B90/Grüne - BDK in Rostock
zurück

 

Antrag an die BDK in Rostock 24.11.2001

AntragstellerInnen: Sylvia Kotting-Uhl u.a.

Antrag an die BDK auf der Grundlage des Berliner Aufrufs:
Internationalen Terrorismus mit zivilisierten Mitteln bekämpfen


Die verheerenden Terroranschläge in den USA stellen eine Herausforderung dar, Grundwerte aller Zivilisationen zu verteidigen - gegen den internationalen Terrorismus, aber auch gegen eine selbstzerstörerische Überreaktion.

Die Anschläge in New York, Washington und Pennsylvania sind als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verurteilen. Mit ihren Tausenden von Todesopfern, ihrer blindwütigen Grausamkeit und ihrer methodischen Perfidie stellen sie eine neue Dimension des internationalen Terrorismus dar. Sie zeigen die globale Verwundbarkeit in der High-Tech-Welt. Mit ihren Opfern zugleich haben sie vieles getroffen: Symbole und Machtzentren der USA und des globalisierten Kapitalismus, die Sicherheit der Industrieländer und das friedliche Zusammenleben der Kulturen in New York und in der ganzen Welt. Die Opfer stammen aus über 60 Nationen, es waren Christen, Muslime, Angehörige anderer Religionen und religiös nicht Gebundene.

Wir trauern um die Opfer der Anschläge. Unser Mitgefühl gilt den Verletzten und den Angehörigen. Wir haben Verständnis für Wut und Zorn. Aber unsere Trauer ist kein Ruf nach Krieg.

Angesichts der neuen Dimension des internationalen Terrorismus treten wir mit Nachdruck dafür ein, ihn wirksam und konsequent zu bekämpfen. Eine Situation, in der jederzeit Tausende Menschen durch Terror wahllos getötet werden können, ist unvereinbar mit den Grundlagen jeder Zivilisation und der weiteren Entwicklung von Menschenrechten, Demokratie und Freiheit. In dieser neuen Situation ist ein Umdenken nötig. Es kann kein Aufrechnen von Todesopfern, keine Einordnung von Opfern unter alte Feindbilder, keine Unterscheidung von Menschenleben und keine Übernahme der Logik des Terrors geben, weder in seiner Bewertung noch in den Gegenreaktionen. Dem Terror keine Macht zu geben, heißt ihm sich weder im Reden noch in seiner Bekämpfung anzugleichen. Wir müssen die zivilisatorischen Grundlagen verteidigen, ohne sie weiteren Schaden nehmen zu lassen.

Jedoch geht angesichts der ungeheuerlichen Bedrohung vielfach eine differenzierte Betrachtung und Antwort verloren, die dringend nötig ist. Das Geflecht verschiedenster Beteiligter und ihrer Ziele und Interessen sowie die Ursachen der Eskalation sind in den Blick zu nehmen, ohne dies als Entschuldigung oder Relativierung des geschehenen Verbrechens zu verdächtigen. Im Interesse an einer Deeskalation und einem friedlichen Zusammenleben verdienen wechselseitige Wahrnehmungen der verschiedenen Kulturkreise und Religionen Aufmerksamkeit, auch wenn sie deutliche Kritik beinhalten und zur Korrektur von Fehlern auffordern. Globale Ungerechtigkeiten und politische Demütigungen sind normativ keine Rechtfertigungen, faktisch aber der Nährboden einer tiefen Unzufriedenheit, von dem terroristische Fanatiker zehren.

Gegenwärtig drohen wir auf einen Zustand zuzusteuern, in dem die Grenze zwischen Krieg und Frieden permanent verwischt ist. Die beunruhigende Gewissheit, dass es keine völlige Sicherheit vor Terroranschlägen geben kann, darf uns aber nicht die Frage verstellen, durch welche Schritte wir Sicherheit erhöhen können und durch welche wir sie eventuell vermindern. Nötig ist eine Gesamtstrategie mit kurz- und langfristigen Maßnahmen gegen den internationalen Terrorismus, die nicht in seine Falle der Eskalation und Destabilisierung geht.

Stattdessen müssen wir mit Besonnenheit auf die Stärke der zivilisatorischen Grundlagen und Verfahrensweisen setzen, die es zu verteidigen und zu bewahren gilt.



