An die BDK-Delegierten von

Bündnis90/Die Grünen

Hamburg, 19. Juni 2000

Liebe Delegierte,

auf der Bundesdelegiertenkonferenz am kommenden Wochenende müssen Bündnis90/Die Grünen über die Zustimmung oder Ablehnung des Atomkompromisses von Bundesregierung und Atomindustrie entscheiden.

Kompromisse sind Alltagsgeschäft der politischen Parteien beim Regieren. Bei der in der vergangenen Woche getroffenen Vereinbarung handelt es sich jedoch nicht um einen Kompromiss, sondern um eine fast völlige Aufgabe umweltpolitischer Positionen gegenüber den Interessen der Stromwirtschaft. Mit der Zustimmung zu dieser Vereinbarung würden Bündnis90/Die Grünen ihre Vorreiterrolle in der Umweltpolitik aufgeben. Parteien, die Umweltpolitik zwar in Sonntagsreden herausstellen, im Zweifelsfall jedoch den Schutz von Mensch und Umwelt den Forderungen der Wirtschaft opfern, gibt es in Deutschland in allen Farben. Ab demnächst auch in Grün?

Beispiel Restlaufzeiten: Der von vielen Spitzen-Grünen als historischer Schritt bezeichnete Atom-Kompromiss "schädigt die Unternehmen wirtschaftlich nicht" (O-Ton VEBA-Chef Ulrich Hartmann). Die Umwelt schädigt er jedoch erheblich. Denn die festgelegte Strommenge von rund 2620 TWh heißt: es ist erst Halbzeit bei der Atomenergienutzung. Rund dreißig weitere Jahre atomares Unfallrisiko liegen demnach noch vor uns. 7.000 zusätzliche Tonnen hochradioaktiver Müll werden produziert.

Greenpeace tritt nicht für den Sofortausstieg ein. Dies haben wir auch bei den Atomkonsensgesprächen 1993 deutlich gemacht. Doch die jetzt vereinbarten Laufzeiten sind viel zu lang. Die Behauptung, die ausgehandelte Strommenge entspreche Reaktorlaufzeiten von 32 Jahren ist falsch. Greenpeace und die Stromkonzerne sind sich einig (was wirklich selten vorkommt), dass die ausgehandelten 2620 TWh etwa 35 Jahren Laufzeit entsprechen. Das ist weit entfernt von den "höchstens 30 Jahren", die der grüne Parteitag in Karlsruhe beschlossen hat, und liegt auch über den 30 Kalenderjahren, die die SPD für entschädigungsfrei machbar hält. Wohl um das Gesicht zu wahren, wurde die Zahl der Kalenderjahre im Konsenspapier durch Rechentricks nach unten gedrückt, indem eine unrealistisch hohe Auslastung der AKWs von 92% im Durchschnitt (!) für die kommenden Jahre und Jahrzehnte unterstellt wurde. Legt man eine realistische Auslastung zugrunde, so würde das bei gleichmäßiger Strommengenverteilung bedeuten, dass selbst Obrigheim (Mitte 2003) und Stade (2005) deutlich bis in die nächste Legislaturperiode betrieben werden können. Auch in der übernächsten Legislaturperiode würden nur zwei weitere Reaktoren vom Netz gehen (s. Anlage). Der Ausstieg würde erst in über zehn Jahren richtig in Gang kommen. Soweit der theoretische Abschaltplan.

 

 

 

 

De facto legt die Vereinbarung kein einziges verbindliches Datum für die Abschaltung auch nur eines einzigen Reaktors fest. Kein AKW wird noch vor der nächsten Wahl an die Grenzen seiner Strommenge geraten. Wie folgenlos ein Ausstiegsbeschluss sein kann, der keine konkreten Reaktorabschaltungen zur Folge hat, zeigt das Beispiel Schweden. Ein Ausstieg, der erst mehr als zehn Jahre nach dem Beschluss richtig in Schwung kommt, läuft große Gefahr, nie stattzufinden.

Beispiel Wiederaufarbeitung: Mit dem ausgehandelten Deal wird die größte radioaktive Umweltverschmutzung in Europa - die Wiederaufarbeitung - nicht vorzeitig beendet. Noch weitere fünf Jahre darf Atommüll nach La Hague und Sellafield abgeschoben werden - bis alle bestehenden Verträge erfüllt sind. Nach dem 1. Juli 2005 darf der angelieferte Müll noch wiederaufgearbeitet werden. Dabei ist der entschädigungsfreie Ausstieg aus der Wiederaufarbeitung per Gesetz machbar. Das sagen Rechtsgutachten der niedersächsischen Landesregierung (unter Ministerpräsident Schröder), Rechtsgutachten des BMU und Rechtsgutachten von Greenpeace. Aber: der Ausstieg aus der WAA geht nicht im Konsens. Also wird er nicht gemacht und Ärmelkanal, Irische See und Nordsee weiter als Endlager für radioaktiven Abfall mißbraucht. Ab sofort mit dem Segen der Grünen.

