Raus aus der neuen Mitte!

Wege zu einem klaren grünen Profil

30.6.99

von Sven Metzger, Ramona Pop, Jörg Prante und Christian Simmert

Große Teile der jungen Generation haben am 27. September 1998 auf den rot-grünen Wechsel gesetzt. Einen Wechsel nach 16 Jahren Kohl, der nicht nur ein Macht- sondern auch ein Politikwechsel sein sollte. Nach nun neun Monaten haben sich große Teile vom Reformprojekt Rot-Grün zum Kohlschen Politikmodell gedanklich - so scheint es zumindest - verabschiedet. Die Koalition im allgemeinen, aber auch die Grünen im besonderen, bieten nicht unbedingt das Bild einer vor Power strotzenden politischen Erfolgsstory.

"Die Situation ist da" sagen nun 40 junge grüne Funktionäre, die mit "einer Auswechselung der Mitgliedschaft", dem Beerben der FDP und der Forderung nach mehr Professionalität in der Partei ganz unprofessionell einen Richtungsstreit anzetteln. Nur in welche Richtung sie wollen, verraten sie nicht. Diese zweite Generation sieht die Krise und will sie mit Ausgrenzung beantworten - dieser zweiten Generation fühlen wir uns nicht verbunden.

Wir als junge engagierte Mitglieder in der Partei, FunktionsträgerInnen und Aktive in den grünen Jugendverbänden haben ein anderes Politikverständnis und -konzept, als die auf Partei und "Parteichinesisch" fixierten grünen Westerwellen. Uns geht es nicht um die grüne Partei als Selbstzweck, uns geht es um die Perspektiven einer jungen Generation, die nichts anderes als 16 Jahre Perspektivlosigkeit kannte. Sie hat die Hoffnung auf berufliche Perspektiven, bessere Ausbildungsbedingungen, mehr soziale Gerechtigkeit und demokratische Grundrechte. Wir wollen, daß unsere Partei gesellschaftliche Bündnisse schließt, beispielsweise Bündnisse mit jungen GewerkschafterInnen und anderen gesellschaftlichen Initiativen. Hier hat unsere Partei in neun Monaten Regierungsverantwortung versagt - das muß sich ändern. Wir wollen keine Partei als "Dienstleistungsunternehmen" wie im Papier "Bündnis 90/Die Grünen haben eine zweite Chance verdient" gefordert. Wer Dienstleistungen anbieten möchte, sollte sich selbständig machen oder Broker werden.

Die Grünen haben gerade bei den Erst- und JungwählerInnen verloren. Ihre Unterstützung hat sich bei den letzten Wahlen in Hessen und bei den Europawahlen halbiert. Grüne verstehen es nicht mehr, ihre einstige Bastion für sich zu begeistern. Begeistern heißt, Politik leidenschaftlich und mit Überzeugung zu transportieren. Begeistern heißt aber auch, Strategien zu entwickeln, um stärkeres grünes Profil innerhalb der Koalition zu finden. Mittlerweile sehen sich viele junge Leute von Rot-Grün enttäuscht. Sie gehen einfach nicht mehr wählen. Es kann aber nicht sein, daß Rot-Grün Katalysator für politische Alternativlosigkeit ist. Die Grünen müssen endlich mit 16 Jahren Kohl aufräumen!

Die Grünen haben, als sie sich gründeten, erkannt, wie das konservativ-liberale System Kohl abgelöst werden kann. Ein rot-grünes Bündnis bestehend aus linken und ökologischen Kräften war die Voraussetzung dafür, eine gesellschaftliche Mehrheit links von der CDU zu schaffen. Für junge Menschen war der ständige Kohl eine herbe Enttäuschung.

Am 27. September gewann die Rot-Grün die Wahlen vor allem deshalb, weil sie den Menschen mehr soziale Gerechtigkeit und eine Umverteilung von oben nach unten versprochen hat.

