Pressedienst
Nr. 054/99
Datum: 27. April 1999

Eckpunkte für einen Leitantrag des Bundesvorstandes zur Sonder-BDK
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Der Bundesvorstand von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat auf seiner gestrigen Sitzung folgende Eckpunkte für einen Leitantrag für die außerordentliche Bundesdelegiertenkonferenz (BDK) in Hagen beschlossen:

Vorbemerkung:
Angesichts der Unübersichtlichkeit der Entwicklung wie auch im Hinblick auf die große Dynamik der Ereignisse läßt sich heute ein Antrag des Bundesvorstandes zum Kosovo für die Sonder-BDK noch nicht ausformulieren. Der schließlich vorzulegende BuVo-Antrag muß nicht nur aktuell sein, sondern auch den Versuch machen, eine tragfähige Basis für einen großen Teil der Partei anzubieten. Deshalb sind wir zu der Überlegung gekommen, zunächst nur Eckpunkte zu benennen. Den endgültigen Antrag werden wir am 10.05. verabschieden und mit der Tischvorlage den Delegierten vorlegen.


1. Die Entscheidung über die Unterstützung einer humanitären Intervention der NATO im Ko-sovo gegen die völkermörderische Politik des Regimes von Slobodan Milosevic war wohl für die allermeisten von uns die schwierigste
politische Entscheidung, vor der wir bisher standen. Zwei unserer elementaren Grundwerte - die pazifistische Grundorientierung und die Verteidigung der Menschenrechte - waren gleichzeitig aufgerufen, ohne daß es einen Weg gab, dem dabei entstehenden Zielkonflikt auszuweichen. Außerdem war das militärische Vorgehen der NATO von vornherein durch schwerwiegende völkerrechtliche Einwände und Gegenargumente in Frage gestellt. Von Anfang an bedeutete die Tatsache, daß eine von uns mitgetragene Bundesregierung der Entscheidung für einen militärischen Angriff der NATO in Jugoslawien zustimmte für viele von uns eine persönliche Glaubwürdigkeits- und Zerreißprobe. Aber eine Partei, die Verantwortung trägt, darf nicht im Widerstreit der Wertorientierungen, Analysen, Meinungen und Gefühle zur Handlungsunfähigkeit erstarren.
Regierungsmitglieder, Bundes-tagsabgeordnete, Mitglieder des Bundesvorstandes und Verantwortliche auf vielen anderen Ebenen mußten sich entscheiden, nicht nur einmal, sondern mehrfach. Wir respektieren, daß Mitglieder unserer Partei dabei zu unterschiedlichen Schlußfolgerungen kamen. Wir bestreiten keiner Seite die politische Ernsthaftigkeit wie den moralischen Willen. Wir sind überzeugt, daß wir auf der Grundlage des gegenseitigen Respektes trotz dieser gewichtigen politischen Differenzen gut weiter zusammen arbeiten können und sollten. Wir laden auch diejenigen, die in Zorn und Enttäuschung unsere Partei verlassen haben, dazu ein, zurückzukommen.

2. Wir sind auch heute überzeugt, daß nach dem Scheitern des Rambouillet-Prozesses die diplomatischen Lösungsmöglichkeiten zunächst ausgeschöpft waren. Das Verhalten des Milosevic-Regimes ließ in der politischen Realität eine andere als die getroffene Entscheidung nur um den Preis zu, daß wir die anlaufende massenhafte Vertreibung und das
Morden ohne Einmischung hingenommen hätten.

3. Zweifellos trägt der Westen und insbesondere auch die Bundesrepublik große Mitverant-wortung für das Entstehen der Zwangssituation, in der wir uns Mitte März 1999 befanden. Als verhängnisvoll erwies sich die Politik von Genscher und Kohl bei der Anerkennung ehemaliger jugoslawischer Teil-Republiken. Weder hat dann der Westen in den letzten Jah-ren jemals
wirklich zu einem gemeinsamen mittel- und langfristigen Vorgehen gegenüber Milosevic gefunden, noch gab es eine klare Linie auch nur der wichtigsten europäischen Verbündeten zu dessen Eindämmung, noch gab es eine Gesamtstrategie für den ganzen südosteuropäischen Raum. Die Unentschiedenheit, Wankelmütigkeit und Sprunghaftigkeit der westlichen Politik führte im zerfallenden Ex-Jugoslawien in den letzten 10 Jahren mehrfach dazu, daß zu wenig zu spät unternommen wurde und damit die
Aggressivität des staatsterroristischen serbischen Regimes im Effekt sogar noch ermuntert wurde. Die lang-jährige Mißachtung des zivilen albanischen Widerstandes durch das Ausland war eine wesentliche Ursache für das Hochkommen (groß)albanischer Nationalisten und die Verschärfung der Spannungen im Kosovo in den letzten zwei Jahren.

