Memorandum deutscher Wissenschaftler zum geplanten Kernenergieausstieg
Die im Herbst 1998 gewählte neue Bundesregierung hat in der Koalitionsvereinbarung und in der Regierungserklärung ihre Absicht bekundet, so schnell wie möglich aus der Kernenergie auszusteigen. Wir, die unterzeichnenden Wissenschaftler, zweifeln nicht an der demokratischen Legitimität dieser ja auch in den Wahlprogrammen angekündigten Entscheidung. Wir bezweifeln aber, daß es sachgerecht und verantwortungsbewußt ist, an der Schwelle zum 21. Jahrhundert Parteitagsbeschlüsse aus den siebziger und achtziger Jahren ohne Überprüfung ihrer heutigen Berechtigung zu vollziehen. Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, eine ernsthafte Neubewertung der Kernenergie vorzunehmen und im Lichte der Ergebnisse ihre Energiepolitik zu überdenken. Dabei müssen aus unserer Sicht vor allen Dingen folgende Gesichtspunkte berücksichtigt werden:
1. Fortschritte der Sicherheitstechnik
Die Akzeptanzkrise der Kernenergie in den siebziger und achtziger Jahren hat Teile der Politik in die Resignation getrieben, Wissenschaft und Industrie jedoch zu Höchstleistungen im Bereich der Weiterentwicklung der nuklearen Sicherheit angespornt. Die hierbei erzielten Ergebnisse wurden in der letzten zehn Jahren in umfangreichen Nachrüstungen umgesetzt, so daß die deutschen Kernkraftwerke heute in bezug auf Sicherheit und Zuverlässigkeit die Weltspitze bilden. Diese erheblichen sicherheitstechnischen Verbesserungen und die wirtschaftlichen Investitionen in der Sicherheitstechnik in Höhe vieler Milliarden seit den Ausstiegsbeschlüssen werden ebenso wie Fortschritte bei der Entsorgung von der Politik der Bundesregierung nicht gewürdigt.2. Das Klimaproblem
Gegenüber den siebziger und achtziger Jahren wissen wir heute sehr viel mehr über die Bedrohung des Weltklimas durch Treibhausgase, insbesondere durch Kohlendioxid, das Endprodukt der Verbrennung aller fossilen Brennstoffe. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich international verpflichtet, ihren Ausstoß an diesem klimagefährlichen Gas bis zum Jahr 2010 um 21 % zu reduzieren. National hat sich die Bundesregierung sogar eine Minderung um 25 % bis 2005 zum Ziel gesetzt. Bei Verzicht auf Kernenergie bedeutet das gleiche Ziel eine erhebliche Verschärfung der Reduktionserfordernisse. Bislang gibt es keine schlüssige Antwort, wie das Klimaschutzziel in diesem Fall erreicht werden könnte. Solange als Alternativen für die Kernkraftwerke nur Gas- oder Kohlekraftwerke zur Verfügung stehen, verschärft der Ausstieg aus der Kernenergie also ein ohnehin bisher ungelöstes Problem, bei dem Deutschland seiner globalen Verantwortung gerecht werden muß.3. Deutschland als Technologienation
In vielen Teilen der Welt wird die Kernenergie weiter ausgebaut. Deutsche Unternehmen verlieren ihre Exportchancen, denn ein Ausstieg in Deutschland entzieht der technologischen Spitzenstellung der deutschen Industrie die Grundlage. Die deutsche Technologie und insbesondere die deutsche Sicherheitstechnik verlieren hierbei aber nicht nur Märkte, sondern auch Einfluß auf die weitere Entwicklung des internationalen Sicherheitsniveaus.4. Der Industriestandort Deutschland
Im Inland bildet die Kernenergie den vor allem für die Industrie wichtigen Sockel einer preislich stabilen und günstigen Stromversorgung in der Grundlast. Da der Wegfall eines Drittels der deutschen Stromerzeugungskapazität nicht einfach durch Sparmaßnahmen kompensierbar sein wird, gibt es nur zwei Alternativen: Ersatz durch andere Kraftwerke, die höhere Umweltbelastungen oder höhere Energiekosten zur Folge haben, oder durch Importe. In beiden Fällen wird die industrielle Basis in Deutschland geschwächt, im ersten durch weitere Verschlechterung der wirtschaftlichen Standortbedingungen, im zweiten durch die Verlagerung eines weiteren Industriezweiges ins Ausland.5. Die europäische Dimension
