Zum Thema: ATOMAUSSTIEG - RESTLAUFZEITEN
Ein Diskussionsbeitrag:

Für einen Klaeger gegen ein AKW (Obrigheim) ist es sehr interessant zu beobachten, wie sich die Debatte in der rot-gruenen Koalition nur noch auf die sog. Restlaufzeiten der AKW dreht. Dies kommt den Betreibern der AKW und den Stromkonzernen entgegen; denn die laufende Debatte erspart den Befuerwortern der Atomenergie, auf die grundlegenden Probleme einzugehen, die Anlass für den Ausstieg sind, als da sind:
- die enormen Sicherheitsrisiken,
- die Verletzung des Verursacher-Prinzips;
- die Beschaedigung des demokratischen Rechtsstaates;
- die Verletzung unseres Grundrechts auf Leben und koerperliche Unversehrtheit;
- die ungeloeste Problematik der Entsorgung des Atommuells,
- die immensen Lasten, die den kommenden Generationen hinterlassen werden.
(Diese Aufzaehlung erhebt natuerlich keinen Anspruch auf Vollstaendigkeit.)

In der Diskussion um den Ausstieg wird ein weiteres Defizit der rot-gruenen Koalition deutlich: Bisher wird nicht oder nicht ausreichend dargestellt, wie die alternative Erzeugung von Strom erfolgen soll. Die Debatte um den Ausstieg muss insbesondere deutlich machen, wie die alternativen Energien gefoerdert werden. Wenn es moeglich war, die Atomenergie durch immense Subventionen in die Energiewirtschaft hineinzudruecken, sollte wir auch eine Subventionierung der alternativen Energien mit Nachdruck fordern, wenn auch nicht in der gleichen Groessenordnung. Im übrigen ist ja die stille Subventionierung der Atomenergie keineswegs beendet; doch dazu mehr bei der Diskussion der oben aufgezaehlten Probleme.

Es eruebrigt sich, an dieser Stelle erneut auf die Sicherheitsprobleme der AKW samt "Zubehoer" einzugehen. Dankenswerter Weise hat das Dr. Hirsch mit seiner Ausarbeitung "Atomstrom 2000: Sauber, sicher, alles im Griff?" getan, die er für den BUND ausgearbeitet hat. Es ist unabdingbar, daß die AKW von unabhaengigen Gutachtern ueberprueft werden, die nach dem heutigen Stand von Wissenschaft und Technik arbeiten. Wenn, wie in einem Schreiben des Wirtschaftsministeriums Baden-Württemberg v. 2.1.95 zu lesen ist, der TUEV "als Teil der Behoerde" anzusehen ist, werden Zweifel an der Unabhaengigkeit der Gutachter gestuetzt. Diese Zweifel hegte offensichtlich auch Dr. Wuestenberg, der für die Bundesanstalt für Materialforschung (BAM mit der Überprüfung der Sprödbruchsicherheit des Reaktordruckbehaelters im AKW Obrigheim befaßt war; er sagte vor dem Untersuchungsausschuss des Landtags Baden-Württemberg am 15.1..1995 aus: "Wir muessen allerdings dafuer sorgen, dass diese Technischen Ueberwachungsvereine hin und wieder selbst ueberprueft werden..."

Wer anderen Menschen einen wirtschaftlichen oder gesundheitlichen Schaden zufuegt oder gar deren Tod verursacht, ist zum Schadensersatz verpflichtet, also haftpflichtig. Nicht so in der Atomenergie. In einer Prognos-Studie von 1992 wurden die Kosten eines Super-GAU im AKW Biblis B berechnet. Sie belaufen sich auf ca. 10 Billionen DM. Andere Autoren errechneten Gesamtschaeden von ca. 5 Billionen DM. Die Ober- Grenze der Haftpftpflicht-Versicherung der AKW beträgt nur 500 Millionen. Bei einem Super-Gau waeren also lediglich 1 – 2 Tausendstel der Schadenssumme abgedeckt, den "Rest" – wenn man das so bezeichnen will – hat der Steuerzahler abzudecken. Das ist die "stille" Subvention, auf die ich oben hinwies. Wuerden die AKW-Betreiber eine Haftpflichtversicherung für die moegliche Schadenshoehe abschliessen muessen, wuerde sich Atomstrom als das erweisen, was er ist: Ein Luxusprodukt – betriebswirtschaftlich hervorragend, volkswirt-schaftlich katastrophal. Mit welchem Recht wird von einem Pendler, der mit seinem PKW zur Arbeit fahren muss, eine ausreichende Haftpflichtversicherung verlangt? Mit welchem Recht muessen wir BuergerInnen indirekt die Haftpflicht für die AKW uebernehmen, wenn es zu einem Super-GAU kommt?
Hier sind wohl verfassungsrechtliche Bedenken gerechtfertigt.

Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes und einiger Verwaltungsgerichtshoefe laesst erkennen, daß sich diese Gerichte ausserstande sehen, die Entscheidungen der Aufsichts- und Genehmigungsbehoerden in atomrechtlichen Fragen inhaltlich zu überpruefen, die Behoerden sind in ihren Entscheidungen also weit- gehend "autark". In Anbetracht der Komplexitaet der Technik eines AKW ist diese Rechtsprechung durchaus verstaendlich; denn den Richtern fehlen im allgemeinen die technischen und/oder naturwissenschaftlichen Kenntnisse, um diese komplexen Zusammenhaenge beurteilen zu koennen.

