Antrag an des KV Spandau an die BDK von Bündnis 90/Die Grünen am 13. Mai 1999 in Bielefeld

Keinen rot-grünen Atomkredit für den Bau der Atomkraftwerksblöcke "K2R4"
in der Ukraine mit Hilfe von Siemens!


Die BDK wolle beschließen:

1. Die Grünen MinisterInnen, StaatssekretärInnen, Abgeordnete und andere MandatsträgerInnen werden aufgefordert, im Bundestag, in der Bundesregierung und in sonstigen (internationalen) Gremien und Besprechungen einer Finanzierung und Besicherung (z.B. durch Hermes - Bürgschaften) der ukrainischen Atomkraftwerksblöcke Khmelnitzki-2 und Rowno-4 z.B. durch europäische Finanzinstitutionen nicht zuzustimmen.

2. Alle Grünen Mitglieder, einschließlich der MandatsträgerInnen auf Stadt-, Kreis-, Landes-, Bundes-, und Europaebene werden aufgefordert, in ihrem Bereich, z.B. dem Kreis-, Land-, oder dem Deutschen Bundestag sowie in der Bundesregierung Mehrheitsverhältnisse für ein deutsches Veto gegen die Finanzierung und Besicherung der genannten Atomkraftwerksblöcke zu organisieren.

3. Sollte sich die Bundesregierung an einer Finanzierung bzw. Besicherung der genannten Atomkraftwerksblöcke beteiligen, werden die Grünen, einschließlich der MandatsträgerInnen, StaatssekretärInnen und MinisterInnen, die gemeinsame Koalition aufkündigen.

Begründung:

1. Der Atomkredit

Neben den dringend notwendigen Diskussionen um den Krieg im Kosovo droht eine nicht minder aktuelle und ebenso brisante Entscheidung der rot-grünen Bundesregierung in den Schatten zu treten, die ein Fanal in der grünen Atompolitik zu werden droht. Der Ausstieg aus der Atomenergie ist nicht nur in Programmatik und Satzung eines der zentralen Ziele von Bündnis 90/Die Grünen. Der (zügige) Atomausstieg ist auch eines der wenigen konkreten Projekte, mit denen Wahlkampf gemacht wurde und die in der Koalitionsvereinbarung verbindlich festgelegt wurden.

Derzeit wird allerdings in der Bundesregierung nicht nur um den Atomausstieg in Deutschland gerungen. Es geht sogar um die mögliche Unterstützung des Neubaus von (zunächst) zwei Atomkraftwerksblöcken im benachbarten Ausland. Diese Atomkraftwerke hätten ein katastrophales Sicherheitsniveau und zudem ist aus finanztechnischen Gründen mit der Lieferung von Atomstrom auch nach Deutschland zu rechnen. Der Atomausstieg in Deutschland droht damit vollends zu Farce zu werden. Dennoch ist es für die rot-grüne Bundesregierung erstaunlicherweise überhaupt keine Selbstverständlichkeit, Kredite für die neuen Atomkraftwerke zu verhindern! Bundestagsabgeordnete und Bundesminister/innen diskutieren seit Monaten darüber, ob sie die Kreditfinanzierung für den Bau von zwei Atomkraftwerksblöcken in der Ukraine (Khmelnitzki-2 und Rowno-4 bzw. kurz: K2R4) durch europäische Finanzinstitutionen (u.a. EBRD) unterstützen sollen. Von dem Bau dieser Atomkraftwerke würde insbesondere der deutsche Siemens-Konzern sowie die französische Firma Framatome profitieren. Neben der Kreditfinanzierung wird in der deutschen Bundesregierung auch eine mögliche Vergabe von Hermes-Bürgschaften an die Firma Siemens diskutiert.

