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Klaus Gärtner,
GAL Hamburg, Landesarbeitsgemeinschaft Energie
175.99kg

07.12.99

Hintergrund Atomenergie für technische Laien

Besonderes Sicherheitsrisiko im Atomkraftwerk Stade

Der Vorschlag, das Atomkraftwerk Stade vor allen anderen stillzulegen, ist durchaus begründet. Von dem Reaktor in Stade gehen Risiken aus, die die Risiken aus anderen Atomkraftwerken noch weit übertreffen. Selbst die Betreiber hat das über lange Zeit nicht ruhen lassen, wie die folgenden Ausführungen zeigen.

Als das Kraftwerk als erste kommerzielle Anlage in Deutschland gebaut wurde, war die Sicherheitstechnik ebensowenig auf dem heutigen Stand wie die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Gefahren der Atomenergie. Daher fehlen der Anlage etliche Sicherheitsstandards, die in neuen Anlagen selbstverständlich sind. Viele dieser Mängel können zwar nachträglich nicht mehr vollständig behoben werden, sind aber durch Nachrüstungen wenigstens teilweise ausgeglichen worden. Einige Mängel sind unausgleichbar, so z.B. die nicht vorhandene Sicherheit gegen Flugzeugabsturz durch die viel zu dünne Betonhülle von 60 cm (heute 2 m). Der gravierendste und ebenfalls unheilbare Mangel ist aber die Sprödbruchanfälligkeit des ReaktorDruckbehälters: Die damals wie heute übliche Schweißtechnik arbeitet mit kupferummantelten Elektroden oder Schweißdrähten. Der feine Kupferüberzug dient dem Fernhalten von Rost. Das wenige Kupfer aber, das auf diese Weise in die Reaktorschweißnähte gekommen ist, wurde anschließend zum Problem, da der Stahlkessel an diesen Stellen wesentlich schneller versprödet als angenommen. Wenn Stahl versprödet, ist er nicht mehr elastisch genug und kann bei plötzlichen Änderungen von Druck und Temperatur brechen. Verursacht wird die Versprödung durch den heftigen Neutronenregen am Reaktor. Besonders die Schweißnaht IV, die rund um die Brennstabzone verläuft, ist deshalb bruchgefährdet. Sollte diese Schweißnaht versagen, bricht der Reaktor. Gegen solchen Unfall gibt es absolut keine Gegenmaßnahme. Die Folgen wären unstreitbar weitaus größer als die in Tschernobyl. Hamburg wäre verloren.

Schon bei der Inbetriebnahme aber nicht bei der Herstellung des Reaktors war klar, dass die Kupferatome in den Schweißnähten von den Neutronen besonders angegriffen werden und den Stahl schneller als geplant verspröden lassen. Deshalb hat man Materialproben in den Reaktor gehängt, die dem Material der Schweißnähte entsprechen, aber näher an den Brennstäben hängen, so dass sie schneller verspröden als die Schweißnähte selbst. Das Ergebnis der sog. Voreilenden Proben war erschreckend: Die Versprödung ging viel schneller voran, als erwartet worden war. Danach hätte der Reaktor spätestens 1985 (!) wegen Versprödung abgeschaltet werden müssen, da sich ein ReaktorDruckbehälter nicht ersetzen lässt.

Die Betreiber wurden aktiv. Gerade noch rechtzeitig erstellte der TÜV im Februar 1985 ein neues Gutachten, nach dem der Reaktor plötzlich bis zum Jahre 2012 ohne Gefährdung betreiben werden kann. Das ist genau die beim Bau vorgesehene Lebensdauer der Anlage. Technisch wurden nur ganz unwesentliche Änderungen vorgenommen, die die Versprödung ein wenig verlangsamen. Die Ausweitung der Lebensdauer von 1985 auf 2012 kommt fast ausschließlich dadurch zustande, dass der TÜV neu rechnet und neue Annahmen macht. Dieses macht mehr als stutzig, und die Hamburger Bürgerschaft beauftragte daher 1986 zwei Physiker der Universität Hamburg, dieses TÜVGutachten auf innere Schlüssigkeit zu betrachten. Der Ergebnis ist verblüffend und wurde den Mitgliedern des Umweltausschusses mitgeteilt. Danach konnte der TÜV zu dem für die Betreiber positiven Ergebnis nur kommen, indem er fundamentale Grundsätze der physikalischen Methoden missachtete (Einzelheiten siehe unten).