Die Reaktion auf die Terroranschläge muss daher in ihrer Gesamtstrategie wie ihren einzelnen Schritten folgende zivilisierte Maßstäbe einhalten:

1) Aus gutem Grund duldet das Völkerrecht keine Rache, Vergeltung oder Strafaktion. Gewalt ist nur als Notwehr oder Nothilfe legitim. Alle Maßnahmen müssen verhältnismäßig sein, also geeignet sein und die geringstmöglichen Nebenwirkungen aufweisen, die darüber hinaus den zu vermeidenden Schaden nicht überwiegen dürfen. Eine Vermengung von Notwehr und Strafaktion ruft vermeidbare Gegenreaktionen hervor.

· Voraussetzung für alle Maßnahmen sind nachvollziehbare Belege für die Täterschaft, die Beihilfe oder die konkrete Gefährdung durch die Beschuldigten. Ein Irrtum über die Urheber ist auszuschließen. Alle Regierungen, die bei der Terrorbekämpfung mitwirken, haben Anspruch auf die Vorlage von Belegen. Die nötige internationale Kooperation erfordert die Anerkennung der Belege durch die Koalitionsmitglieder und den UN-Sicherheitsrat. Den Anhängern und Unterstützern fundamentalistischer Demagogen sollte nicht die Ausflucht gelassen werden, es lägen keine Belege dafür vor, dass ihre Idole den Tod unschuldiger Menschen herbeigeführt haben und sie damit gegen ein strenges Verbot verstoßen haben, das im Islam wie im Christentum gilt.
· Zu beachten sind die Unterschiede zwischen Täterschaft, Beihilfe und konkreter Gefährdung. Statt Täter und Helfer durch Gleichbehandlung zusammenzuschweißen, muss das Ziel sein, bisherige Helfer zur Beendigung ihre Unterstützung zu bringen. Es muss darum gehen, eine Koalition gegen den Terrorismus aufzubauen, ohne als Widerpart eine Koalition von Terroristen, Helfern und "Schurkenstaaten" heraufzubeschwören.
· Alle Maßnahmen müssen sich ganz gezielt gegen die Urheber der Anschläge vom 11. September und möglicher weiterer Anschläge richten und ebenso gezielt die Zivilbevölkerung und alle denkbaren Bündnispartner unterstützen. Wer ein Leben ohne Terror wünscht, muss sich deutlich zu einer gleichberechtigten Partnerschaft eingeladen sehen.
2) Absoluten Vorrang müssen politische und wirtschaftliche Maßnahmen zur Unterstützung der Zivilbevölkerung und Bündnispartner in der Region haben. Diese Maßnahmen müssen einen Ausweg aus der Hoffnungslosigkeit von Armut, mangelnder Bildung und gewaltsamen Konflikten weisen und dafür sorgen, dass dem Terrorismus der Nährboden entzogen wird, nämlich sein Rekrutierungs- und Mobilisierungspotential. Konfliktprävention und internationale Kooperation in der Einen Welt sind die wirksamsten Waffen gegen den globalisierten Terrorismus. Zu diesen Waffen gehören Armutsbekämpfung, Gesundheitsversorgung, Bildung, gerechte Handelsbedingungen sowie Abbau und Prävention von internationaler Verschuldung. Diese Strategie muss sofort mit einem starken Signal eingeleitet werden. Die wirtschaftlichen Folgen der aktuellen Zuspitzung drohen laut Weltbank weltweit bereits zehn Millionen Menschen in die Armut zu stürzen, außerdem sind über fünf Millionen Afghanen und viele Flüchtlinge vor einer Hungerkatastrophe zu bewahren.