Die ausgehandelte Atom-Vereinbarung ist nicht die Zäsur, der atompolitische Richtungswechsel, als die er in den letzten Tagen dargestellt wurde. Atomenergie ist in Deutschland bereits seit zwanzig Jahren ein Auslaufmodell. Der letzte AKW-Neubau wurde 1980 in Auftrag geben. Um diese Trendwende zu erreichen, sind gar keine Zugeständnisse an die Industrie mehr nötig. Eine Trendwende ist schon lange erreicht.

Der Atom-Kompromiss ist auch nicht "ein kleiner Schritt in die richtige Richtung" (Zitat Renate Künast) im Kampf um den Atomausstieg. Im Gegenteil: er wäre ein Schritt in die falsche Richtung. Durch den jahrzehntelangen Weiterbetrieb der AKWs wird der Einstieg in andere Energieformen für genau denselben langen Zeitraum blockiert. Wie sollen regenerative Energien, wie soll Strom aus Kraft-Wärme-Kopplung gegen Atomstrom konkurrieren können, wenn z.B. indirekte Subventionen für den Atomstrom nicht abgebaut werden? Das Kompromiss-Papier ist gespickt mit Zugeständnissen, die in der Praxis das Ende der grünen Handlungsfähigkeit in der Atompolitik bedeuten. Eine Zustimmung zu dieser Vereinbarung wäre deshalb kein kleiner Schritt in die richtige Richtung, sondern der Schlußstrich unter 20 Jahre grüne Anti-Atompolitik, weil alle weiteren Handlungsmöglichkeiten durch den Konsens gleichzeitig politisch aufgegeben werden:

  • Abbau indirekter Subventionen: Mit der Zusage "Kernenergie nicht durch einseitige Maßnahmen im Steuerrecht zu diskriminieren", würde die Möglichkeit einer Kernbrennstoff-Steuer in unerreichbare Ferne rücken. Ebenso aufgegeben würde das Instrument eines Rückstellungsfonds. Eine neue Studie des Wuppertal-Instituts zeigt, dass ein erheblicher Teil der AKWs keine Gewinne im Stromgeschäft mehr macht, sondern nur durch die hohen Zinsgewinne aus den Rückstellungen wirtschaftlich ist. Ein Rückstellungsfonds, z.B. nach Schweizer Vorbild, würde den EVUs die Verfügungsgewalt über die Rückstellungen entziehen und damit mehrere Reaktoren auf einen Schlag in die roten Zahlen drücken.
  • Sicherheitsorientierter Vollzug des Atomgesetzes: Als mit Joschka Fischer der erste grüne Minister Verantwortung für die Sicherheit von Atomanlagen übernahm, wurde das, was im Atomgesetz seit Jahren nur geduldig auf dem Papier stand, in die Praxis umgesetzt:

