Sylvia Kotting-Uhl Der 11. September und seine Folgen 17. 9. 2001
es gibt keine angemessenen Worte für das, was in Amerika geschehen ist. Die Schweigeminuten überall in Deutschland, die stillen Mahnwachen und das Bild von 200 000 Menschen in Berlin in einer Demonstration der Trauer sind wahrscheinlich der Ausdruck von Anteilnahme, der der Unfassbarkeit des Geschehens am gerechtesten wird. Selbstverständlich, dass den USA Anteilnahme und Solidarität nicht nur in Bildern gezeigt, sondern auch mit Worten versichert wurde. Das Bedürfnis gerade in unserem Land, der bis ins Mark des Selbstwertgefühls getroffenen Großmacht zur Seite zu stehen, entspringt der besonderen Freundschaft und der Dankbarkeit Deutschlands gegenüber den USA, die ihren Ursprung in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg hat. Zu Recht unvergessen ist die Hilfe Amerikas auf dem Weg unseres Landes in die Demokratie. Wie Verräter an der Freundschaft oder gefühllose Kopfmenschen wirken in der Situation tiefster emotionaler Aufgewühltheit auf manche diejenigen, die angesichts des verständlichen Bedürfnisses der USA nach Vergeltung zur Besonnenheit bei der Wahl der Mittel mahnen. So stoßen auch die drei Bundestagsabgeordneten, die sich dem Beschluss der Fraktion verweigerten und die Feststellung des Bündnisfalles nicht für das angemessene Mittel halten, bei weiten Teilen unserer Führungsebenen auf - gelinde gesagt - eine Mauer des Unverständnisses. Auch ich fühle mich geneigt, in diesem Fall einer gemeinsamen Sprache unserer Partei das Wort zu reden - zu kleinlich wirkt angesichts der Ereignisse des 11. September jegliches Parteiengezänk. Andererseits hat der Ruf nach Geschlossenheit in unserer Partei seit der Regierungsbeteiligung bereits eine zu traurige Tradition, als dass er als ein diesem besonderen Fall geschuldetes Zugeständnis gewertet werden könnte. Und die Gefahr - im Bedürfnis, Unerträglichem jede Art der Anteilnahme zu gewähren - ein Abwägen angemessener Reaktion als Einschränkung der Anteilnahme abzulehnen, ist in der Tat nicht klein. So ist es nachvollziehbar, dass Bundeskanzler Schröder das Bedürfnis hatte, die USA sofort der betont uneingeschränkten Solidarität der Bundesrepublik zu versichern - ob es vernünftig war, darüber kann man geteilter Meinung sein. Ich fühle mich nicht berufen, die Feststellung des Bündnisfalles
zu verurteilen. Ich stelle aber bei der täglichen Zeitungslektüre
fest, dass die Selbstverständlichkeit und Eindeutigkeit des Bündnisfalles,
die von der Bundesregierung und der grünen Fraktion proklamiert
werden, nicht überall so gesehen werden. Den Bündnisfall festzustellen
war eine politische Entscheidung. Die anscheinende Zwangsläufigkeit
mehr der Hilflosigkeit der Situation geschuldet als der zweifelsfreien
Anwendbarkeit des Artikel 5 des Nato-Vertrags. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat ebenso wie der UN-Sicherheitsrat
am 12. September eine Resolution verabschiedet, die die Anschläge
aufs Schärfste verurteilt. Ich will mich nun aber nicht allzu sehr dem in unserer Partei bereits präsenten Vorwurf einer diesem Fall unangemessenen Wortklauberei aussetzen. Einem Vorwurf, den ich sogar nachvollziehen kann, denn dieser Terrorakt, der auf bisher tatsächlich nicht gekannte Weise allem entwickelten Regelwerk von Menschen Hohn lacht, weckt ein archaisches Bedürfnis nach Vergeltung. Diesem Gefühl zu widerstehen, dürfte nicht nur Amerikanern in diesen Tagen schwer fallen. Denn mit New York als der wohl internationalsten Stadt dieser Welt wurde in der Tat etwas anderes als ein amerikanisches Machtzentrum, wie das in Reinkultur das Pentagon darstellt, getroffen. Die Wahl des Objektes World Trade Center hat mehrere sich ergänzende Bedeutungsebenen. Diese Türme waren ein Symbol für Wirtschaftsmacht, für Geldpolitik, aber auch für Internationalisierung, für das Zusammenwachsen der gesamten westlichen Welt. Sie zu zerstören, war ein geradezu genialer Auftakt im Sinne des offensichtlichen Ziels der Terroristen: den "clash of civilizations", den Krieg der Kulturen zu provozieren. Viel mehr als jede andere stellt sich jetzt die Frage, wie zu vermeiden
ist, diesem Ziel der Terroristen ungewollt zu dienen, der "Terrorfalle",
wie das der Orientwissenschaftler Rotter nennt, auszuweichen, ohne den
Terrorakt ungesühnt zu lassen. Einen Krieg gegen Afghanistan zu
führen, wenn die Machthaber sich weiterhin weigern, den seine Unschuld
beteuernden Bin Laden auszuliefern, scheint kurzfristig nahezu die einzige
Möglichkeit, aktiv zu werden - und ist doch sicher die unklügste.
