Resolution
Erklärung des links-grünen Strategietreffens am 3. 10. 1999 in Berlin
Kurswechsel jetzt -Wir wollen das sozial-ökologische Reformprojekt -
Die bisherige Bilanz der rot-grünen Bundesregierung ist keine Erfolgsgeschichte. Beide Regierungsparteien haben 1999 bei allen Wahlen schwere Verluste erlitten. Das Ausmaß der bündnisgrünen Wahlniederlagen bedroht inzwischen die politische Existenz der Partei. Wir wenden uns in dieser Lage gegen oberflächliche Durchhalteparolen und organisatorische Scheinlösungen. Wir müssen aus unseren Niederlagen lernen und unsere politischen Fehler offen diskutieren.
Wir wenden uns gegen die Behauptung, die Hauptursache der bündnisgrünen Niederlagen sei ein Struktur- und Vermittlungsproblem. Nicht die Doppelspitze in Partei und Fraktion und nicht die Trennung von Amt und Mandat im Bundesvorstand führen dazu, daß sich die WählerInnen von uns abwenden. Es geht um Politik und Erscheinungsbild von Bundesregierung und Bundestagsfraktion. Über sie muß gesprochen werden bevor über Satzungsparagraphen und den Parteivorstand geredet wird.
Wir halten wichtige Grundlinien und Ziele unserer bisherigen Programmatik für richtig. Unsere Wahlniederlagen erklären wir auch dadurch, daß eine Mehrheit in der Bundestagsfraktion diese Grundlinien verlassen hat. Wir haben jenseits der Programmdebatte ein konkretes Politikproblem, das schnell durch Kurskorrekturen gelöst werden muß.
Wir brauchen einen Richtungsstreit und eine klare Kurskorrektur
Es geht politisch darum, eine tiefe Erschütterung der sozialen, ökologischen, friedenspolitischen, feministischen und bürgerrechtlichen Glaubwürdigkeit von Bündnis 90 / Die Grünen bei großen Teilen der WählerInnen und der eigenen Mitglieder zu überwinden.
Was uns eint, ist das klare Eintreten für eine Menschenrechtspolitik ohne Krieg, mit zivilen Konfliktlösungsoptionen. Diese Frage hat sich zu einer wichtigen und für viele entscheidenden Identitätsfrage herauskristallisiert.
Was uns eint, ist das klare Eintreten für eine konsequente Politik, die sich gegen eine Fortsetzung der sozialen Kahlschlagspolitik und einer weiteren Verschlechterung der Lebensperspektiven des "unteren Drittels" dieser Gesellschaft richtet.
Wir wollen erreichen, daß der Auftrag, den uns die Wählerinnen und Wähler am 27. September 1998 erteilt haben, selbstbewußt wahrgenommen wird. Nach der Ablösung der alten Bundesregierung ist es nun überfällig geworden, die grüne Regierungsbeteiligung durch einen Politikwechsel zu legitimieren.
Die Bielefelder Mehrheitsentscheidung für einen "Kriegseinsatz für Menschenrechte" im Kosovo, das konzeptionelle Ringen um den Weg des Atomausstiegs und das Festhalten an einer Flüchtlingsabwehrpolitik sind für die bündnisgrüne Identität wichtige Punkte und haben wesentlich zur Verunsicherung der Basis und die WählerInnen beigetragen. Dringend notwendig ist ein erneuter Schulterschluß mit den Anti-Atom-Initiativen, Friedensinitiativen sowie der Flüchtlingsbewegung.. Dies sind nur einige Beispiele für die Notwendigkeit, vielfältige Bündnisse einzugehen. Ansonsten droht rot-grün zum Katalysator der NichtwählerInnenpartei zu werden.
Für die Linke in den Grünen ist die Orientierung an gesellschaftlicher Integration statt Ausgrenzung von zentraler Bedeutung. Wir wollen dazu beitragen, daß Gleichheit und Freiheit sich in der sozialen Wirklichkeit wiederfinden. Dazu gehört die rasche Angleichung der Lebensbedingungen in Ost und West. Die Grundannahme der Angebotspolitik, wirtschaftliche Effizienz bräuchte gesellschaftliche Ungleichheit, führt offensichtlich in die politische Sackgasse. Eine Entlastung von Besserverdienenden und Unternehmern führt zu mehr Börsenspekulation und eben nicht zu Investitionen und damit mehr Arbeitsplätzen. So erzielt man keine Erfolge bei der Bekämpfung des gesellschaftlichen Grundübels der Massenarbeitslosigkeit, sondern verschärft nur das Gefälle zwischen arm und reich.
