Nicht alles anders, aber vieles besser?
Die rot-grüne "Neue Mitte" im Crashtest
Die SPD gewann die Bundestagswahl 1998 erdrutschartig, weil sie die Gerechtigkeitslücke nach 16 Jahren neoliberaler Politik erfolgreich thematisieren konnte. Mit der Formel "Innovation und soziale Gerechtigkeit" versprach sie, das Land zu modernisieren. Ihr neuer Koalitionspartner Bündnis 90/Die Grünen erlitt bei der Wahl zwar leichte Verluste, doch gemeinsam reichte es zu einer sicheren Mehrheit.
Der Regierungswechsel war allerdings eher Resultat einer Protestwahl gegen 16 Jahre Kohl und kein bewußter Aufbruch zu einer ausgewiesenen inhaltlichen Alternative. Wie bei den Bundestagswahlen zuvor sprachen sich nur rund 25 bis 30 Prozent der WählerInnen fiir ein programmatisch konturiertes rot-grünes Projekt aus. Vielen WählerInnen der beiden neuen Regierungsparteien ging es darum, vom gewohnten Bonner Sozialstaat noch eben so viel zu retten, wie irgend möglich war. Die Erfahrungen mit 16 Jahren Kohl hatten gezeigt, daß das Zurückschneiden des Sozialstaats, die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse und die Politik der Lohnzurückhaltung nicht zum versprochenen Abbau der Massenerwerbslosigkeit geführt hatten. Gleichzeitig wuchs die soziale Kluft bei den Einkommens- und Vermögensverhältnissen. Viele der WählerInnen der neuen Regierungsmehrheit erwarteten, daß sie künftig von einer weiteren Demontage des Sozialstaats verschont blieben und die entstandene Gerechtigkeitslücke wenigstens etwas abgemildert würde. SPD und Grüne waren mit einer WählerInnenbasis konfrontiert, die m ihrer Mehrheit kaum aktive programmatische Anforderungen an einen Politikwechsel stellte. Sie suchte eher passiv Ruhe und Schutz vor weiteren sozialen Zumutungen.
Diese Erwartungskonstetlation wurde insbesondere Oskar Lafontaines Plänen für eine neue europäische Nachfragepolitik, eine moderate Umverteilung bei Einkommen und Vermögen und eine neue internationale Finanzarchitektur zum Verhängnis. Ein Großteil des Wahlvolks war schlicht befremdet und verstand die neuen Ansätze nicht. Die Wirtschafts- und Interessenverbände der Gutsituierten liefen Sturm, die Medien assistierten ihnen dabei. In der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion und selbst bis in weite Teile der Gewerkschaften hinein blieb der alerte Finanzminister isoliert. Der grüne Koalitionspartner zeigte Unverständnis bis Desinteresse, die grüne Regienmgslinke kam parallel mit dem Projekt des Atomausstiägs ins Schlingern. Lafontaines kleiner Think Tank im Finanzministerium um Heiner Flassbeck und Claus Noe stand allein gegen den Rest der sogenannten "Fachwelt". So war Lafontaines Abgang nach dem ersten Halbjahr einer moderaten rot-grünen Reformpolitik nur folgerichtig. Die Auseinandersetzung innerhalb der Regierung nach dem "Aufstand des Kapital" (FAZ) gegen eine in der Tat vermurkste Ökosteuer, die erste Einkommensteuerreform und die Neuregelung der 630-DM-Jobs hatten gezeigt, daß die Mehrheit der Kabinettsmitglieder sowie der Partei- und Fraktionsführungen beider Koalitionspartner nicht bereit war, auch nur begrenzte und moderate Konflikte mit den Unternehmensverbänden und den Interessen der Vermögenden durchzustehen. Der Regierungswechsel in Hessen infolge der CDU-Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft bestätigte die Regierung in ihrer Ansicht, daß sie nun zurückhaltender agieren müsse.
Nun wurde aus dem sozialdemokratischen Kanzleramt eine "Politik der zweiten Chance" propagiert. Rechts gewendete Grüne schlössen sich als "Motor der Reformen" beherzt Hombachs Strategie des "Dritten Weges" an. Die grüne Bundestagstagsfraktion profilierte sich in Fragen der Sozial- und Verteilungspolitik nunmehr mit Vorschlägen, die Wende zur "Angebotspolitik von links" schneller und entschlossener einzuschlagen als die SPD. Gemeinsamer Nenner dieses Kurswechsels ist es, möglichst nichts zu unternehmen, was einen erneuten heftigen Widerstand von Kapital- und Verrnögcnsbesitzerlmien sowie Besserverdienenden hervorrufen könnte.