4. Wir Grüne haben die falsche Politik des Westens und insbesondere die der früheren Bun-desregierung immer wieder kritisiert und auf die drohenden verhängnisvollen Konsequenzen hingewiesen. Leider haben wir mit unseren Warnungen weitgehend Recht behalten. Dies kann aber nichts daran ändern, daß wir als Regierungspartei unter den Rahmenbedingungen handeln mußten, die wir vorfanden. Tatsächlich hat Außenminister Joschka Fischer mit seiner Initiative zu Jahresbeginn, die zu den Rambouillet-Verhandlungen führte, deutlich gemacht, wie eng einerseits der noch vorhandene Spielraum war, wie entschieden andererseits eine grün geführte Außenpolitik diesen geringen Spielraum nutzte. Ohne diese grüne Akzentsetzung wäre es schon viel früher zur militärischen Auseinandersetzung gekommen.

5. Die NATO-Intervention ist von vielen in unserer Partei und - so sagen Meinungsumfragen - von sehr vielen unserer Wählerinnen und Wähler im Kern aus humanitären Hoffnungen und Überlegungen mitgetragen worden. Neben dem
Ziel, die Unterschrift von Milosevic unter den Friedensvertrag von Rambouillet zu erzwingen, stand vor allem im Vordergrund, eine humanitäre Katastrophe durch massenhafte Vertreibung und Ermordung der kosovo-albanischen Bevölkerungsmehrheit zu verhindern oder wenigstens zu begrenzen. Dieses Ziel ist offenkundig bisher nicht erreicht worden. Die humanitäre Katastrophe wurde beschleunigt, sie wurde größer, als die meisten wirklich befürchtet hatten, und sie dauert immer noch an. Damit kam die Legitimität der militärischen Operationen in den Augen vieler Mitglieder unserer Partei wie auch bei weiten Teilen der Öffentlichkeit zunehmend unter Druck. Die westliche Politik reagierte auf dieses Dilemma mit militärischer Eskalation und einer schleichenden Neudefinition der Kriegsziele. In Deutschland kam seitens der Bundesregierung hinzu, daß mit fragwürdigen historischen Analogien zum deutschen Faschismus in einer Weise moralisch aufgerüstet wurde, daß der Widerspruch zwischen
rhethorischer Übertreibung und realem Handeln eine zusätzliche Legitimitäts-Lücke aufriß.

6. Die militärischen Angriffe der NATO aus der Luft haben zwar den Militär- und Gewaltapparat des Milosevic-Regimes massiv geschwächt, sie haben aber zugleich in wachsendem Maß zivile Opfer verursacht, politisch negative Wirkungen ausgelöst und auch eine Reduktion auf´s militärische Denken gefördert. Wir Grüne haben diese negativen Seiten von Anfang an
thematisiert und immer mehr kritisiert. Wir kritisieren weiterhin, daß die NATO zum Teil aus militärischer Logik heraus politische und diplomatische Chancen nicht austestet, die in einer politisch klugen Begrenzung der Luftangriffe auf bestimmte Ziele oder Regionen oder in zeitweiliger, konkret begründeter und befristeter Aussetzung von Luftangriffen liegen könnten. Sinnvoll wäre es zum Beispiel, einige Tage die Luftangriffe einseitig auszusetzen, um in dieser Zeit, klar angekündigt und von
diplomatischen Aktivitäten begleitet, Hilfslieferungen für die Flüchtlinge im Kosovo aus der Luft abzuwerfen. Wir sind überzeugt, daß für Initiativen dieser Art Platz sein muß, wenn die anfängliche humanitäre Motivation nicht untergehen soll und wenn für diplomatische Auswege aus der militärischen Eskalation Platz geschaffen werden soll.

