Annelie Buntenbach, MdB

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Übersicht Annelie Buntenbach

An
Rezzo Schlauch (MdB)
Fraktionsvorsitzender
Bündnis 90 / Die Grünen
Bundestagsfraktion
Platz der Republik 1
11 0 11 Berlin

21.11.00

Offener Brief zur Diskussion über Öffnungsklausel in Tarifverträgen

Lieber Rezzo,

deine Initiative, über das Tarifvertragsgesetz den Weg zu untertariflicher Bezahlung aufzumachen, verlässt den sozialpolitischen Grundkonsens der Partei. Ich halte deinen Vorstoß für deutlich verfehlt. Dein Versuch ein "neues" wirtschaftliches Profil der Bündnisgrünen zu prägen ignoriert die soziale Realität in diesem Land. Die Sorge vieler
Beschäftigter um ihren Arbeitsplatz würde für ein noch rücksichtsloseres Lohndumping missbraucht werden können. Das politische Signal ist deutlich:
Was scheren uns die gewerkschaftlichen Argumente, der Flächentarifvertrag oder die Lebenssituation der Billiglöhner. Hier wird unser Programm, mit dem wir 1998 zur Wahl angetreten sind, in sein Gegenteil verkehrt. Da hieß es noch: "Verstärkt gehen Unternehmen jedoch dazu über, geltendes Recht zu brechen, indem sie sich nicht an tarifvertragliche Vorschriften halten und Betriebsräte unter Druck setzen, tarifwidrige Betriebsvereinbarungen abzuschließen. Statt diesen Rechtsbruch durch eine Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes noch zu legalisieren, fordern Bündnis 90 / Die Grünen vielmehr ein Verbandsklagerecht für Gewerkschaften zur Einhaltung von Tarifverträgen."

Zur sachlichen Substanz des Vorschlags: Das Betriebsverfassungsgesetz lässt bereits jetzt Ausnahmeregelungen zu. So haben schon heute Betriebsräte die Möglichkeit, vor Ort konkrete Vereinbarungen zur Rettung von existenzbedrohten Betrieben auszuhandeln. Zudem gibt es Kurzarbeitergeld und über Formen vorübergehender Unterstützung für Betriebe, die nachweislich am Rand des Ruins stehen, lässt sich natürlich auch reden - aber dazu gehört die Öffnung des Tarifvertragsgesetzes für Betriebsvereinbarungen unter Tarif definitiv nicht. Die Angst um den Arbeitsplatz macht Belegschaften und Betriebsräte erpressbar. Wenn sie dann auf Lohnsenkungen unter Tarif gedrängt werden können, setzt dies eine Dumpingspirale in Gang, die die Flächentarifverträge aushebelt und das Lohnniveau in der Breite senkt. Dieser Rückfall in die tarifpolitische Steinzeit würde für die Schwachen die Standards ins Bodenlose senken. Für die Arbeitgeberseite wäre es mit der kalkulierbaren Sicherheit, den die Flächentarifverträge ja auch bieten, vorbei. Tarifverträge regeln lediglich Mindestbedingungen - die für unterschiedliche Branchen und Regionen sehr vielfältig und flexibel sind. Diese Mindestbedingungen sind oftmals auf erschreckend niedrigem Niveau. Zum Teil gerade in den
Bereichen, wo vorwiegend Frauen beschäftigt sind. Um an dieser Stelle nur mal ein paar Fakten und Zahlen zu nennen: In 10 Branchen liegen die untersten Bruttotariflöhne unter 1600.- DM, in weiteren 13 Branchen unter 1800.- DM brutto. Der Aberglaube, dass je niedriger die Löhne sind, um so mehr Leute eingestellt würden, deckt sich zwar mit den Arbeitgeberinteressen und hält sich unglaublich hartnäckig - aber lässt sich durch keine Fakten belegen. Im Unterschied dazu wird das Faktum weitgehend ignoriert, dass in Deutschland in den letzten Jahren der Niedriglohnbereich immer größer geworden ist und weitere Lohnsenkungen gerade hier Armut statt Arbeit weiter vergrößern würden. So erhält bereits ein Drittel der Vollzeitbeschäftigten in Westdeutschland weniger als 75% des Durchschnittsverdienstes. Schon aus diesen Gründen ist diese Initiative sachlich völlig verfehlt.

Oder glaubst Du wirklich, dass eine Verkäuferin im Bäckerhandwerk, die mit knapp 1750.- DM brutto nach Hause
geht, noch Lohnkürzungen akzeptieren soll, damit der Betrieb erst im nächsten Jahr dicht macht? Die Unflexibilität und Innovationsfeindlichkeit auf Arbeitgeberseite in Sachen Weiterbildung, Teilzeit oder Arbeitszeitverkürzung wird in diesem Zusammenhang von Dir schon gar nicht mehr erwähnt.

Der angerichtete Flurschaden ist enorm, insbesondere im gewerkschaftlichen Bereich. Das erbost mich als Gewerkschafterin und Grüne besonders. Ich erwarte von Dir, diese verfehlt Initiative zurückzuziehen. Partei- und Fraktionsgremien müssen sich jetzt Gedanken machen, wie unsere sozialpolitische Glaubwürdigkeit wieder hergestellt
werden kann.

Mit besten grünen Grüßen


gez. Annelie Buntenbach

 

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