Die Politik der zweiten Chance mündete in die deutsche Beteiligung am NATO-Krieg gegen Jugoslawien, das Schröder-Blair-Papier, in Pläne zur Subventionierung eines Niedriglohnsektors und einer die Unternehmen deutlich entlastenden Untemehmenssteuerreform. Das mit dem Titel "Zukunftsprogramm 2000" euphemistisch umschriebene Spalpaket ist das bisher härteste Austeritätsprogramm in der bundesdeutschen Geschichte.
Welche Konsequenzen hat diese Entwicklung für die Perspektive der Linken?
1. Der Dritte Weg führt zur Selbstvernichtung der Linken
Ob Grüne, ob Rote, ob "moderne" Konservative oder Liberale - sie alle eint der Glaube, Deutschland und Europa müßten sich den "Herausforderungen der Globalisierung" in einer Weise stellen, daß vorrangig die "Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft" gestärkt wird. Doch schon die Grundannahmen dieser Denkweise stoßen sich an der Wirklichkeit. In einer offenen Weltwirtschaft stehen weniger die Staaten als "Wirtschaftsstandorte", sondern die (meist größeren multinationalen) Unternehmen miteinander im Wettbewerb. (Paul Krugman)
In den diversen deutschen und europäischen Standortdebatten wurde in regelmäßiger Folge stets ein neuer äußerer Feind ausgemacht, der die deutsche oder europäische Wirtschaft ins Abseits manövrieren würde. In den 80er Jahren waren es die Japaner, in den 90er Jahren die Tigerstaaten Südostasiens, die Schwellenländer Lateinamerikas oder die dynamischeren "Reformstaaten" Osteuropas. Die Wirtschaftsverbande malten gar die düstere Perspektive an die Wand, daß ein Großteil der deutschen Investitionen wegen niedriger Löhne künftig in die noch ärmeren Entwicklungsländer gehen werde. Diese würden dadurch zu dynamischen Konkurrenten der Industrieländer auf dem Weltmarkt und minderten die Wohlstandsentwicklung in Europa. Seit Ende der 90er Jahre sind die USA wieder zum hauptsächlichen Angstfaktor beim Thema Wettbewerbsfähigkeit geworden.
Die wirkliche Entwicklung der Weltwirtschaft hat die Thesen der roten, grünen und schwarzen Modemisierungs- und Wettbewerbsapostel gründlich widerlegt. Nach wie vor sind die westlichen Industrieländer - und hier insbesondere die USA und die EU - die Hauptprofiteure der sogenannten Globalisierung der Wirtschaft. Die Kluft zu den Entwicklungsländern hat sich indessen dramatisch vergrößert. In Wirklichkeit profitieren in den OECD-Ländern im wesentlichen die alten Eliten des industriellen und die neuen des digitalen Kapitalismus von der Entfesselung der Marktkräfte durch Deregulierung, Flexibilisierung und die völlige Freigabe der Finanzmärkte.
Die hochproduktive japanische Wirtschaft laboriert noch immer an den Folgen der Spekualationsblase im Immobiliensektor, deren Platzen in den 80er Jahren die japanische Wachstumsrate in den Keller trieb. Die Finanzkrise in Südostasien und Rußland hat die Dynamik der "Tiger" deutlich abgebremst. Viele regionale Ökonomien wurden in eine tiefe Krise mit wachsender Massenarmut gestürzt, von der sie sich derzeit nur schwer erholen. Die lateinamerikanischen Schwellenländer sind von dieser Entwicklung stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Und auch die derzeitige relative Stärke der USA beruht - so die Fiancial Times - eher auf einem unterschiedlichen Konjunkturveriauf zwischen Amerika und Europa als auf einem total neuen Kräfteverhältnis.
Statt vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen und des damit vielfach verbundenen menschlichen Leids die Forderung nach einem noch einmal gesteigerten weltweiten "Wettlauf der Besessenen" um noch mehr Wettbewerbsfähigkeit zu hinterfragen, versteifen sich die Propheten der "Modernisierung" in Politik, Kultur und Medien auf ein forsches "Weiter so!". Unter den bekannteren etablierten Politikern Deutschlands wagte es nur Oskar Lafontaine, dieser Inszenierung offen zu widersprechen - mit bekanntem Ergebnis.