7. Nachdem die humanitäre Katastrophe nicht verhindert werden konnte, gibt es keinen anderen Weg als den, die humanitären Ziele in der neuen Situation neu zu bestimmen. Im Kern muß es nach unserer Auffassung darum gehen, daß die Flüchtlinge und Vertriebenen mög-lichst bald in ihre Heimat zurückkehren können, sowie darum, daß nicht auch noch die letzten Kosovo-Albaner aus dem Land getrieben werden. Unter Verzicht auf militärischen Druck gegen die serbische Seite erscheint dieses Ziel als unerreichbar. Allein mit militärischem Druck ist es allerdings ebenfalls nicht zu erreichen. Falsch wäre es, in einer Art Verselbständigung militärischer Logik oder "weil wir siegen müssen" auf eine Eskalation zu setzen, die in ihren Risiken nicht kalkulierbar ist. Es ist durchaus fraglich, ob oder wann das den Vertriebenen helfen würde. Es ist auch fraglich, ob nicht die humanitären Folgen zum Beispiel eines ausgedehnten Bodenkrieges, von den politischen Gefahren abgesehen, weit größer wären als alles, was bisher geschehen ist. Ein NATO-Bodenkrieg im Kosovo oder in anderen Teilen Jugoslawiens liegt aus unserer Sicht aus vielen Gründen hinter einer roten Linie, die nicht überschritten werden darf. Ansonsten orientieren wir uns gegenüber militärischen Optionen an drei kritischen Maximen: Wir wenden uns gegen die Verselbständigung militärischer Mittel
gegenüber den ursprünglichen politischen Zielen. Wir glauben, daß die Beschwörung einer vorgeblichen Verantwortung jenseits gegebener Möglichkeiten in die Irre führt. Wir halten daran fest, daß eine Umkehr nicht verweigert werden darf, wenn sich eine Sackgasse als solche erweist.

8. Eine Lösung des Kosovo-Konfliktes muß politisch gefunden werden. Wir unterstützen den Fischer-Plan, weil Fischer als erster verantwortlicher Politiker im Westen aus dieser Einsicht einen konkreten Vorschlag entwickelt hat und weil dieser Vorschlag auch konkret die wesentlichen Elemente eine diplomatischen Lösung enthält. Wir anerkennen und unterstützen auch die Vorstellung dieses Planes, die für die Rückführung der Flüchtlinge notwendige Friedenssicherung im Kosovo nicht durch die NATO, sondern durch eine von der UNO nach Kapitel VII UN-Charta beauftragte robuste Friedenstruppe zu gewährleisten. Wir lehnen alles ab, was geeignet wäre, die Chancen dieses Friedenskonzeptes zu verringern. Deswegen teilen wir einerseits nicht Forderungen nach einem generellen, bedingungslosen, einseitigen Ende der militärischen Aktionen der NATO, wie wir andererseits Tendenzen in der NATO zu einer unflexiblen, ultimativen Politik kritisieren. Ohne die Beteiligung Rußlands gibt es für den Kosovo und den ganzen südosteuropäischen Raum keine Friedensperspektive. Deshalb unterstützen wir die Bundesregierung darin, Rußland als aktiven Partner für eine Lösung zu gewinnen. Jede Brüskierung Rußlands ist
kontraproduktiv.

9. Wir haben eine große Verantwortung gegenüber den Opfern des Kosovo-Krieges, gegenüber den Opfern auf beiden Seiten. Eine erste Konsequenz gegenüber den vertriebenen Al-banerInnen muß darin bestehen, großzügig in unserem Land Flüchtlinge aufzunehmen und dafür zu streiten, daß dies auch in anderen europäischen Ländern geschieht. Im Rahmen eines
Stabilitätspaktes, wie ihn Joschka Fischer vorgeschlagen hat, werden wir zusammen mit unseren EU- und NATO-Partnern auch eine wirksame Aufbauhilfe für die ganze Region leisten müssen.

10. Der Kosovo-Krieg hat uns in eine Grundsatzdebatte unserer außenpolitischen Programmatik gezwungen. Die grundsätzliche Orientierung am Pazifismus werden wir nicht aufgeben. Wir wollen ihn entfalten als politischen Pazifismus, der sich zum Ziel setzt, die Anwendung von Gewalt in den internationalen Beziehungen Schritt für Schritt durch die Herausarbeitung eines wirksamen Gewaltmonopols zurückzudrängen. Dazu gehören insbesondere auch konkretisierte Schritte der UNO-Reform. Wir müssen unsere programmatischen Ansätze zur UN-Reform und zur Weiterentwicklung des Völkerrechts im Sinne der Geltung der Menschenrechte auf die Ebene der praktischen Politik bringen. Wir müssen dafür sorgen, daß die grüne Regierungsbeteiligung bei der Institutionalisierung und Anwendung neuer Instrumente von Konfliktprävention und ziviler Konfliktbearbeitung konkrete Ergebnisse zeitigt. Die Glaubwürdigkeit grüner Außenpolitik wird sich in Zukunft auch
daran messen lassen müssen, wie wir menschenrechtliche Kriterien in anderen Weltgegenden und unter anderen po-litischen Rahmenbedingungen praktisch ernst nehmen. Schließlich - und nicht zuletzt - hat sich im vorliegenden Konflikt auch wieder gezeigt, wie wichtig die Aussage unseres Europawahlprogramms ist, daß die europäischen Länder in Zukunft mehr
gemeinsame außen- und sicherheitspolitische Verantwortung übernehmen müssen.


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