Nun soll für die Grünen wenige Monate später alles anders werden, ginge es nach dem Willen einiger junger grüner Funktionsträger. Hauptsache, alles wird anders: Die zweite Generation ist da, sie hat mit 68 nichts zu tun, ist pragmatisch, machtbewußt, und real(o)politisch - das ist die Message. Die ist klar und dünn formuliert: "den politischen Dachboden der Grünen entrümpeln, das Wertvolle bewahren und das Vergangene, den Plunder entsorgen". Ein Entsorgungskonzept wird gleich mitgeliefert: Wir beerben die FDP.

In der Berliner Republik wird aber verlangt, daß die große Gerechtigkeitslücke ausgefüllt wird, die Kohl hinterlassen hat. Die Menschen wollen keine Politik, in der sie hin und her geschubst werden und diffuse Ängste vor der Politik und dem Staat entwickeln.

Probleme sind in unserer Republik zu lange verwaltet worden. Die Grünen müssen klare Akzente in der Regierungspolitik setzen. Klare Akzente für die junge Generation: Die liegen eindeutig bei Bildung, Ausbildung, Arbeit, demokratische Grundrechte und Ökologie.

Die größten Ängste und Sorgen haben junge Menschen um ihre eigene Zukunft. Sie wollen qualifizierte Ausbildung und Arbeit. Grüne müssen deshalb Partei für die SchülerInnen und StudentInnen ergreifen.

Zentraler Punkt ist die flächendeckende Bereitstellung von Ausbildungsplätzen. Das Sofortprogramm der Regierung für 100.000 Jugendliche ist ein Anfang. Das Bündnis für Arbeit muß stärker von grüner Handschrift geprägt werden und ergebnisorientierter arbeiten. Im Herbst ist Bilanz angesagt: Sollte es bis dahin nicht gelungen sein, genügend Plätze zu schaffen, dann muß die Wirtschaft zugunsten der jungen Generation zur Kasse gebeten werden. Junge Menschen fordern eine dauerhafte Perspektive für eine eigenständige Existenzsicherung. Für Grüne muß das heißen: Koppelung der Altersteilzeit an BerufsanfängerInnenteilzeit, staatliche Förderung von benachteiligten Jugendlichen und MigrantInnen.

Grüne stehen dafür, eine Gebührenfreiheit im Studium gesetzlich zu garantieren, um das individuelle Recht auf Bildung für alle zu verwirklichen. Wir müssen zumindest die im Koalitionsvertrag vereinbarten Strukturreformen umsetzen. Ein erneuertes BAföG, die Verdopplung der Bildungs- und Forschungsausgaben und eine leistungsorientierte Finanzierung der Hochschulen sind überfällig.

Alles andere wäre für die jungen WählerInnen, die in der Hoffnung auf eine bessere Perspektive die Kohl-Regierung abgewählt haben, ein gebrochenes Wahlversprechen.

Im Bereich der sozialen Absicherung, der Gesundheits- und Altersvorsorge, muß Solidarität Leitbild der Koalition sein. Eine Individualisierung der Lebensrisiken darf es mit Rot-Grün nicht geben. Durch die Rentenreform muß Altersarmut auch im Jahr 2030 verhindert werden, durch die soziale Grundsicherung wollen wir quer durch die bestehenden Systeme eine neue, verbesserte Dimension der Armutsvermeidung erreichen.

Zur Finanzierung gibt es eine Reihe von Vorschlägen, die zur staatlichen Einnahmeverbesserung führen. Der Abbau von Subventionen, die Überprüfung von Sondervergünstigungen, die steuerliche Berücksichtigung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit durch die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, die Reform der Erbschafts- und Schenkungssteuer, Kappung des Vorteils beim Ehegattensplitting, und die Einführung von Verfahren zur Eindämmung von internationalem Steuerdumping, Steuerflucht und Steuerumgehung können geeignete Maßnahmen sein.

Die junge Generation interessiert aber nicht nur die Gestaltung der Staatsfinanzen, sondern auch die Gestaltung der Lebensgrundlagen.