Statt auf die nicht vorhandenen Selbstheilungskräfte des Marktes und den Rückzug der Politik aus der Wirtschaft setzen wir auf die direkte Bekämpfung der Erwerbslosigkeit z.B durch Umverteilung von Arbeit und öffentliche Förderung von Beschäftigung im ökologisch-sozial-kulturellen Bereich. Wir setzen hierbei auf Arbeitszeitverkürzung und Verteilungs-gerechtigkeit zwischen Männern und Frauen. Ziel muß die existenzsichernde Teilhabe von allen an der Erwerbsarbeit sein. Hier liegt ein echtes und gesellschaftlich sinnvolles Sparpotential – im Unterschied zum Sparpaket, das die Bundesregierung jetzt vorgelegt hat. Dieses ist aus dem Kontext der neoliberalen Fehlorientierung des Schröder-Blair-Papieres nicht zu lösen. Versuche von Haushalts- konsolidierung, die ausschließlich auf die Ausgabeseite setzen, treffen immer wesentlich diejenigen, die gerade auf staatliche Ausgaben angewiesen sind, hier neben RentnerInnen und Azubis/StudentInnen im wesentlichen Arbeitslose und Sozialhilfeberechtigte.
Insbesondere in der Haushaltspolitik ist von einer Mehrheit in der Bundestagsfraktion in die Gesellschaft das Bild vermittelt worden, die Bündnisgrünen seien der Motor einer technokratischen Sparpolitik der sozialen Kälte. Es wurde nur über Einsparungen gesprochen (aber eben nicht über Einsparungen im Bereich ökologisch schädlicher Investitionen), mögliche Erhöhungen der Einnahmeseite durch eine Politik des gezielten Lastenausgleichs - wie sie unser Wahlprogramm fordert - wurden tabuisiert (Vermögens- und Erbschaftssteuer, Vermögensabgabe, aber auch Systemwechsel z.B. im Sinne einer Wertschöpfungsabgabe). So hat die Politik der Mehrheit der Bundestagsfraktion den Eindruck erweckt, die Interessen von Erwerbslosen und RentnerInnen zählten für unsere Partei wenig, die Interessen einer gut verdiendenden "neuen Mitte" dagegen viel. Dieser Versuch der Neuverortung von Bündnis 90/Die Grünen als Klientelpartei der Besserverdienden widerspricht der bündnisgrünen Programmatik eines ökologisch-solidarischen Interessenausgleichs zutieftst. Eine Gerechtigkeit ausstrahlende Strategie zur notwendigen Sanierung der Staatsfinanzen ist nicht erkennbar geworden.
Der entscheidende blinde Fleck in der bündnisgrünen Programmatik ist die unklare Definition der Aufgaben des Staates – auf nationaler und europäischer Ebene – als dem entscheidenden politischen Handlungsraum für die Durchsetzung eines sozial-ökologischen Reformprojekts.
Es geht jetzt darum, die Menschen von den Vorteilen des sozial-ökologischen Reformprojektes zu überzeugen und deutlich zu machen, wie es auch kurzfristig die sozialen und ökologischen Lebensbedingungen spürbar verbessern kann. Dieses Kernziel von Regierungsbeteiligung muß als Leitlinie wieder sichtbar werden. Dafür wollen wir in unserer Partei streiten. Es geht jetzt darum, soziale und ökologische Gegenwehr gegen die neoliberale Veränderung der Gesellschaft zu ermutigen und eine zukunftsorientierte Alternative gesellschaftlicher Transformationen zu entwickeln. Dazu wird die grüne Linke auch über Parteigrenzen hinweg die Vernetzung mit allen Kräften in der Gesellschaft suchen, die hierzu Beiträge leisten. Mit dieser Schwerpunktsetzung machen wir deutlich, daß für die uns zugedachte Rolle des "linken Feigenblatts" einer neoliberal gewendeten Partei nicht taugen.