Die Ideologen des "Dritten Weges"' in den roten und grünen Parteien nehmen den allgemeinen Diskurs um Modernisierung und bessere Wettbewerbsfähigkeit als Ausgangspunkt, um eine neue Synthese zwischen dem Wohlfahrtsstaat europäischer Prägung und dem US-amerikanischen Neoliberalismus herzustellen. Ihre Vorstellung von Modernisierung ist eher altbacken: Sie wollen die Wettbewerbsfähigkeit der Industriesektoren der 60er Jahre wie Automobil, Stahl, Chemie und Maschinenbau auf High-Tech Niveau starken, Risikotechnologien wie der Gentechnik und der Nano-Technologie zum Durchbruch verhelfen und die "Wissensgesellschaft" ohne Risikoschutz durch wachstumsstarke Informationstechnologien und Medien auf den Weg bringen. Der Nachhaltigkeitsgedanke garniert zwar manche ihrer Reden und Papiere, spielt in der strategischen Orientierung des Modemisierungskurses jedoch kaum eine Rolle. Grüne und ökologisch orientierte Sozis bieten ein ähnliches Bild: der liberalisierte Strommarkt mit härtestem Preiskampf um "billige Energie" wird weder besseres Wissen und trotz Ökosteuer als neuer Handlungsrahmen vorbehaltlos akzeptiert. Die Auseinandersetzung geht nur noch darum, ob die emeuerbaren Energieträger und die Kraft-Wärme-Kopplung als Übergangstechnologie zu einer nachhaltigeren Energiewirtschaft "eine Chance behalten", d. h. ihre jetztige Nischenposition wenigstens verteidigen können.
Die "Neue Mitte" als deutscher Zweig des "Dritten Weges" hat noch nicht einmal Ulrich Beck's Postulat einer "reflexiven Modernisierung" aufgegriffen (als einer Modernisierung, die ihre eigenen Grundlagen und Fehlentwicklungen kritisch hinterfragt), geschweige denn die Erkenntnisse Horkheimers und Adornos aus der "Dialektik der Aufklärung" produktiv verarbeitet. Ihre Vorstellung, im wesentlichen technologische Innovation erzeuge eine neue "lange Welle der Wohlstandsentwicklung" und bringe die Wirtschaft wieder auf einen dauerhaften Wachstumspfad, ist rührend naiv. Am Ende des letzten "langen Abschwungs" zwischen den beiden Weltkriegen mußte da mehr zusammenkommen: der Neuanfang mit dem Wiederaufbau nach den Zerstörungen des Kriegs, neue soziale Arrangements wie die Erweiterung des Sozial- zum Wohlfahrtsstaat und eine neue gesamtwirtschaftliche Politik, die die Marktliberalisierung der Zwischenkriegszeit ablöste. Damals relativ neue Massenprodukte wie Autos, Waschmaschinen und Kühlschränke gab es auch schon vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie führten in der Zwischenkriegszeit ebensowenig zu einem dauerhaften Aufschwung wie heute die Computer oder das Internet.
Nun kann man den Anhängern des Dritten Weges allerdings nicht vorwerfen, sie hätten keine Konzepte für neue soziale Arrangements. Nur gleichen diese fast bis aufs Haar den alten aus der christliberalen Ära von Kohl. Im Mittelpunkt ihres Werbens stehen die sogenannten "gesellschaftlichen Leistungsträger": hochqualifizierte Arbeitnehmerinnen, vorausschauende und engagierte Manager und Unternehmer, innovative und fleißige Mittelständler, Handwerker und Freiberufler; mutige Existenzgründer, hervorragend ausgebildete InformatikerInnen, ÄrztInnen und IngenieurInnen, erfindungsreiche Techniker und Wissenschaftler. Das ist fast die gleiche Zielgruppe, mit deren Hilfe in Biedenkopfs und Stoibers Bayerisch-Sächsischer Zukunftskommission eine "neue Renaissance der Selbständigkeit" ins Leben gerufen werden sollte.
