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Brief von Antje Radcke an die Partei

Liebe Freundinnen und Freunde,

am 15. Juni 2000 hat der Bundesvorstand von Bündnis 90 / Die Grünen einen Beschluss zur Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und der Atomwirtschaft gefasst und Euch am gleichen Tag zugeleitet. Dieser Beschluss impliziert eine einheitliche Sichtweise der Bundes-vorstandsmitglieder zur Sache, zumal das Abstimmungsergebnis nicht benannt wurde. Der Beschluss wurde mit drei Ja-Stimmen angenommen, ich habe dagegen gestimmt. (Angelika konnte an der Sitzung leider nicht teilnehmen.)
Ich schreibe Euch diesen Brief, um Euch meine ablehnende Haltung jenseits des ganzen Presserummels (da geht zu viel verloren) zu erläutern.

In der Sache werden Euch die einschlägigen Argumente, die gegen diesen Konsens in der Debatte sind, bekannt sein, ich will sie nur kurz skizzieren:

· Die vereinbarten Laufzeiten sind mit 32 Jahren deutlich jenseits von dem, was die Koalition als maximale Laufzeit vereinbart hat. Ihr werdet Euch an die sehr schwierige Debatte in Karlsruhe erinnern. Wir haben die 30 Jahre nicht als Verhandlungsangebot beschlossen, sondern als äußerste Grenzlinie für einen von uns noch tragbaren Verhandlungsabschluss. Diese Linie ist zusammen mit der SPD festgelegt worden, sie galt und gilt als "dissenssicher", es gibt aus meiner Sicht keinen Grund dafür, einen Konsens zu akzeptieren, der sich ohne Not außerhalb der von uns beschlossenen und mit der SPD vereinbarten Restlaufzeiten bewegt.

· Auch die Berechnungsgrundlagen der Laufzeiten entsprechen nicht dem Geist unseres BDK-Beschlusses. Wir hätten es niemals zugelassen, statt der durchschnittlichen Verfügbarkeit der AKW die besten - also produktivsten - 5 Jahre der letzten 10 Jahre als Umrechnungsfaktor für Strommengen heranzuziehen.

· Auf die sich so ergebenen Strommengen wird nochmals 5,5% draufgeschlagen, um einer vermeintlich zu erwartenden "technischen Optimierung" Rechnung zu tragen.
Einmal abgesehen davon, dass ein derartiger Zuschlag ebenfalls nirgendwo in unserer Beschlusslage auftaucht, ist in meinen Augen besonders der Begründungszusammenhang aus grüner Sicht perfide: Jede "technische Optimierung" eines AKW darf ausschliesslich der Erhöhung von Sicherheitsstandards dienen und nicht der Erhöhung der Produktivität. Und einmal angenommen, diese Produktivitätssteigerung findet nicht statt - einzig eine Verlängerung der tatsächlichen Betriebsdauer der Meiler ist die Folge.

· Die Laufzeitvereinbarungen haben in Summe zur Folge, dass die für die Zukunft vereinbarte Atomstrommenge von über 2600 TWh die bis jetzt erzeugten ca. 2500 TWh übersteigt. Für die deutschen Atommeiler ist noch nicht einmal "Halbzeit".
Strahlenbelastung, Atommüll und Störfälle werden sich also noch mehr als verdoppeln - aus grüner Sicht nicht akzeptabel.

· Ein festgelegtes Ende, einen Deckel, hat der Betrieb von Atomkraftwerken in Deutschland nicht. Wir wissen also mit Abschluss dieses Vertrages nur eines:
Sollte ein AKW zum Beispiel wegen eines Störfalls ausfallen, läuft nach der nicht gedeckelten Strommengenlogik dieses Vertrages ein anderes weiter. Dabei muss noch nicht mal ein neueres AKW ein älteres ersetzen, Strommengen sind im
Falle eines Ausfalls auch von neueren auf ältere Anlagen zu übertragen.

· Auch unsere Beschlusslage zu Mühlheim-Kärlich war eindeutig: "... dass das nicht genehmigungsfähige AKW Mühlheim-Kärlich bei der Berechnung von Strommengen nicht berücksichtigt werden darf." Dieses AKW soll nun dennoch
107.250.000.000 kWh "virtuellen" Strom produzieren dürfen, der die Laufzeiten der anderen Meiler zusätzlich verlängert.

· Die Ausführungen zu Sicherheitsstandards sind hochgradig bedenklich. Eine Verpflichtung der Bundesregierung, in den nächsten 25 Jahren nichts am "Sicherheitsstandard und der diesem zugrundeliegende Sicherheitsphilosophie" zu ändern, ist angesichts der Geschwindigkeit technischer und wissenschaftlicher Entwicklungen absurd. Was soll denn geschehen, wenn sich wissenschaftlich klarer der Zusammenhang zwischen Leukämie und Atomkraftwerken belegen lässt? Welche Handlungsmöglichkeiten hat eine Bundesregierung auf dieser Grundlage, wenn sich technische Möglichkeiten ergeben, die Gefährdung der Bevölkerung durch Atomstromproduktion zu minimieren? Das muss alles im Vorfeld geklärt werden und
darf nicht hinterher Interpreten von Konsensverträgen überlassen werden.