Erneuerung aus eigener Kraft
Bei der Programmdebatte geht es darum, unseren eigenständigen und unverkennbaren Platz als eine eigenständige gesellschaftliche Kraft unserer Zeit in der Auseinandersetzung mit Konservatismus, Sozialdemokratie und Liberalismus zu verteidigen und auszubauen. Der Platz von Bündnis 90/Die Grünen ist der einer pragmatischen Linkspartei. Wir brauchen dafür eine Weiterentwicklung und Erneuerung der bündnisgrünen Programmatik und Strategie. Deswegen wenden wir uns gegen jede Verschiebung der Diskussion über ein Grundsatzprogramm zugunsten einer Strukturdebatte. Jetzt muß zuerst über die Inhalte unserer Politik gesprochen werden.
Es geht bei der Debatte über ein Grundsatzprogramm nicht um abstrakte Theorien oder nur um innerparteiliche Mehrheiten. Für uns ist die Erarbeitung eines Grundsatzprogramms ohne Formelkompromisse eine Überlebensbedingung für Bündnis 90 / Die Grünen. Die linken und basisgrünen Kräfte bei Bündnis 90 / Die Grünen treten dabei für eine neue Kultur des Dialogs und der innerparteilichen Fairneß in der Debatte um das bündnisgrüne Grundsatzprogramm ein. Wir wollen im offenen Meinungsaustausch um die besseren Lösungsansätze streiten. Es zählt das Argument und nicht die Flügelverortung oder die politische Funktion.
Wir distanzieren uns vom Natobombardement und werden uns für die "Wiedergutmachung" auf menschlicher/menschenrechtlicher, ökologischer und wirtschaftlicher Ebene engagieren. Wir fordern die konsequente Bestrafung aller Kriegsverbrechen, die mit den serbischen ethnischen Säuberungen begonnen haben.
Wir ergreifen die Initiative zur Bildung von inhaltlichen Diskussionsforen für ein grünes Profil 2000. Ihre Arbeitsergebnisse wollen wir in die Programmerarbeitung unserer Partei einspeisen und in der Gesellschaft in geeigneter Form zur Diskussion stellen.
Bei folgenden Themenstellungen wollen wir mit Diskussionsforen ansetzen:
- Gesellschaftspolitischer Umbau zur Nachhaltigkeit: Ökologische Zukunftsfähigkeit und Abbau der sozialen Spaltung in einer "Wissensgesellschaft"
- Solidarität neu verfassen: Der Sozialstaat, die Grundsicherung und die Vielfalt der Lebensperspektiven
- Neugestaltung der Arbeitsgesellschaft mit gerechter Verteilung aller gesellschaftliche notwendigen Arbeiten
- Feministische Politik: Durch Geschlechterdemokratie zu befreiten Geschlechterverhältnissen?
- Gleiche Freiheit: Gleiche Rechte für alle und Abbau von Obrigkeitsstaat
- Internationale Friedensordnung und internationale Strukturpolitik, Europäische Entwicklung
- Bildung: Gesamtgesellschaftliche Aufgabe und nicht privates Gut – Chancengleichheit und das Recht auf Bildung sichern und ausbauen
Als Querschnittsthema:
- Finanzpolitischer Umbau im Staatshaushalt 2001: Einnahmeerhöhung, Ausgabensenkung, Schuldenabbau, Förderschwerpunkte
Der soziale Zusammenhalt der Gesellschaft und die Bewahrung der Umwelt werden unter den Bedingungen der globalen Märkte für Konsum, Produktion und Dienstleistungen nicht ohne einen ökologisch-solidarischen Interessensausgleich zu haben sein. Diese Grundannahme der bündnisgrünen Strategie eines ökologisch-solidarischen Gesellschaftsvertrages bleibt auch im Jahr 2000 richtig und formuliert damit ein überragendes gesellschaftliches Querschnittsinteresse. Allerdings wird unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen eines verschärften Verteilungskampfes ein derartiges Bündnis nur dann erreicht werden können, wenn die in den letzten Jahren deutlich gewordenen Defizite der Strategie gezielt beseitigt und politische Kurskorrekturen vorgenommen werden.
Mit überwältigender Mehrheit bei einer Gegenstimme und fünf Enthaltungen am 3. Okt. 99 in Berlin beschlossen.