Bei den Grünen müssen die gleichen Leisumgsträgerschichten zwar noch ein wenig ökologisch sensibilisiert sein - den Platz der hochqualifizierten ArbeitnehmerInnen nehmen bei ihnen außerdem vielleicht eher die weiblichen Existenzgründerinnen und hippe Jugendliche ein - doch hat man sie genauso wie die Neue Mitte als zentralen Adressat der eigenen Politik auserkoren. Papiere zum segensreichen Wirken der Klein- und Mittelunternehmen für Jobs und Innovation sind -wider jede wirtschaftswissentschaftliche Empirie - bei Grünen und Sozis Legion. Bis in die politische Symbolik und die Selbstinszenierung ihrer Spitzenpolitiker hinein - Brioni- und Cerruti-Anzüge, Homestorys in Lifestyle-Magazinen - präsentiert sich die rot-grüne Mitte als Freund, Gönner und "Fleisch vom Fleische" der vermeintlichen Globalisierungsgewinner.
Allen anderen signalisiert die Neue Mitte denn auch, daß sie sich anzupassen haben. Die Verteilungsverhältnisse, die 16 Jahre neoliberale Umverteilungspolnik von unten nach oben geschaffen haben, werden im Kem als Grundlage der eigenen Politikentwürfe akzeptiert. Um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu stärken und den Staat zu entschulden, seien sogar weitere Umverteilungen nötig. So holt Eichels Sparpaket das Geld überwiegend bei denen, die keine wirksame Lobby haben: RentnerInnen, Erwerbslose, Wohngeld. Wer betont, der Staat müsse sparen, könnte ja auch betuchterete Gruppen ins Visier nehmen, wenn es um Ausgabekürzungen geht. Die Unternehmen sollen hingegen um etwa 4 Mrd. Euro steuerlich entlastet werden. Für jene Menschen, die auf Transfereinkommen des Staates und der Sozial- und Rentenversicherung angewiesen sind, wird die Kohlsche Umverteilungspolitik in verschärfter Form fortgeführt.
Erst jetzt merken die Menschen, was es bedeutet, einen Mittelweg zwischen "Rheinischem Kapitalismus" und "Angelsächsischem Modell" zu suchen: für die sozial Schwachen wird es durch die Bank weniger geben, als im gewohnten, ohnehin schon stark gerupften Bonner Sozialstaat. Obwohl es einen Nachholbedarf bei der Erhöhung der Sozialhilfe gibt, bleibt sowohl bezüglich des Leistungsniveaus als auch bezüglich der von Kohl eingeführten "Arbeitspflicht"-Modelle alles beim alten - mit Option auf weitere Verschärfungen. Die wohlklingende "Grundsicherung im Alter" orientiert sich an diesem von der realen Wohlstandsentwicklung überholten Sozialhilfeniveau. Den Plänen für einen Niedriglohnsektor liegt ein antiquiertes Gesellschaftmodell der "Dienstbotengesellschaft" zugrunde: Die Besserverdienenden brauchen billige Arbeitskräfte in Haushalt, Garten, Gastronomie, Einkaufs- und Erlebniswelten, weil sie wegen überlanger Arbeitszeiten keine Zeit und Muße haben, diese Dinge selbst zu erledigen. Die Geringer-Qualifizierten schließlich werden in ein Ghetto kaum existenzsichernder Löhne ohne Weiterentwicklungschancen eingesperrt - die Armut verfestigt sich. Je breiter der Niedriglohnsektor, umso größer allerdings der Druck auf das Tarifgefüge - was auch die Einkommensposition der Mittelschichten nach unten treibt. So entsteht eine "duale Wirtschaft", die das untere Drittel der Gesellschaft dauerhaft von der Teilhabe an der gesellschaftlichen Wohlstandsentwicklung aussperrt, die Mittelschichten in einen beständigen Abwehrkampf gegen ihren potentiellen Abstieg ins untere Drittel treibt, während die neuen und alten Eliten materiell immer kräftiger absahnen, aber für viele andere erfreuliche Dinge des Lebens einfach keine Zeit mehr haben.
Von manchen US-amerikanischen neoliberalen Heißspornen unterscheiden sich die Strategen des Dritten Weges insofern, als sie sicherlich verhindern wollen, daß in Deutschland und Europa keine Arme und kein Armer verhungern muß. Doch schon der Begriff des "Existenzminimums" wird immer unschärfer - in jedem Fall sollen die Menschen am unteren Ende der Einkommensskala bereit sein, ein Niveau der sozialen Absicherung hinzunehmen, das auch unterhalb des bisher gewohnten Lohn- und Sozialtransfemiveaus liegt. Daß dabei nicht nur das untere Drittel im Visier ist, zeigt die von einigen Sozialdemokraten und Grünen losgetretene Debatte um die Notwendigkeit von Lohnrunden in den nächsten Jahren, die nur einen Infiationsausgleich (bei weiter explodierenden Untsmehmensgewirmen) bringen sollen. In Europa haben sich die Regierungschefs für die Lohnpolitik schon auf die Formel geeinigt, daß die Löhne in der EU nur soweit steigen dürften, daß das Inflationsziel der Europäischen Zentralbank (maximale Obergrenze derzeit bei 2 %) nicht gefährdet wird.
