus Osteuropa oder Frankreich einzuschränken.

Die Vereinbarung ist im übrigen im Kontext mit weiteren atompolitischen Entscheidungen zu sehen. So gab das Auswärtige Amt vor wenigen Monaten seine Zustimmung für Hermes-Bürgschaften für den Neubau (!) von zwei 1000-Megawatt-Atomkraftwerksblöcken in China. So gibt es in der Bundestagsfraktion offenbar bereits eine Verständigung darüber, der Lieferung der Hanauer MOX-Fabrik von Siemens an Russland zuzustimmen, mit der auf Jahrzehnte hinaus Kernbrennstoffe für Atomkraftwerke in Russland und in Westeuropa produziert werden sollen (statt das Waffenplutonium aus dem Verkehr zu ziehen). Und so wird eine Pro-Atom-Entscheidung der anderen folgen, wenn jetzt nicht die Notbremse gezogen wird!

Es ist unerträglich, wenn grüne Spitzenpolitiker diesen Pakt mit der Atomindustrie als "Atomausstieg" bezeichnen. Es ist unerträglich, wenn jetzt selbst Trittin vom Primat der Politik spricht, statt den Primat der Konzerne anzuprangern.

Jetzt wird versucht, die Vereinbarung zumindest in Teilen als Erfolg zu verkaufen. Und es wird die Hoffnung genährt, die Atomindustrie könnte aus wirtschaftlichen Gründen Atomkraftwerke vorzeitig abschalten. Aber welchen Sinn macht es dann, mit dieser Vereinbarung die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die Atomindustrie entscheidend zu verbessern?

Diese Vereinbarung hat mit einem Atomausstieg nichts, aber auch rein gar nichts zu tun. Vielmehr handelt es sich um einen Knebelvertrag, der es dem grünen Umweltministerium beispielsweise verbietet, die Sicherheitsstandards entscheidend zu verbessern.

So ist es nicht unwahrscheinlich, dass es in den kommenden 10, 20, 30 Jahren in einem der älter werdenden Atomkraftwerke zum Super-GAU kommt. Daher:

SAGT NEIN zu diesem Pakt mit der Atomwirtschaft!

Parteitaktische Erwägungen dürfen jetzt nicht den Ausschlag bei dieser Entscheidung geben! Es ist klar, dass Jürgen Trittin und andere gerne Minister und die Abgeordneten gerne Mitglieder einer Regierungsfraktion bleiben wollen. So wird von dieser Seite mit vielen geschickten Argumenten für die Vereinbarung mit der Atomindustrie geworben. Im kreativen "Vermitteln" von schlechten Verhandlungsergebnissen gibt es inzwischen ja auch reichlich Erfahrung.

So wird jetzt beispielsweise begonnen, die Vereinbarung zu interpretieren. Ein Abbau von Privilegien etwa bei der Besteuerung von Kernbrennstoffen oder eine gewisse Verbesserung der Sicherheitsstandards im Rahmen einer Fortschreibung der Richtlinien für die Sicherheitsüberprüfungen sei durch die Vereinbarung nicht ausgeschlossen, heißt es. Dies ist theoretisch ja richtig. Es wäre allerdings völlig naiv anzunehmen, Bundeskanzler Schröder lasse diesen Interpretationsspielraum, der dem Geist dieser Vereinbarung widerspricht, in der Praxis zu. Diese Vereinbarung hat ganz eindeutig das Ziel, einen ausstiegsorientierten Gesetzesvollzug des Bundesumweltministeriums zu unterbinden.

Das Verhandlungsergebnis ist eine Katastrophe. Ihre Spitzenleute haben ihren Job nicht gut gemacht. In jedem Unternehmen müßte das Führungspersonal, das seine Aufgaben derart verfehlt, sofort seinen Hut nehmen.

Jürgen Trittin wird es in Münster ebenso wie in Karlsruhe meisterhaft verstehen, eine Stimmung für diesen Pakt mit der Atomindustrie zu erzeugen. Aber warum sollten Sie jetzt erneut Ihre Entscheidung von seiner Rede abhängig machen? Mit geübter Rhetorik ist aus jedem Verhandlungsergebnis etwas Positives herauszuziehen und es als kleineres Übel darzustellen. Und mit der Angst vor einem Koalitionsbruch und vor einem Weg der Partei in die Bedeutungslosigkeit läßt sich jede beliebige Politik legitimieren.