    Sicherheit ging vor, im Zweifelsfall auch vor den wirtschaftlichen Interessen der Betreiber von Hanau und Biblis. Das hat Siemens und RWE natürlich gestört. Mit der Unterschrift unter das Konsenspapier verabschieden sich Bündnis90/Die Grünen vom sicherheitsorientierten Vollzug. Zwar nicht rechtlich - im Atomgesetz wird weiterhin dieselbe Passage vom dynamischen "Stand von Wissenschaft und Technik" auf dem geduldigen Papier stehen-, aber politisch. Denn ab sofort stimmen Bündnis90/Die Grünen (so das Konsenspapier) mit den AKW-Betreibern darin überein, dass die Atomkraftwerke "auf hohem Sicherheitsniveau" betrieben werden. Und garantieren deswegen den "ungestörten Betrieb der Anlagen". Sie verpflichten sich außerdem, "keine Initiative zu ergreifen, um den Sicherheitsstandard oder die Sicherheitsphilosophie zu ändern". Zwar soll es in Zukunft eine gesetzliche Pflicht zur Sicherheitsüberprüfung geben. Doch Maßstab für die Prüfungen soll ein von Angela Merkel entwickelter Leitfaden sein. Dieser Maßstab soll nur noch in Absprache mit "den Ländern, der Reaktorsicherheitskommission und den Betreibern der AKWs" geändert werden. Wenn man weiß, das neun Reaktoren eine solche Prüfung in den letzten Jahren ohne Probleme überstanden haben, wird schnell klar, dass diese Sicherheitsüberprüfungen kein wirksames Instrument zur schnelleren Abschaltung der Reaktoren sein werden.
  • Entsorgung: Wiederaufarbeitung und Zwischenlagerung sind keine wirklichen Lösungen für das Atommüllproblem. Wenn diese Abschiebemöglichkeiten wegfallen, sind die meisten Reaktoren schnell am Ende. Das hat der Castor-Transportstopp gezeigt. Laut Kompromisspapier soll all dies weiter erlaubt sein. Zwischenlagerhallen sollen in riesigen Mengen zusätzlich entstehen. Die getroffene Vereinbarung enthält keinerlei Begrenzungen für die Größe dieser Hallen. Castor-Behälter sollen in Betongaragen direkt auf dem AKW-Gelände abgestellt werden dürfen. Jahrelang. Dieser Entsorgungspfusch wird im Konsenspapier akzeptiert. Halten Bündnis90/Die Grünen Castor-Behälter plötzlich für sicher? Warum? Wenn der nächste Castor nach Gorleben rollt, wo werden die Grünen dann stehen? Vor dem Transport oder hinter ihrem Minister?

Aus Sicht von Greenpeace bedeutet die Atom-Vereinbarung: 35 Jahre Bestandsschutz für die bestehenden Atomkraftwerke und Bestandsschutz für die Wiederaufarbeitung bei gleichzeitiger Aufgabe aller wichtigen politischen Handlungsmöglichkeiten. Diejenigen, die behaupten, der Konsens sei ein Zwischenschritt auf dem Weg zum Ausstieg, sind bisher die Antwort schuldig geblieben, welches ihrer Meinung nach die weiteren Schritten sein könnten. Wer diesem Kompromiss zustimmt, muß solche Optionen aufzeigen können. Ein "Atomkonsens", bei dem die wichtigste Zahl, nämlich der Abschalttermin der AKWs nicht abschließend geregelt ist, läßt alle atompolitischen Optionen offen. Ein derartiges Ergebnis sollte für Bündnis90/Die Grünen nicht akzeptabel sein. Mit Greenpeace wird es keinen Konsens über den jahrzehntelangen Weiterbetrieb der Anlagen, die Fortsetzung der Wiederaufarbeitung und die Sicherheit der Castor-Behälter geben.

Greenpeace fordert die Delegierten von Bündnis 90/Die Grünen auf, die Vereinbarung abzulehnen.

Mit freundlichen Grüßen,

 

Roland Hipp Susanne Ochse

Bereichsleiter Energie Energiebereich

 

Anlage:

AKW Reststrommenge Restlaufzeit Gesamtlaufzeit Abschaltung

(ab 1.1.2000) (auf Basis des bisher
durchschnittlich erreichten
Strommengen)

 

 

1. Wahlperiode kein Reaktor wird abgeschaltet

Obrigheim 8,7 TWh 3,8 Jahre 35 2003

Stade 23,2 TWh 5,1 Jahre 33 2005

 

2. Wahlperiode 2 Reaktoren

Biblis A 62,0 TWh 9,3 Jahre 35 2009

Neckarwestheim 1 57,3 TWh 10,6 Jahre 34 2010

3. Wahlperiode

Biblis B 81,5 TWh 11,6 Jahre 35 2011

Unterweser 118,0 TWh 13,7 Jahre 35 2013

Isar 1 78,3 TWh 14,2 Jahre 37 2014

 

4. Wahlperiode

Philippsburg 1 87,1 TWh 15,8 Jahre 36 2015

Grafenrheinfeld 150,0 TWh 16,4 Jahre 35 2016

Gundremmingen B 160,9 TWh 19,0 Jahre 34 2018

Brunsbüttel 47,7 TWh 19,1 Jahre 43 2019

Krümmel 158,2 TWh 19,5 Jahre 36 2019

Philippsburg 2 198,6 TWh 19,7 Jahre 35 2019

Grohnde 200,9 TWh 19,4 Jahre 35 2019

Gundremmingen C 168,3 TWh 20,3 Jahre 36 2020

Brokdorf 217,9 TWh 22,1 Jahre 36 2022

Emsland 230,1 TWh 22,1 Jahre 34 2022

Isar 2 231,2 TWh 23,3 Jahre 35 2023

Neckarwestheim 2 236,0 TWh 23,5 Jahre 35 2023

      zurück