Aber nun wurde eine Situation geschaffen, die ein Grundprinzip des demokratischen Rechtsstaats aushebelt, die Gewaltenteilung. Die Exekutive, also Aufsichts- und Genehmigungsbehoerden, werden nun auch zur Judikative, zum recht- sprechenden Organ. Es kommt hinzu, daß die Behoerden im allgemeinen auch die politische Ansicht ihrer Landesregierung vertreten. Damit wird erreicht, was vielleicht gewuenscht wurde: Die Genehmigung eines AKW ist abhaengig von der jeweils herrschenden Parteipolitik einer Landesregierung.

Unserer Sicherheit soll die Strahlenschutzverordnung dienen. Sie ist die Basis fuer die Festlegung sog. Grenz- werte, die wiederum Voraussetzung für den "sicheren" Betrieb eines AKW darstellen. Wer weiss schon, dass die Strahlenschutzverordnung auf Sterbetabellen beruht, die aufgrund der Atombombenabwuerfe in Hirsoshima und Nagasaki beruhen? Die Grenzwerte und die "zumutbaren" Strahlendosen werden also ermittelt (oder ver- mutet), um das Grundrecht auf Leben zu gewaehrleisten. Um auch das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit abzusichern, waeren Erkrankungsstatistiken notwendig, d.h. Grenzwerte, die den Menschen auch vor Erkrankung durch radioaktive Strahlen schuetzen. (Aber auch diese Grenzwerte waeren hoechst fragwuerdig. Bereits 1983 sagte der Genetiker des Kernforschungszentrums Karlsruhe Prof. Hotz: "Jede Dosis ionisierende Strahlung (z. B. Roentgenstrahlung) - auch die kleinste – schaedigt biologische Materie".)

Mit jedem weiteren Betriebsjahr wird durch die AKW die Menge des radioaktiven Muells einschliesslich verbrauchter Brennelemente erhoeht. Die Transporte mit Castor- und aehnlichen Behaeltern haben sich als wegen der radioaktiven Kontaminationen als unsicher erwiesen. Es ist fraglich, ob deren Sicherheit jemals gewaehleistet werden kann. Als Ausweg fiel den Behoerden ein, man muesse an jedem AKW ein Zwischenlager fuer die verbrauchten Brennelemente einrichten. das waere eine denkbare Zwischenloesung – unter der Voraussetzung, dass die weitere "Produktion" verbrauchter Brennelemente beendet wird. Hier schliesst sich der Kreis, wir sind wieder beim Thema "Restlaufzeit". Und ein weiteres: Das radioaktive Inventar einer Atomanlage durch ein Zwischenlager nimmt erheblich zu. Dies wird von der Betreibern bestritten; sie vergleichen das radioaktive Gesamtinventar des Reaktors mit dem des Zwischenlagers und kommen auf geringfuegige Zunahmen. Aber sie verheimlichen, dass beim Gesamtinventar des Reaktors auch radioaktive Substanzen mitgerechnet werden, die bei Stoerfaellen mit Freisetzung von Radioaktivitaet wegen ihrer sehr kurzen Zerfallszeit biologisch nicht wirksam werden.

Voraussetzung fuer ein "Zwischen"-Lager waere die Existenz eines Endlagers. Das trifft nicht zu. Somit werden bei den AKW keine Zwischenlager, sondern "Endlager auf Zeit" eingerichtet sehr zur Freude der naechsten 1 – 2 Generationen. Und ob es jemals ein echtes Endlager geben wird, sei dahingestellt. Jedenfalls geben Geologen keine Prognosen ueber geologische Formationen ab, die ueber eine in ca. 10 000 Jahren zu erwartende Eiszeit hinausgehen. Plutonium und andere Aktiniden muessten jedoch ca. 100 000 Jahre von der Biosphaere abgeschlossen verwahrt werden. Loesung des Problems? Bisher keine. Konsequenz: Rasche Abschaltung der AKW.

Was muessen wir BuergerInnen fordern:
- Zunaechst sind die hier beschriebenen und weitere Probleme zu klaeren, die der Betrieb von AKLW mit sich bringt;
- Erst danach kann ueber Restlaufzeiten diskutiert werden.

Die bisherige Diskussion um die Restlaufzeiten kann den Anhaengern der Atomlobby nur Recht sein. Damit ersparen sie sich die Rechtfertigung fuer den Weiterbetrieb einer Hochrisikotechnik, die der Mensch niemals beherrschen wird, wie wir aus der Vergangenheit wissen. Aber die Lernfaehigkeit der Menschen im allgemeinen, der Politiker im besonderen ist wohl doch recht begrenzt. Die bisherige Vorzugsstellung der AKW-Betreiber in rechtlicher Hinsicht muss beendet werden; und die Risiken und Gefahren, die das Leben und die Gesundheit der jetzigen und der kommenden Generationen bedrohen muessen beseitigt oder minimiert werden.

Letzte Frage: Warum galt und gilt die Fuersorge der PolitikerInnen so sehr der Atomenergie? Welche Motive gibt es hierfuer?

Dr. W. Sieber, 74821 Mosbach
Mail: Walter.Sieber@t-online.de