· Im Hinblick auf diese konstruktiven Maßnahmen müssen auch Nichtregierungsorganisationen in die internationale Koalition für eine zivilisierte Bekämpfung des Terrorismus einbezogen werden. Sie sind Bündnispartner für eine Koalition, die auch von unten wirksam wird und die Interessen der vielen Menschen zur Geltung bringt, deren Elend von demagogischen Fanatikern nur missbraucht, aber keinesfalls beseitigt wird.
· Großes Gewicht muss auch ein internationaler interreligiöser und interkultureller Dialog haben. Es fehlt bisher weitgehend an wechselseitigen Kenntnissen und Verständnis. Durch einen intensiven interreligiösen Dialog kann den Propagandisten eines vulgarisierten Islam der Boden ihres demagogischen Handwerks entzogen werden. In den westlichen Ländern ist einer Diskriminierung von Muslimen und Arabern entschieden entgegenzutreten.
· Ein zentrales politisches Projekt im Rahmen dieser internationalen Antiterrorkoalition ist der Friedensprozess im Nahen Osten. Eine Befriedung der Auseinandersetzungen ist nur gleichzeitig mit ernsthaften und raschen Verhandlungen auf der Grundlage des Mitchell-Planes zu erreichen. Bei diesen Verhandlungen muss versucht werden, alle wichtigen Organisationen der Palästinenser direkt oder indirekt einzubinden, die sich anderenfalls möglicherweise durch Torpedierungsversuche zu profilieren versuchen. Hier sind die bisherigen Bemühungen von Außenminister Fischer der richtige - fortzusetzende - Weg!
3) Politische Maßnahmen müssen im Sinne der Verhältnismäßigkeit auch bei den Maßnahmen gegen die Urheber der Terroranschläge oder ggf. ihre Helfer den Vorrang innehaben. Der internationale Terrorismus ist in jedweder Hinsicht einer weltweiten politischen Ächtung zu unterziehen. Für eine international akzeptierte Behandlung gefasster Täter ist die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) schleunigst voranzutreiben. Insbesondere gegenüber Staaten kommen als weitere geeignete Mittel Ultimaten, konsequente Blockaden - auch von militärischen Kräften durchgeführt -, Boykotte und Sanktionen in Frage.

· Die Finanzierungswege des internationalen Terrorismus sind lahmzulegen. Das betrifft Geldwäsche, unkontrollierte Offshore-Bankzonen und "underground banking". Es sind weltweite Regelungen durchzusetzen, die es ermöglichen, die Geldspuren des Terrorismus nachzuverfolgen.
· Auch der Waffennachschub des internationalen Terrorismus ist zu unterbinden. Das betrifft den gesamten internationalen Waffenhandel samt des Schwarzmarktes. In einer Welt unter dem Menetekel des internationalem Terrorismus dürfen Waffen nicht auf den Markt geworfen werden, vielmehr muss der Waffenhandel und damit der Nachschub für Terrororganisationen und Bürgerkriegsmilizen ausgetrocknet werden.
· In weltweit koordinierten Ermittlungen gegen die Terrornetzwerke und ihre Finanzquellen liegen neben der internationalen Kooperation und Prävention zur Beseitigung der Konfliktursachen die wirksamsten Waffen gegen den internationalen Terrorismus. Verbesserte Sicherheitsstandards in ausgewählten Bereichen, internationale Zusammenarbeit und bessere technische Ausstattung der Ermittlungsbehörden sowie gezielte Fahndungen treffen internationale Terrornetzwerke an verwundbaren Stellen. Das Versagen der Geheimdienste und ihre Praxis der Unterstützung zeitweilig nützlich erscheinender Milizen und Terrororganisationen sind genau zu untersuchen, um zu zielführenden und wirksamen Beiträgen zur Bekämpfung solcher Organisationen zu gelangen. Im gezielten Aufspüren und Ausheben global verzweigter Terrornetzwerke liegt eine der Hauptaufgaben, und nicht beim Militär. Auch für polizeiliche und geheimdienstliche Mitteln gelten hierbei die Grundsätze der Gezieltheit und Angemessenheit. Auch im Hinblick auf die innere Sicherheit dürfen die zivilisatorischen und rechtsstaatlichen Standards, die es zu verteidigen gilt, nicht über Bord geworfen werden. Eine symbolische Politik der starken Worte und Gesetzesverschärfungen hilft keinen Deut weiter, sondern unterwirft sich dem Terror.
4) Militärische Kampfmaßnahmen haben in einer Strategie, die sich der genannten Ansätze bedient, nur dann einen Platz, wenn ihnen gegenüber den vorrangigen Maßnahmen noch ein eigenes Anwendungsfeld verbleibt, wenn sie die anderen Mittel nicht beeinträchtigen und wenn sie nicht zu vermeidbaren Opfern führen. Einerseits können solche Maßnahmen zur Vermeidung weiterer Anschläge durchaus angebracht erscheinen. Andererseits können sie weitere Anschläge gerade provozieren, die Region destabilisieren und bereits unmittelbar viele Menschenleben kosten. Beide Risiken wären in dieser Frage von Leben und Tod von allen Bündnispartnern sorgfältig abzuwägen gewesen, unter Bedingungen zum Teil unsicheren Wissens über die Folgen. Die nun seit dem 7. Oktober währenden militärischen Kampfmaßnahmen weisen die vorgenannten Bedingungen jedoch als unerfüllt - ja, unter den angewandten Kriegsmaßnahmen wohl unerfüllbar - aus. Die Grundlage zur Beurteilung in der schwierigen Frage, die die UnterzeichnerInnen des Berliner Aufrufs geeint hat - "Jeder Militäreinsatz, der Zivilisten gefährdet ("Kollateralschäden"), der Bomben oder Raketen in Städten oder bewohnten Gebieten vorsieht, der zu Kämpfen von Bodentruppen über kleine Spezialeinheiten hinaus führt, der Flüchtlingsmassen in Elend und Hungertod treibt, jeder Krieg, Stellvertreter- und Bürgerkrieg ist im Rahmen einer Gesamtstrategie ein ungeeignetes, ja kontraproduktives Mittel, das viele Menschenleben kostet und deshalb weiteren Hass sät, zu einer abenteuerlichen Eskalation führt und möglicherweise weiteren Terror anheizt, anstatt ihn zu ersticken." - diese Grundlage lässt inzwischen nur noch die Forderung zu, diesen Krieg sofort zu beenden. Die Bekämpfung des Terrors und die Verteidigung zivilisatorischer Grundwerte drohen in ihr Gegenteil umzuschlagen. Das gilt auch für jede Waffenlieferung und militärische Unterstützung, die etwa zu einem Gemetzel zwischen den Taliban und der Nordallianz Afghanistans führt. Und es gilt erst recht für den bisher ausdrücklich nicht ausgeschlossenen Einsatz von ABC-Waffen, dem sofort eine Absage zu erteilen ist. Angesichts der bereits erfolgten Militärschläge rufen wir dringend dazu auf, diesen Grundsätzen zu folgen und jede weitere Eskalation aufgrund ihrer unabsehbaren Folgen zu vermeiden.