Damit wären die Terroristen einen Schritt weiter auf ihrem Weg
mit dem Ziel einer Solidarisierung der islamischen Welt gegen den Westen.
Wenn auch mit Ausnahme des Irak alle islamischen Staaten den Terrorakt
verurteilt haben, so gibt es in deren Bevölkerungen doch viele
Zeichen des Unmuts angesichts einer auch nur passiven möglichen
Unterstützung der USA in einem Krieg gegen Afghanistan. Auch unter
den Menschen des Westens würden die USA - bei aller Solidaritätsbekundung
und Teilnahme an ihrem Leid - nicht nur Sympathie für einen Feldzug
gegen ein Land finden, das wie kaum ein anderes bereits ausgelaugt ist
von Not, Unterdrückung und dem Krieg mit Russland. Vergessen wir
nicht, dass dank der Omnipräsenz der Medien das, was Krieg tatsächlich
bedeutet, heute fast überall auf der Welt "live" mit
zu erleben ist. Permanente Bilder von Leid und Zerstörung machen
relativ schnell die Rede vom gerechten oder gerechtfertigten Krieg zur
nicht realitätstauglichen Mär. Ich war wie viele Grüne und ehemalige Grüne bisher gegen
jeden Kriegseinsatz, über den unsere Partei mit entscheiden musste.
Die Argumentationen dagegen gleichen sich naturgemäß immer
etwas. Doch diesmal kommt doch noch ein anderer Aspekt dazu: die Frage,
ob Krieg im historischen Sinn angesichts der vielzitierten neuen Herausforderungen
und eines neuen "unsichtbaren" Gegners im 21.Jahrhundert nicht
ein völlig untaugliches antiquiertes Mittel ist, das zum gewollten
Erfolg gar nicht führen kann. Ein Mittel, zu dem - womöglich
sogar im Bewusstsein seiner Erfolgsunfähigkeit - reflexartig gegriffen
wird, weil man auf die neuen Herausforderungen noch keine neuen Antworten
weiß. Dafür spräche auch, dass von Bush bisher keinerlei
Informationen vorliegen, was konkret er eigentlich zu tun gedenkt. "Den
Terrorismus ausrotten" in einem "radikalen, dauerhaften und
effektiven Kampf". Möchte das jemand in Bildern von Kriegshandlungen
zu Ende denken? Auch unter Einbeziehung der Erkenntnisse des CIA, dass
Afghanistan "nicht das Zentrum des Terrors" ist und fanatische
Terroristen in nicht weniger als 35 Staaten der Erde aktiv oder untergetaucht
sind? Soll die Bekämpfung des Terrorismus nicht vorrangig durch
spektakuläre Aktionen das Bedürfnis nach Vergeltung befriedigen,
sondern erfolgsorientiert ausgerichtet sein, dann wird man zu anderen
Mitteln als einem Krieg greifen müssen. Polizeiliche Mechanismen,
Verhandlungen, diplomatische Gespräche sind wenig spektakulär
und werden kurzfristig niemanden zufrieden stellen. Die Identifizierung
der Täter und ihre Ergreifung wird aber um so eher möglich
sein, je isolierter sie sind. Diese Isolierung herzustellen, muss Ziel
einer sinnvollen Terrorismusbekämpfung sein, in einem weltweiten
Bündnis der Kulturen gegen Terror, anstatt die Kulturen zu spalten,
indem man die Kriegserklärung fanatischer Extremisten gegen die
westliche Zivilisation annimmt. Will man den Terrorismus langfristig bekämpfen, wird man nicht umhin kommen, auch nach seinen Ursachen zu fragen. Da geraten die USA dann genauso ins Blickfeld wie die reichen Staaten des Nahen Ostens und sicher auch Europa. Die Verantwortlichkeiten sind da vielfältig, fangen bei Unterstützung menschenverachtender Regime, wenn es politisch gerade opportun scheint, an und hören bei der ressourcenfressenden Lebensweise des Westens noch lange nicht auf. Ich möchte am Schluss meiner Überlegungen zwei Amerikaner zu Wort kommen lassen, die der Nähe zu links/friedenspolitisch orientierten Grünen wahrscheinlich relativ unverdächtig sind: Der frühere Nato-Oberbefehlshaber Wesley Clark sagte in einem Interview, terroristische Bedrohungen müssten mit geduldigen Bemühungen bekämpft und überwunden werden. Dazu gehörten politische, diplomatische, wirtschaftliche und auch soziale Anstrengungen. "Mit dem Wort `Krieg´ sollten wir etwas sparsamer umgehen. ... Aber leider ist die Verbesserung von Lebensbedingungen weniger glorreich, als einen Krieg auf dem Schlachtfeld zu gewinnen." Und der amtierende US-Außenminister Powell: "Soldaten müssen erst ran, wenn die Politik versagt hat." Mit grünen Grüßen |