Im Unterschied zur Konfrontationspolitik Henckelscher Prägung sollen diese Ziele bei der Neuen Mitte jedoch im Konsens mit den Gewerkschaften durchgesetzt werden - auf Grundlage ihrer erheblich geschwächten Ausgangsposition nach 16 Jahren christliberaler "Reformen". Die rotgrüne Koalition will sie im Gegensatz zu Kohl mit im Boot haben, um ihren eigentümlichen "Neoliberalismus mit anderen Mitteln" (Michael Felder) beim Umbau des Sozialstaats und der Arbsnsgesellschaft ohne Widerstände voranzutreiben. Das zentrale Instrument ist ein Neokorporatismus neuer Art: das "Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit", aber auch im Bereich der Umwelt- und Energiepolitik verschiedene "Konsensrunden" mit den Unternehmern zur Energie- und Umweltpolitik. Der Unterschied zum Korporatismus der 60er und 70er Jahre ist deutlich: damals ging es um ein gegenseitiges Geben und Nehmen zwischen Arbeitnehmervertretungen, Arbeitgebern und Staat. Heute sind die Arbeitgeber kaum zu Zugeständnissen bereit - ihr oberstes Ziel ist die sogenannte "Wettbewerbsfähigkeit", eine Politik der Lohnmäßigung, Kostensenkung und der Steigerung des "Shareholder Value". Der Staat kann unter selbstgesetzten Sparzwängen nichts mehr für die ArbeitnehmerInnen einbringen - selbst die nötigen (hohen) Subventionen für die Verbreiterung des Niedriglohnsektors bereiten den beteiligten Akteuren viel Kopfzerbrechen. Im Szenario der Neuen Mitte wird von den Gewerkschaften eine Politik bis hin zur Seibstaufgabe verlangt. Ihre Rolle soll künftig darin bestehen, den von ihnen vertretenen Interessengruppen die nötigen Anpassungen an die schöne neue Welt optimal zu verkaufen und für Ruhe zu sorgen. Die Gewerkschaften sind in diesem Modell nicht mehr die kollektive Interessenvertretung der Arbeitnehmerinnen, sie verzichten auf ein allgemeinpolitisches Mandat, und sollen nur noch "den einzelnen gegen Willkür schützen". "Die traditionellen Konflikte am Arbeitsplatz (müssen) überwunden werden", die Gewerkschaften sollen "in Kooperation mit den Arbeitgebern den Wandel gestalten". (Schröder-Blair-Papier) Die Gewerkschaften sollen folglich als Transmissionsriemen staatlicher und unternehmerischer Politik zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit füngieren. Nicht wenige in den Gewerkschaftsspitzen sehen darin dann auch die letzte Chance überhaupt noch einen gewissen gesellschaftlichen Einfluß der traditionellen Arbeiterbewegung zu erhalten.
Die neue Mitte propagiert schließlich eine autoritär-populistische Macherkultur, die an demokratischen Institutionen und repräsentativen Interessenvertretungen vorbei "nicht die Zuständigen, sondern die Innovativsten" (Bodo Hombach) zusammenbringt, um so mehr Tempo bei der Modernisierung zu erzeugen. Die breite Bevölkerung hat dann gefälligst den in solchen selbsternannten Kungelrunden getroffenen Beschlüssen der Spitzenmodemisierer zu folgen, sonst drohe der Untergang.