Wir bleiben dabei: Der sofortige Atomausstieg ist für uns unabdingbar. Das Vernichtungspotential dieser Technologie macht den Atomausstieg ökologisch wie ökonomisch zu einer absoluten Notwendigkeit. Statt Schrottreaktoren wollen wir Windkrafträder und Solaranlagen sehen! Windkraft schafft bei der gleichen Menge Strom das fünffache an Arbeitsplätzen im Vergleich zur Atomenergie. Es ist deshalb leichtfertig, die Chancen der jungen Generation auf eine ökologische und arbeitsplatzsichernde Energieversorgung zu verspielen.

Was wir in den Gesprächen um den Atomausstieg bisher erlebt haben, ist nicht weniger als die Festschreibung einer Bestandsgarantie zugunsten der Atomkraftwerksbetreiber.

Ökologie findet bei den Grünen und in der Bundesregierung nur noch als Ökosteuerdebatte statt. Aber Umweltschutz ist mehr als die Senkung von Lohnnebenkosten! Ökologie bedeutet für uns, den überfälligen gesellschaftlichen Strukturwandel zu schaffen. Dabei darf keinesfalls im Konzept der ökologischen Steuerreform die soziale Flankierung für Auszubildende, StudentInnen, RentnerInnen fehlen. Die Grünen sind gefordert, der Macht des Betons, die Macht der Vernunft innerhalb der Koalition konstruktiv entgegenzusetzen.

Egal welcher Jahrgang der grüne Wein auch hat - politische Beliebigkeit und aufgesetzte Generationenkonflikte bringen die Grünen keinen Zentimeter weiter. Das pseudojunge Papier der angestaubten Jungfunktionäre will in die "Neue Mitte", kommt dort jedoch nicht an. Um so intensiver beschäftigen sich die Autoren mit den "langweiligen" 68ern. Eine für unser Land wirklich unbedeutsame Frage, die jenseits des grünen Tellerrands nicht wirklich spannend ist: "Hört auf, die Republik mit den Geschichten von damals zu nerven" tönt es der Gründergeneration entgegen. Wenn es doch nur die Geschichten wären, die nervten, dann wäre es ja erträglich. Es sind aber gerade für junge Leute vielmehr die fehlenden Jobs und Ausbildungsplätze, der fehlende soziale Ausgleich bei der Ökosteuer oder wahlweise die immer noch schlechten Studienbedingungen, die mehr unter den Nägeln brennen als ein virtueller grüner Generationenkonflikt.

Die Zukunft der Partei entscheidet sich nicht am Verbalradikalismus der grünen "jungen Milden", vielmehr geht es um stichhaltige politische Konzepte, die wir vergeblich gesucht haben. Wir werden weder die FDP beerben, noch uns an dem wahrscheinlich längsten FDP-Aufnahmeantrag, den die Welt je gesehen hat, beteiligen.

Ausgrenzung statt Integration und die Abwesenheit von Substanz ziehen sich durch das gesamte ziellose "Dokument des Fiaskos" der 40 jungen Funktionäre. Das reißt weder junge WählerInnen noch uns vom Hocker. Auch Folkloregruppen mögen interessant sein. Aber wir stehen nicht auf Volkstänze. Wir werden weiter mit Leidenschaft konkret grüne Politik gestalten. Uns reicht es dann schon, wenn wir die Verhältnisse zum Tanzen bringen.

Die zentrale Herausforderung für die Grünen ist, die soziale Frage in den Mittelpunkt des Regierungshandelns zu stellen. Wir müssen die Glaubwürdigkeitslücke der SPD nutzen und mit grünen Konzepten füllen, anstatt uns um die Klientel einer 3-Prozent-Partei zu kümmern.

Die Grünen kurz vor der Jahrtausendwende leben vornehmlich vom Mythos vergangener Tage und scheuen Konflikte und den öffentlichen Druck. Statt mit Engagement die Visionen und daraus folgend, realisierbare Modelle voranzutreiben, flüchten sich die Spitzenfunktionäre der Partei in die pragmatische Alltagspolitik und verlieren dabei das Ziel aus den Augen. Die Ziele sind klar benannt: Soziale Gerechtigkeit, faire Bildungschancen, eine zukunftsfähige Arbeitsmarktpolitik für junge Frauen und Männer, Stärkung der BürgerInnenrechte und nachhaltiges ökologisches Wirtschaften.