2. Die Entscheidung der Bundesregierung: völlig offen


Ausschlaggebend für den Bau oder Nicht-Bau der Atomkraftwerke ist die anstehende Kreditentscheidung der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD). Die rot-grüne Bundesregierung könnte den Atomkredit über das Direktorium der europäischen Bank verhindern, weil derartige Kreditentscheidungen der EBRD üblicherweise nicht gegen das Votum eines wichtigen Mitgliedslandes der EU gefällt werden. Die deutsche Bundesregierung hat faktisch ein Vetorecht. Bezüglich der Entscheidung der deutschen Bundesregierung gibt es unterschiedliche Verlautbarungen. In ersten öffentlichen Stellungnahmen vor einigen Monaten wurde von allen beteiligten Regierungsstellen - einschließlich des Bundesumweltministeriums - Unterstützung für den Atomkredit signalisiert. Zwischenzeitlich gab es einen Beschluß des Bundeskabinetts, wonach Alternativen zum Atomkraftwerksbau auf diplomatischem Wege ins Gespräch gebracht werden sollen.

Inzwischen heißt es, die grünen Minister hätten sich gegen den Atomkredit festgelegt. Auch der neue Bundesfinanzminister Hans Eichel sprach sich kürzlich öffentlich gegen den Atomkredit aus. Hinzu kommen die Beschlüsse der Bundestagsfraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, in denen die Bundesregierung aufgefordert wird, den Atomkredit nicht zu unterstützen. Aus dem (neben dem Umweltministerium) zuständigen Bundesfinanzministerium sowie aus dem Bundeskanzleramt kamen bislang allerdings nur eindeutig zustimmende Signale für den Atomkredit. Es besteht die Gefahr, daß das Bundeskanzleramt den Atomkredit zugunsten von Siemens durch das Bundeskabinett durchboxen möchte. Einzelnen Zeitungsmeldungen zufolge hat sich die rot-grüne Bundesregierung Ende März mit der französischen Regierung darauf verständigt, den Atomkredit für Siemens und für die französische Firma Framatome zu unterstützen. Derzeit ist völlig offen, wie sich die Bundesregierung verhalten wird. Wenn es von der Bundesdelegiertenkonferenz keinen eindeutigen Auftrag für das Abstimmungsverhalten zumindest für die grünen Bundesminister und keinen Druck auf das Regierungsbündnis insgesamt gibt, kann der Druck von Siemens auf die Bundesregierung ausschlaggebend für die Gewährung des Atomkredits sein!

Wir halten es daher für notwendig, in dieser Frage des möglichen "Wiedereinstiegs in den Bau von Atomkraftwerken unter rot-grün" an Klarheit und Konsequenz nicht zu sparen!

3. Der Skandal: Ukraine wurde von Deutschland und Frankreich zum Atomkraftwerksbau gedrängt!

Vor wenigen Monaten wurde bekannt, daß die Ukraine 1995 als Ersatz für den in Tschernobyl noch laufenden Atomkraftwerksblock ein risikoarmes Gaskraftwerk bauen wollte, jedoch von Deutschland und Frankreich zur Fertigstellung der beiden Atomkraftwerksblöcke gedrängt wurde (vgl. u.a. einen Bericht des TV-Magazins "Report" vom 1. März '99).
In einem Schreiben des ukrainischen Präsidenten Kuchma vom 17.5.1998 an den damaligen G7-Vorsitzenden Toni Blair, heißt es (in deutscher Übersetzung): "Das Projekt, den Bau dieser beiden Reaktoren fertigzustellen, ist von westlichen Partnern vorgeschlagen worden als eine Alternative zu dem ukrainischen Vorschlag, ein Dampf-Gas-Kraftwerk in der Nähe von Slawutitsch zu bauen." Ähnlich äußerte sich der ehemalige ukrainische Umweltminister. Inzwischen wurde auch in einem Schreiben des Bundesfinanzministeriums eingeräumt, daß die zwischenstaatliche Übereinkunft ("Memorandum of Understanding") von 1995, die den Atomkraftwerksbau vorsieht, "auf Initiative der Bundesrepublik Deutschland und Frankreichs" zustande kam (vg. Paulitz in "Freitag" 23.04.1999).

Es war also nicht die bornierte ukrainische Regierung, die unbedingt an der Atomenergie festhalten wollte. Vielmehr waren es Deutschland und Frankreich, die unter dem Druck von Siemens und Framatome die finanziell praktisch handlungsunfähige Ukraine erfolgreich auf den Atomkraftwerksbau festlegten. Würde rot-grün diese Politik der alten Bundesregierung nun fortsetzen, dann würden sich auch Bündnis 90/Die Grünen an einer Politik beteiligen, die der Ukraine nach Tschernobyl weitere Atomkraftwerke mit einem katastrophalem Sicherheitsniveau aufdrängt, obwohl es noch zu verhindern gewesen wäre.