· Alle Regelungen, die Gorleben und Schacht Konrad betreffen, fallen hinter die Beschlusslage der Partei und den Koalitionsvertrag zurück und sind in ihren definierten Konsequenzen ungenügend. Eine "Denkpause" von 3-10 Jahren ist
kein politischer Akt, es kennzeichnet lediglich Entscheidungsunfähigkeit oder -angst. Gerade in der Endlagerfrage kommen wir nur mit verbindlichen, klaren Aussagen weiter.

· In Zukunft muss jedes Regierungshandeln durch einen Filter, der sich aus der Formulierung ergibt: "Die Bundesregierung wird keine Initiative ergreifen, mit der die Nutzung der Kernenergie durch einseitige Maßnahmen diskriminiert wird."
Was bedeutet das? Wer hat oder erhält die Definitionsmacht über die Frage, ob ein atomfeindliches Handeln vorliegt? Und wer entscheidet im Streitfall?
Und wie habe ich mir grüne Energiepolitik vorzustellen, die diesen Anforderungen der Atomwirtschaft gerecht wird?

· In dieser Legislaturperiode werden durch Regierungshandeln kein AKW und in der kommenden Legislaturperiode lediglich zwei abgeschaltet.

Zusammenfassend komme ich also zu dem Schluss, dass die Anforderungen, die die Partei an eine Konsenslösung gestellt hat, in nur unzureichender Weise erfüllt worden sind. Neben den Sachargumenten sehe ich schon allein aus diesem Grund als
Mitglied des Bundesvorstandes keine Möglichkeit der Zustimmung, solange nicht ein neuer BDK-Beschluss dafür die Legitimation gibt.

Die Frage ist nun, ob ich auf der BDK für diese Legitimation werbe. Denn es geht ja hier nicht um Prinzipienreiterei, sondern um die Frage, ob die Partei unter den gegebenen Bedingungen nicht vielleicht doch gut beraten wäre, den Karlsruher Beschluss zu revidieren, um der Mehrheitsmeinung des Bundesvorstandes zu folgen. Mir fällt eine derartige Entscheidung trotz meiner starken inhaltlichen Bedenken nicht leicht. Ihr wisst, dass ich in der Vergangenheit als Sprecherin der Partei Mehrheitsentscheidungen der Partei und seines Vorstandes solidarisch mitgetragen habe und das auch von allen Mitgliedern des Bundesvorstandes erwarte. (Und ich kann auch nicht umhin, zuzugeben, dass es mir gerade im Moment, da ich mich um ein erneutes Votum als Vorsitzende bewerbe, nicht leicht fällt, mich deutlich in eine offensichtliche Minderheitenposition zu begeben.)
In dieser für die Partei elementaren Frage aber muss ich mich von der Mehrheitsmeinung des Vorstandes entfernen.

Ich werbe dafür, die Vereinbarung zum Atomausstieg abzulehnen. Ich kann die Einschätzung nicht teilen, dass es sich bei dieser Vereinbarung um eine positive "historische Zäsur" handelt. Mich als Grüne interessieren historische Momente weniger, ich orientiere meine politische Bewertung an geschichtlichen Prozessen. Es ist der historische Verdienst auch unserer Partei, dass der Betrieb von Atomanlagen in den letzten Jahrzehnten zunehmend diskutiert und abgelehnt wurde, wir haben zusammen mit vielen Initiativen, Verbänden und anderen gesellschaftlichen Kräften eine gesellschaftliche Mehrheit und eine
hohe Akzeptanz für den Einsatz regenerativer, hoch effizienter und energiesparender Technik geschaffen, also einen Prozess initiiert, in dem die Neuerrichtung von Atomanlagen nahezu undenkbar ist und der wirtschaftlich vertretbare Betrieb von
AKW zunehmend unwahrscheinlicher wird.
Nur wenige politische Entscheidungen sind unumkehrbar, aber eine Gesellschaft, die auf Grundlage zunehmend positiver Erfahrungen mit einer grünen Energiewende mehrheitlich an den Begründungszusammenhängen der Atomwirtschaft zu
zweifeln beginnt, ist ein stabiler Faktor für eine nachhaltige politische Entwicklung. Meine Frage ist nun, ob dieser Prozess durch den vorgestellten Konsens befördert oder behindert wird, ob unsere Bemühungen und unser Kampf dadurch glaubhafter wird oder wir Gefahr laufen, eben diese Kämpfe zu diskreditieren. Ich befürchte, dass die negativen Effekte überwiegen und werde für einen BDK-Beschluss kämpfen, der sich, orientiert an Karlsruhe, für eine Nachbesserung
des Konsenses oder für eine Dissenslösung ausspricht.

Ich weiß, dass die politischen Konsequenzen einer solchen Entscheidung nicht einfach sind und ich weiß, dass eine solche Entscheidung koalitionsrelevant sein kann. Ich bin mir aber sicher, dass wir im Interesse unserer zukünftigen Energiepolitik und damit im Interesse aller Menschen, die durch den lebensfeindlichen Betrieb von Atomanlagen bedroht sind, der vorliegenden Übereinkunft mit der Atomwirtschaft nicht zustimmen dürfen. Wenn der Lauf der Geschichte oder einfach nur der Zahn der Zeit ein schnelleres Ende der Atomwirtschaft bedeutet als grünes Regierungshandeln, müssen wir notfalls
auch den Sinn grüner Regierungsbeteiligungen neu überdenken.


Eure Antje

Berlin, 16.06.00

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