Im inzwischen bestehenden europäischen Binnenmarkt, der durch die Osterweiterung Europas noch wachsen wird, kann nicht verhindert werden, daß wegfallende Kernkraftwerksleistung im Inland durch Stromimporte aus bestehenden oder neu errichteten europäischen Kernkraftwerken ersetzt wird, auf deren Sicherheitsniveau wir nach einem "Ausstieg" kaum Einfluß nehmen können.6. Der "ökologische Rucksack"
Bei der Erforschung der Umweltauswirkungen verschiedener Energiesysteme wird heute, etwa über Prozeßketten, jeweils der ganze "Lebensweg" einer Technik von der Gewinnung der Rohstoffe für den Bau der Anlage über deren Betrieb samt Brennstoffversorgung bis hin zur Entsorgung in den Blick genommen. Wir kennen dadurch den "ökologischen Rucksack" der wichtigsten Techniken zur Stromerzeugung. Dabei hat sich gezeigt, daß das System "Kernenergie" im Vergleich gut abschneidet. Es wäre paradox, ein solches System in einer Zeit aufzugeben, in der wir erkannt haben, daß die Belastbarkeit der Natur die eigentliche begrenzende Ressource für unser Wirtschaften darstellt und wir gerade insoweit gegenüber unseren Nachkommen eine besondere Verantwortung tragen. Dies gilt um so mehr, als der weltweite Energieverbrauch wegen der zunehmenden Bedeutung der Entwicklungsländer weiter wachsen wird.7. Chancen der regenerativen Energien
Bis regenerative Energien einen größeren Beitrag zur Energieversorgung leisten können, sind noch erhebliche Anstrengungen in der Forschung erforderlich, die nachdrücklich und langfristig gefördert werden muß. Ein Ausstieg aus der Kernenergie eröffnet aber erst dann neue Chancen für regenerative Energien, wenn sie die Wirtschaftlichkeitsschwelle erreicht haben, andernfalls vermindert er ihre Marktaussichten, weil Investitionsmittel dann bereits langfristig für konventionelle technische Lösungen gebunden wären.8. Revidierbarkeit von Entscheidungen
Die in der Koalitionsvereinbarung niedergelegte Absicht, den Ausstieg aus der Kernenergie unumkehrbar zu machen, ist zutiefst undemokratisch und zudem unlogisch, denn die Ausstiegspolitik der Bundesregierung macht ja gerade von der Umkehrbarkeit früherer energiepolitischer Entscheidungen Gebrauch. In einer sich ohnehin über Jahrzehnte erstreckenden Entwicklung sollte man künftigen Generationen die Möglichkeit eigener Entscheidungen bewußt offenhalten, vor allem durch Erhalt und Weiterentwicklung des technischen Wissens.9. Nachwuchs
Der jahrzehntelange Weiterbetrieb der vorhandenen Kernkraftwerke selbst in einem Ausstiegsszenario, die anschließende Stillegung und die sichere und zuverlässige Entsorgung der angefallenen radioaktiven Abfälle können nur verantwortungsbewußt bewältigt werden, wenn dafür auch ausreichend ausgebildetes Fachpersonal zur Verfügung steht. Nukleare Wissenschaft und Forschung müssen schon aus diesem Grund weiter gefördert werden, um die nur durch die Verbindung von Forschung und Lehre auffrechtzuerhaltende Qualität der Ausbildung in Deutschland sicherstellen zu können. Ein Anreiz für qualifizierte junge Leute besteht aber nur, wenn die Technik, für die sie tätig sind, auch eine Zukunftsperspektive hat.10. Ausstieg ist keine Lösung
Die Reduktion der Energiepolitik auf den "Ausstieg" aus einer Technologie ist ein Armutszeugnis. Der Wechsel von einer Technologie zu anderen ist dann etwas völlig Normales, wenn eine bessere Alternative zur Verfügung steht. Wer aus der Kernenergie "aussteigen" will, sollte also eine realisierbare bessere Energiepolitik vorschlagen und dafür die in einer Demokratie notwendige Mehrheit erlangen. Erst der Beschluß über das Neue und seine Umsetzung führen zum Ersatz des Vorhandenen.Wir, die unterzeichnenden Wissenschaftler, bieten der Bundesregierung den Dialog über diese Fragen an. Wir wollen mit unserem Wissen dazu beitragen, eine zukunftsfähige Energiepolitik in Deutschland zu entwickeln, die ökonomischen, ökologischen und sozialen Zielen gleichermaßen gerecht wird und die unser Land voranbringt, indem sie unsere Stärken als führendes Land in Wissenschaft und Technik sinnvoll einsetzt.
Prof. Dr. Adolf Birkhofer, Garching
Prof. Dr. Joachim Grawe, Leinfelden
Prof. Dr. Manfred Popp, Karlsruhe
Prof. Dr. Alfred Voß, Stuttgart
Prof. Dr. Dietrich Wegener, Dortmund
August/September 1999