4. Das Sicherheitsniveau der geplanten Atomkraftwerke: katastrophal !

Die beiden in Bau befindlichen Atomkraftwerke weisen erschreckend schwere, überwiegend nicht mehr behebbare Sicherheitsdefizite auf. Zudem soll aus Kostengründen auf den Austausch hochgefährlicher Komponenten verzichtet werden:
· Das Containment ohne innere Stahlauskleidung droht bei den im Fall einer Kernschmelze auftretenden Drücken zu bersten.
· Die Internationale Atomenergieorganisation IAEA sieht erhebliche Risiken bezüglich der Sprödbruchsicherheit der Reaktordruckbehälter.
· IAEA, russische Konstrukteure und westliche Firmen sind sich grundsätzlich einig, daß der in Relation zur Leistung sehr kleine Druckkessel der WWER-1000-Reaktoren eigentlich völlig neu konstruiert werden müßte!
· Da es nur einen Abfluß aus dem Containment-Sumpf gibt, könnte beim Verstopfen
· z.B. durch Isolationsmaterial - im Notfall die Nachwärmeabfuhr vollständig versagen.
· Die laut IAEA hohe Versagenshäufigkeit von Steuerstäben und Steuerstabantrieben in WWER-1000-Reaktoren kann im Notfall ein Abschalten der Atomreaktoren vereiteln. Dennoch sollen die Steuerstabantriebe nicht ausgetauscht werden.
· Obwohl es in WWER-1000-Reaktoren sehr häufig zu Bränden kommt, ist eine Neu-Verlegung der stark brandgefährdeten Kabelstränge nicht geplant. (weiteres Details im Internet: www.siemens-boykott.de)


5. Der Pferdefuß: Atomstromimporte nach Deutschland:

Der Atomkraftwerksbau in Osteuropa durch Siemens dürfte unangenehme Folgen auch für den geplanten Atomausstieg in Deutschland haben. Denn für die Refinanzierung der Baukredite müßte Atomstrom nach Deutschland importiert werden, wie Siemens inzwischen bestätigte.

Die Bayernwerk AG hat vor wenigen Wochen einen (Atom-)Strombezug aus Rußland vereinbart, die RWE AG verhandelt mit der Ukraine über Atomstromlieferungen nach Deutschland. Die jahrelangen Warnungen vor Atomstromimporten deutscher Energieversorger im Zuge von Atomtechnik-Exporten durch Siemens drohen nun, unter rot-grün, Realität zu werden. Der Atomkraftwerksbau in der Ukraine würde demnach den gewünschten Atomausstieg in Deutschland zur Farce werden lassen.

6. Die Argumente der Bundesregierung: nicht stichhaltig

Die rot-grüne Bundesregierung stützt sich in Stellungnahmen immer wieder auf drei Argumente:
a) Die Stillegung von Tschernobyl habe Priorität, daher müsse man notfalls den Bau von zwei Ersatz-Atomkraftwerken unterstützen.
b) Es seien internationale Abkommen einzuhalten, die die Fertigstellung der beiden Atomkraftwerksblöcke in der Ukraine vorsähen.
c) Für die Finanzierung eines Gaskraftwerks anstelle der Atomkraftwerke fehle vermutlich die Unterstützung Frankreichs, das wegen der Atomfirma Framatome den Atomkraftwerksbau befürwortet.

