Deutsche Sektion der Internationalen
Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW)
Tel/Fax 06221-75 88 77


An die Delegierten der
Bundesdelegiertenkonferenz
von Bündnis 90/Die Grünen
in Karlsruhe


Berlin/Heidelberg, 14-03-00

Rot-grüne Hermes-Bürgschaft für Neubau von Atomkraftwerken nicht akzeptabel
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Liebe Grüne

Die Atomabteilung von Siemens braucht dringend neue Aufträge. Bundeskanzler Schröder reist gemeinsam mit Siemens-Managern nach China und zeigt sich begeistert vom Neubau von zwei 1000-Megawatt
Atomkraftwerksblöcken im chinesischen Lianyungang. Der Kanzler hatte also wieder einmal ein persönliches Lieblingsprojekt für die Industrie und Bundesaußenminister Fischer wollte ihm das nicht streitig machen.

Erstmals seit über 20 Jahren vergibt eine deutsche Bundesregierung wieder eine Hermes-Bürgschaft für den Neubau eines Atomkraftwerks. Dies beschloß am 10. März der Interministerielle Ausschuß (IMA) unter Beteiligung von Fischer.

Die Nord-Süd-politische Organisation WEED weist darauf hin, daß eine Vorab-Bewilligung für eine Hermes-Bürgschaft im August 1998 abgelaufen ist und nicht fristgerecht verlängert wurde. Die Behauptung, bei einer
Nicht-Vergabe der Hermes-Bürgschaft hätte die Bundesregierung mit einer Schadensersatzklage rechnen müssen, ist daher völlig haltlos.

Die Reaktoren vom russischen Typ WWER-1000, die Siemens gemeinsam mit russischen Firmen in China errichten will, haben für die große Leistung einen viel zu kleinen Druckkessel. Es kann zu gefährlichen
Temperaturverteilungen und ungünstigen Schwingungen kommen. Selbst die Internationale Atomenergiebehörde IAEA, russische Konstrukteure und westliche Firmen sind sich einig, daß der Kern dieses Reaktortyps völlig neu konstruiert werden müßte.

Mit einer zweiten Hermes-Bürgschaft für Siemens ermöglicht die rot-grüne Bundesregierung die Nachrüstung des von Siemens errichteten argentinischen schwerwasser-moderierten Reaktors Atucha-1. Der Schrottreaktor mußte nach Pannen bereits unzählige Male repariert werden. 1987 traten 45 Tonnen
radioaktives Wasser aus einem undichten Druckröhren-Endstopfen aus. Die Hermes-Bürgschaft ermöglicht den Weiterbetrieb dieses hochgefährlichen Atomkraftwerks.

Eine dritte Hermes-Bürgschaft dient einer Zementieranlage für radioaktive Abfälle beim litauischen Atomkraftwerk Ignalina. Nach dem Willen der EU sollte das Atomkraftwerk vom hochgefährlichen Tschernobyl-Typ um das Jahr 2000 abgeschaltet werden. Bei der Vergabe einer Hermes-Bürgschaft für eine
Zementieranlage hätte als minimale Voraussetzung eine Klausel für die Stillegung des Atomkraftwerks eingebaut werden müssen, so wie die alte Kohl-Regierung 1996 im Fall Mochovce (weiche) Stillegungsklauseln für das slowakische Atomkraftwerk Bohunice festgeschrieben hat. Der an den
Bürgschafts-Entscheidungen beteiligte Außenminister Fischer muß sich dieses Versäumnis als handwerklichen Fehler vorhalten lassen.

Für die Vorhaben in Argentinien und Litauen gab es zwar von der alten Bundesregierung Vorab-Bewilligungen. Eine Nicht-Bewilligung unter rot-grün würde jedoch nicht zwangsläufig zu Entschädigungen führen. Die Bundesregierung nahm keine rechtliche Prüfung vor, ob der Regierungswechsel nicht ein hinreichender Grund für ein Revidieren der Entscheidung wäre.

Seit langer Zeit beklagt die Hermes-kritische Organisation WEED, daß es keine generellen Förder- und Bewilligungskriterien gibt, die die ökologischen und sozialen Folgen von Hermes-Projekten in vollem Umfang
erfassen. Dieses Versäumnis führt nun dazu, daß Einzelprojekte nicht nach sachlichen und fachlichen Grundlagen bewertet werden.

Vielmehr werden in der rot-grünen Bundesregierung verschiedene Projekte (und Lieblingsprojekte) einzelner Politiker in Form eines Kuhhandels - jenseits der im Koalitionsvertrag vereinbarten Grundlagen - ausgekungelt.
Motto: Keine Bürgschaft für das türksche Atomkrafwerk Akkuyu, dafür Bürgschaften für den Neubau in China etc.

Die Bürgschafts-Beschlüsse der Bundesregierung untermauern unmittelbar vor der BDK in Karlsruhe die Notwendigkeit des u.a. vom KV Spandau eingebrachten Antrags zur Untersagung von Hermes-Bürgschaften für Atomkraftwerke (Antrag A 37). Ergänzend sollten Fischer und Trittin aufgefordert werden, die Hermes-Zusagen in der Bundesregierung nochmals zur Disposition zu stellen. Staatsbürgschaften für den Neubau von
Atomkraftwerken sind nicht hinnehmbar. Wir sind der Meinung, daß im Zweifelsfall auch der Bestand der Regierungskoalition zur Disposition gestellt werden muß.

Die atompolitische Gesamtbilanz von rot-grün darf am Ende der Legislaturperiode nicht auf eine Bestandsgarantie für die laufenden Atomkraftwerke und den Neubau von zwei Atomkraftwerksblöcken hinauslaufen!


Vor zwanzig Jahren wurden die Grünen in Karlsruhe nicht zuletzt deswegen gegründet, weil die SPD - und auch die SPD-Basis - zu kraftlos war, um ökologische und soziale Reformen durchzusetzen. Es besteht also eine gewisse historische Verpflichtung und Verantwortung der grünen Parteibasis gegenüber der Öffentlichkeit, die grüne Parteiführung mutig zu dem zu verpflichten, was sie vor den Wahlen als realpolitisch machbar versprochen hat.

Auch eine 6-Prozent-Partei kann sich nicht vom größeren Koalitionspartner an der Nase herumführen lassen, wenn es um absolut zentrale - und prinzipiell gemeinsame - Anliegen geht.

In Spanien läuft derzeit ein Prozeß, weil in einem Atomkraftwerk vor zehn Jahren durch eine Wasserstoffexplosion zwei von vier Kühlkreisläufen zerstört wurden. Die Atomkraftwerke in Deutschland müssen jetzt abgeschaltet werden, weil sie jederzeit durch Wasserstoffexplosionen zerstört werden können.

Keines der 19 deutschen Atomkraftwerke entspricht dem derzeitigen Stand von Wissenschaft und Technik wie vom Atomgesetz gefordert. Keines der 19 deutschen Atomkraftwerke verfügt über einen realistischen
Entsorgungsnachweis wie vom Atomgesetz gefordert.

Das zeigt: Die Stillegung der Atommeiler ist politisch, aber auch juristisch geboten. Die Verantwortung für die Atomaufsicht und für den Vollzug des Atomgesetzes liegt beim grün geführten Bundesumweltministerium
und somit auch bei der Partei.

Henrik Paulitz
(IPPNW-Kampagne Atomausstieg)

Ewald Feige
(IPPNW-Geschäftsstelle)