Die „heißseitige Noteinspeisung" wurde dann im März/April eingebaut. Sie ist ein deutliches Zeichen dafür, dass den Betreibern selbst Bedenken kamen wegen der Sprödbruchsicherheit, denn diese Maßnahme wurde nicht von staatlicher Seite gefordert. Darum geht es: Wenn die Kühlung des Reaktorwasser ausfällt, muss Notkühlwasser eingeführt werden. Das geschieht normalerweise durch die Rohre, die auch im Normalbetrieb das Wasser in den Reaktor leiten. Die Betreiber haben sich nun gesagt, dass das kalte Notkühlwasser an der heißen Reaktorwand zu Wärmespannungen führt, die die versprödeten Schweißnähte nicht mehr aushalten. Damit dies nicht geschieht, wurde die Notkühlung so umgebaut, dass das Notkühlwasser nun in die Rohre einfließt, die aus dem Reaktor hinausführen. Es gelangt also erst nach Durchlauf durch den kurzen Primärkreislauf in den Reaktor und ist bis dahin angewärmt. Ohne die Maßnahme jetzt technisch zu bewerten kann doch festgestellt werden, dass ein solcher Umbau deutlich macht, welche Risiken auch von den Betreibern gesehen werden.

Die Alterung schreitet voran. Inzwischen sind weitere 15 Jahre vergangen, in denen der Reaktor trotz aller Proteste ungehindert lief. In etlichen Jahren gehörte er zu den „Weltmeistern", das heißt, er lief mehr Tage im Jahr Vollast als alle anderen Anlagen. Beides, die lange Betriebszeit von nunmehr 28 Jahren und die hohe Auslastung, ließen die Alterung der Schweißnähte stark voranschreiten, denn die durch Neutronen verursachten Schäden summieren sich.

Der Weiterbetrieb des Reaktors Stade ist daher völlig unverantwortlich.


Anlage 1 zur Sprödbruchsicherheit
Kein Stahl ist unbegrenzt belastbar. Wenn seine Belastungsgrenze erreicht ist, bricht er. Bei Baustellen wie einem Reaktorkessel kann das aber aus einleuchtenden Gründen nicht ausprobiert werden. Deshalb muss die Belastungsgrenze errechnet werden. Das ist aber nicht so einfach, weil der Stahl außer den üblichen und bekannten Belastungen aus der Temperatur und des hohen Druckes noch einer dritten Belastung ausgesetzt ist, mit der man viel weniger Erfahrung hat, der Neutronenstrahlung. Jedes Neutron stößt tausende von Elektronen des Kristallgitters von seinem Platz. Dadurch verändert sich der Stahl.

Stahl kann unter zwei verschiedenen Bedingungen bei Überlast reißen. In warmem Zustand ist der Stahl elastisch und bricht bei weit höheren Belastungen als in kaltem Zustand, in dem er spröde genannt wird. Über einer mehr oder weniger genau zu definierenden Temperaturgrenze, der Übergangstemperatur, wird der Stahl zäh genannt. Es muss sichergestellt sein, dass der Reaktorkessel in allen Beanspruchungsphasen im zähen Bereich bleibt. Unterhalb der Übergangstemperatur darf der Reaktorkessel nicht mit Druck belastet werden. Die Neutronenbestrahlung lässt den Stahl jedoch immer spröder werden, so dass die Übergangstemperatur sich immer weiter nach oben verschiebt, bis schließlich nicht mehr genügend Spielraum bleibt für die Druckbelastung des Kessels. Dann spätestens ist das Ende der möglichen Betriebszeit erreicht.

Anlage 2 zum TÜVGutachten
Die genannten Physiker werfen dem TÜV vor, reichlich unphysikalisch vorgegangen zu sein.
a) seien die gemessenen Werte so wenige, dass daraus nach den Regeln der Physik keine hinreichend vernünftigen Schlüsse gezogen werden könnten,
b) würden die Messfehler und die daraus resultierenden Bandbreiten der Kurven nicht berücksichtigt. Würden sie nachträglich berücksichtigt, läge selbst der Normalbetrieb des Reaktors bei einigen Situationen im gefährlichen Bereich.
c) würden die aus wenigen Messwerten ermittelten Kurven nach oben beliebig fortgesetzt, was in jedem Fall unzulässig sei und in diesem Fall zu groben Fehleinschätzungen führe und damit Messergebnisse der GKSS widerspreche.
d) würden nur die „genehmen" Messwerte berücksichtigt, die im VersuchsAtomkraftwerk Kahl gemessen worden seien, nicht jedoch die aus der GKSS in Geesthacht. Ohne das Ignorieren der GKSSWerte hätte der TÜV nicht zu dem Gutachterschluss kommen können.

 

Klaus Gärtner,
GAL Hamburg, Landesarbeitsgemeinschaft Energie
Chrysanderstraße 141
21029 Hamburg
EMail: Schlottermotz@tonline.de

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