Alle diese Argumente sind nicht stichhaltig:
Zu a) Ziel einer Stillegung von Tschernobyl
Hätte der Westen 1995 - wie von der Ukraine gewünscht - Gelder für den Bau eines Gaskraftwerks (oder auch für Energiesparmaßnahmen) bereitgestellt, könnte der Ersatz für Tschernobyl längst da sein.
Selbst wenn der EBRD-Kredit an die Bedingung geknüpft wird, Tschernobyl stillzulegen, so ist - wie die bisherigen Erfahrungen zeigen - dennoch höchst zweifelhaft, daß dies auch realisiert wird. So muß trotz einer entsprechenden EBRD-Klausel weder Litauen Sanktionen fürchten, weil das Atomkraftwerk Ignalina nicht wie vereinbart um das Jahr 2000 abgeschaltet werden wird. Noch wird die Slowakei trotz einer entsprechenden Klausel im Rahmen einer (deutschen) Hermes-Bürgschaft ersucht, das Atomkraftwerk Bohunice abzuschalten, obwohl in Mochovce bald der zweite Block mit Hilfe von Siemens ans Netz geht. Das Sicherheitsniveau der beiden ukrainischen Atomkraftwerksblöcke, die jetzt mit Hilfe von Siemens gebaut werden sollen, wird derart katastrophal sein, daß man sich fragen muß, welchen Sicherheitsgewinn es bedeutet, diese Anlagen anstelle von Tschernobyl zu betreiben. Beispielsweise sind sich russische Konstrukteure, westliche Firmen und die Internationale Atomenergieorganisation einig, daß der Reaktorkern dieser Anlagen völlig neu konstruiert werden müßte.
Zu b) Einhaltung internationaler Abkommen
Die geplante Fertigstellung der beiden ukrainischen Reaktoren beruht auf einem 1995 von der G7 und der Ukraine unterzeichneten sogenannten "Memorandum of Understanding". Dabei handelt es sich um eine Willensbekundung und nicht um ein völkerrechtlich bindendes Abkommen.
Das "Memorandum of Understanding" knüpft den Atomkraftwerksbau an die Bedingung, daß es sich hierbei um die wirtschaftlichste Alternative für die Ukraine handelt. Dies wurde jedoch von den beauftragten Gutachtern der EBRD überwiegend verneint: Sowohl eine internationale Expertenkommission unter Vorsitz eines Professors der britischen Sussex University als auch die Europäische Investitionsbank (EIB) halten die Atomkraftwerke nicht für wirtschaftlich. Selbst die nachträglich beauftragte atomenergiefreundliche US-Firma Stone & Webster kam lediglich zu dem Schluß, daß die Atomkraftwerke "mit einer Wahrscheinlichkeit von 50%" die wirtschaftlichste Variante seien. Nur die RWE-Tochter Lahmeyer Consulting sieht in der nuklearen Variante die wirtschaftlichste Lösung.
Zu c) Unterstützung Frankreichs für die Finanzierung eines Gaskraftwerks
Der Bau und somit die Finanzierung eines Gaskraftwerks in der Ukraine ist derzeit nicht zwingend notwendig. Denn in der Ukraine steht einer installierten Kraftwerksleistung von rund 54 Gigawatt eine Spitzenlast von lediglich 27 Gigawatt (1997) gegenüber. Ersatzbedarf für neue Kraftwerke wird frühestens (!) im Jahr 2006 gesehen. Im Gegensatz zur EBRD setzt die Weltbank in der Ukraine auf Energiesparmaßnahmen. Vor wenigen Monaten bewilligte sie einen Kredit in Höhe von 360 Millionen Mark für Energieeinsparungen in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Die Weltbank ist davon überzeugt, daß diese Kreditvergabe wirtschaftlich ist.
Zudem: Auch Frankreich muß respektieren, wenn in Deutschland eine neue Bundesregierung gewählt wurde, die sich den Atomausstieg zum Ziel gesetzt hat. Gerade Absprachen zwischen den zwei reichen und wirtschaftlich sehr starken Ländern, die häufig zugunsten der eigenen Industrie gegen die Interessen dritter Länder durchgesetzt wurden, können kein hinreichendes Argument für die Entscheidungen der neuen Bundesregierung sein.
Teilen der neuen Bundesregierung geht es offenbar ebenso wie der alten Bundesregierung schlicht um die Förderung des Atomtechnik-Exports durch Siemens, wie der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesfinanzministerium Karl Diller in einem Schreiben kürzlich deutlich machte. Diller wörtlich: "Es liegt im Interesse der Bundesregierung, daß sich deutsche Exporteure an der Erhöhung der Sicherheitsstandards bei Kernkraftwerken beteiligen, wenn die betreffenden Staaten ihre Entscheidung zur Modernisierung älterer Kraftwerke getroffen haben."