Insgesamt geht es darum, den internationalen Terrorismus entschieden zu bekämpfen und nicht ungewollt zu stärken. Er ist am wirksamsten ohne Eskalation niederzuringen. Die Bundesregierung muss versuchen, die USA und ihre anderen Bündnispartner im Rahmen der Vereinten Nationen und der NATO sowie bilateral für eine Strategie der Terrorbekämpfung unter Einhaltung der genannten zivilisatorischen Prinzipien zu gewinnen. Wir fordern den Bundestag und die Bundesregierung zu starkem Engagement für die politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen zur Terrorbekämpfung auf. Bündnistreue und historische Verantwortung können nicht bedeuten, eine Vorgehensweise zu unterstützen, die allen Beteiligten schadet. Für unsere Einschätzung von Militäreinsätzen steht die Frage einer Beteiligung der Bundeswehr allerdings nicht im Vordergrund, da die genannten Kriterien für jede Entscheidung über einen Militäreinsatz als Reaktion auf den 11. September gelten, denn jedes Menschenleben zählt gleich viel - ob in New York, in Deutschland oder Afghanistan.

Wir setzen auf die gemeinsame weitere Zivilisierung unserer Welt, zu der es keine Alternative gibt. Die weltweite Trauer um die Opfer der Terroranschläge, die sich in allen Kulturkreisen gezeigt hat, hat den Grundstein für ein friedliches Zusammenleben gelegt, auf den die Regenten der Welt jetzt aufbauen müssen.

AntragstellerInnen:
Sylvia Kotting-Uhl (KV Odenwald-Kraichgau)¸
Alfonso Becker (KV Karlsruhe-Land),
Bettina Lisbach, Klaus Stapf ( Karlsruhe-Stadt)
Frieder Brender, Ralf Henze (KV Mannheim),
Helga Baur (KV Schwarzwald-Baar),
Gisela Walter-Grohsschmiedt (KV Ortenau),
Ulrich Schneider (KV Heilbronn),
Armin Boßerhoff, Christa Kleinbub-Dunkl, Peter Kühn, Marietta Laub, Gerhard Gebhard (KV Odenwald-Kraichgau),
Bärbl Mielich (KV Breisgau-Hochschwarzwald),
Horst Schiermeyer (KV Löbau-Zittau),
Conny Folger (KV München),
Bernd Frieboese (KV Berlin-Reinickendorf),
Jörn Sudhoff, Ayse Öktem (KV Hamburg-Altona)

zurück