Große Teile der jungen Generation erwarten von den Grünen, daß genau diese Ziele nicht verloren gehen. Politik braucht Ziele, die auch Kompromisse erfordern und Grundsätze beinhalten. Diese für unsere Generation zu finden und zu formulieren, das ist unsere Aufgabe. Nicht mit dem moralischen Zeigefinger, aber eben mit einer klaren politischen Vorstellung, wohin die Reise geht.

Momentan scheint niemand in den "Führungsetagen" so recht zu wissen wohin diese Reise geht - weder bei der SPD noch bei uns. Rot-Grün war nie eine solch ehrgeizige Reformidee, wie sie es werden könnte. Daran sollten die Grünen ein existentielles Interesse haben.

Nur wenn wir den Mut besitzen, unsere Konzepte zu vertreten, nicht ohne Rücksicht auf ihre Machbarkeit, aber ohne Rücksicht auf konservativen politischen Gegenwind, haben wir überhaupt eine Chance Politik zu gestalten.

Wir sehen die grüne Partei nach wie vor als die einzige parteipolitische Kraft, die reformorientierte und emanzipatorische Politik umsetzen kann. Die Zukunft der Grünen ist die einer pragmatischen Linkspartei. Einer unserer Identifikationspunkte muß soziale Gerechtigkeit sein - die Gerechtigkeitslücke müssen wir schließen!

Mit diesen Ideen wollen wir einige wichtige Denkanstöße liefern. Dieses Papier kann und will nicht alle nötigen Aspekte einer programmatischen Diskussion erfüllen. Wir sind offen, an bestehende Debatten anzuknüpfen und neue zu beginnen.

Es geht nicht darum, virtuelle Marktlücken im Parteiensystem zu besetzen, oder parteipolitische Auslaufmodelle billig im Ausverkauf zu erstehen. Eine Partei kann nicht beliebig positioniert werden, sie muß ihren Platz im Parteiensystem finden und nicht Wunschbildern nachlaufen. Wir wollen nicht in den "Niedrig-Prozent-Sektor", wir wollen eine grüne Politik, die streitbar, kreativ und konkret umsetzbar ist.

UnterstützerInnen: Ilka Schröder MdEP; Steffi Lemke MdB; Katja Husen (Sprecherin GAJB); Andreas Gebhard (Sprecher GAJB); Antje Witting (KV Prenzlauer Berg); Jan Ceyssens; (KV Trier- Saarburg); Simon Schunk (KV Gießen); Tillmann Holzer (KV Mannheim); Stefan Oeknigk (KV Münster); Carsten Peters (KV Münster); Wolf Buchmann (LaVo GJB RLP); Jan Fries (LV Bremen); Henning Richter (KV Rhein-Berg); Jan Köhler (LV Bremen); Nils Wiechmann (Sprecher GJB RLP); Sebastian Bischof (KV Böblingen); Emmi Kotzian (Vorstand KV Nürnberg); Axel Hercher (KV Mühlheim); Johannes Glembek (KV Trier-Saarburg); Thomas Sendlbeck (KV Duisburg); Markus Beckedahl (Sprecher Junge Grüne Rhein-Sieg); Jost Wagner (KV Trier-Saarburg); Ines Eichmüller (Vorstand KV Nürnberg; Sprecherin BGJ Bayern); Christian Meyer (GAJB-Länderauschußdelegierter); Philipp Hagenath (LaVo GJN); Marco Rieckmann (LaVo GJN); Konstantin Knorr (OV Hemmingen); Philipp Mohr (Vorstand KV Lüneburg); Jens Augner (Kandidat Berliner Abgeordnetenhaus); Werner Graf (Sprecher BGJ Bayern; Vorstand KV Neumarkt); Jan Kellermann (KV Prenzlauer Berg); Christian Tischer (LaVo GJB RLP); Dorina Kunzweiler (KV Düren); Franziska Brantner (GAJB-BuVo); Christoph Schmitt (KV Saarbrücken), Ingo Stürmer (KV Göttingen)

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