Haben wir nicht gemeinsam jahrelang die FDP verhöhnt und verspottet, weil sie in der Kohl-Regierung zuletzt wegen des Machterhalts fast alles mit sich machen ließ? Welchen Sinn macht es, neben dem Original noch eine zweite FDP mit grünem Anstrich zu haben?

Auch eine 6%-Partei muss sich in einer Koalition an zentralen Punkten, für die sie gewählt wird, substanziell durchsetzen. Sonst besteht ihre Funktion nur noch in der Bereitstellung von begehrten Mandaten und Posten. Dann allerdings erweist eine Partei der Demokratie einen gefährlichen Dienst. Politikverdrossenheit und das Potenzial der Nichtwähler/innen könnten durch den "politisch-moralischen Niedergang" der Grünen eine kritische Schwelle überschreiten. Mit ungewissem Ausgang für diese Gesellschaft. Immer mehr Menschen wissen heute nicht mehr, wen sie wählen sollen. Irgendwann kann sich das ein Ventil suchen, welches wir uns alle nicht wünschen.

Die Menschen wenden sich immer stärker von den Grünen ab. Die einst sehr starke Ausstrahlung der Grünen, für ethisch motivierte Ziele zu kämpfen, statt für den eigenen Machterhalt, geht immer mehr verloren. Einst konnten Sie die heimliche Anerkennung selbst von Menschen genießen, die Sie zwar nicht gewählt haben, die aber das konsequente Eintreten für ethisch motivierte politische Ziele bewunderten und respektierten. So wurde beispielsweise der Atomausstieg im Laufe der Jahre sogar mehrheitsfähig.

Natürlich werden Sie von den Medien beschimpft und als weiterhin unberechenbare und dogmatische, noch nicht erwachsen gewordene Basis bezeichnet werden, wenn Sie die Vereinbarung mit der Atomindustrie ablehnen. Interessant beispielsweise, wie in den vergangenen Tagen einzelne Medien bereits gegen vermeintliche "Anti-Atom-Hardliner" bei den Grünen polemisierten, statt sachlich über den Meinungsbildungsprozeß in der Partei zu berichten. Hingegen ist Ihnen das Lob der Medien gewiss, wenn Sie sich als "verläßlicher Partner" der SPD Ihrer "Regierungsverantwortung" bewußt sind. Sie müssen sich entscheiden, ob Sie den leichten Weg der opportunistischen Anpassung oder den schwierigeren Weg des eigenen Profils gehen wollen.

Sie sind mit der Anti-AKW-Bewegung groß geworden, Sie sind ein Teil dieser Bewegung. Sie sind nicht zuletzt deshalb in den Bundestag und in diese Bundesregierung gekommen, weil Sie das Vertrauen und die Unterstützung der Anti-AKW-Bewegung hatten. Wir dürfen Sie daran erinnern, dass der Skandal um die Castor-Transporte und die Wiederbelebung der Diskussion um die Atomenergie 1998 maßgebliche Stimmengewinne bei der letzten Bundestagswahl gebracht hat.

Zu Oppositionszeiten haben die Grünen wesentlich dazu beigetragen, dass der Betrieb von Atomkraftwerken nicht reibungslos lief, dass die Sorgen und Nöte der Atomindustrie von Tag zu Tag größer wurden. Die damaligen Nadelstiche, auf die jetzt verzichtet werden soll, waren äußerst erfolgreich. Die frühere Angst der Atomindustrie vor einer Regierungsbeteiligung der Grünen ist inzwischen allerdings der Genugtuung über die verloren gegangene Kraft dieser Partei gewichen.

Es kann nicht angehen, dass Sie unter Gefährdung von Gesundheit und Eigentum der Bevölkerung dem jahrzehntelangen Weiterbetrieb der Atomkraftwerke Ihre Zustimmung geben.

Diese Vereinbarung ist kein Kompromiss, sondern eine umfassende Bestandsgarantie für die deutschen Atomkraftwerke.

Wir bitten Sie eindringlich, sagen Sie NEIN zu diesem Pakt mit der Atomwirtschaft. Sie sind es den unter Krebs und materieller Not leidenden Menschen in der Tschernobyl-Region und vor allem unserer von Atomkraftwerken real bedrohten Bevölkerung schuldig.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Angelika Claußen (Vorsitzende)

Dr. Jürgen Hölzinger (Siemens-Ausstiegshilfe)

Henrik Paulitz (Kampagne Atomausstieg)

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