Insgesamt signalisiert die rot-grüne Neue Mitte der breiten Mehrheit: "Ihr mußt mit weniger auskommen. Vorrang hat die Wettbewerbsposition unserer Industrie, das Wohlergehen der Unternehmen und die Motivation der Leistungsträger. Ihr müßt euch anpassen. Wenn ihr euch sehr anstrengt, könnt ihr zumindest etwas oberhalb des Existenzminimums überleben - unsere aktivierende Arbeitsmarktpolitik hilft euch dabei. Wer das nicht schafft., muß auch nicht verhungern, kriegt aber künftig weniger als heute. Ihr müßt all eure Kraft und eure Ideen für den Erfolg unserer Unternehmen auf den Weltmärkten geben. Aber bei allen strategisch wichtigen Entscheidungen fragen wir nicht euch, sondern die innovativen Macher. Im übrigen - was unseren Unternehmen Probleme bereiten könnte (Verteilungspolitik, ordnungsrechtliche Maßnahmen für die Umwelt oder für Frauen etc.), unterlassen wir lieber. Denn gegen die Interessen der Wirtschaft (d.h. der Kapitaleigentümer und der ihnen verbundenen sozialen Schichten) kann dieses Land nicht regiert werden."
Die sozialdemokratischen. Stammwahlerinnen verstanden die Botschaft und merkten, daß sie in diesem Kalkül nur noch als Restgröße und Fußabtreter vorkamen. Oskar Lafontaine bilanziert: "Die Politik, die von Teilen der Publizistik fälschlicherweise als Modernisierung gepriesen wird, ist jetzt sechs Monate lang gemacht worden. Die Reaktion der Wähler ist eindeutig und unmißverständlich." (Welt am Sonntag, 26.9.1999) Daß nicht alles anders, aber vieles besser werden sollte, hatten sie sich so nicht vorgestellt. Das heterogene Potential der Grünen spaltete sich nach dem tiefgehenden Konflikt um den Kosovokrieg nochmals entlang der kombinierten Ökologie-und Gerechtigkeitsfrage. Sie waren sauer auf das Ausbleiben umweltpolitischer Erfolge und die Wendung der grünen Bundestagsfraktion zum Wirtschaftsliberalismus. Bündnis 90/Dic Grünen setzen ihre wahlpolitische Talfahrt fort, die schon vor der Bundestagswahl begonnen harte. Bei der Europawahl 1999 und bei der Kommunalwahl in NRW verloren sie bis zur Hälfte ihrer früheren WählerInnen.
Die StammwählerInnenschaft der SPD floh in die Wahlenthaltung, die Partei landete von Wahl zu Wahl tiefer im Keller- zuletzt in Sachsen bei 10,7 Prozent. Die CDU triumphierte, obwohl sie kaum mehr Wählerinnen mobilisieren konnte als in vorangegangenen Wahlen. Die Entwicklung ist eindeutig: durch das rapide Wachstum der NichtwählerInnen bestimmen Minderheiten die Mehrheitsverhältnisse in den Parlamenten. Verstärkt wurde dieser Trend, indem rot-grüne PolitikerInnen ständig Parolen wiederholten, die früher nur Margaret Thatchers Mund zu hören waren: "TINA - There is no alternative (Es gibt keine Alternative!)". Die Politik der "zweiten Chance" hat in eine tiefe Krise der bundesdeutschen Demokratie geführt. Die rot-grüne Neue Mitte ist gegenwärtig dabei, das Potential für einen in Ansätzen möglichen Politikwechsel in Deutschland und Europa zu spalten und abzustoßen. Der "Dritte Weg" fuhrt geradewegs in die Selbstvemichtung der Linken.
Selbst wenn die Regierung sich mit dieser Strategie zu einem späteren Zeitpunkt stabilisieren sollte - grundlegende Unterschiede zur Umverteilungspolitik der christliberalen Ära sind nicht mehr zur erkennen (andere Nuancen gibt es immer). Die politischen Gewichte in Deutschland werden deutlich nach rechts verschoben. Zwar gibt es noch "Rechts" und "Links" auf der Ebene politischer Symbolik, doch beim praktischen Output der Politik wird alles sehr beliebig und austauschbar. Eine unterscheidbare "Linke" mit Massenappeal existiert nicht mehr - mit Ausnahme der PDS im Osten. Doch sie profitiert fürs erste davon, geschickt das Label der "sozialen Gerechtigkeit" zu übernehmen, ohne ein alternatives strategisches Projekt anbieten zu können.
2. Die "Chance Europa" ist blockiert
Der Regierungswechsel zu rot-grün in Deutschland festigte die Mehrheit von Mitte-Links-Regierungen in der Europäischen Union - der letzte wichtige Dominostein für eine Abkehr vom bisherigen neoliberalen Entwicklungspfad in Europa war gefallen. Doch obwohl nun 12 von 15 EU-Staaten Mitte-Links regiert werden, gibt es keinen Politikwechsel. Oskar Lafontaine biß mit seinen Initiativen für eine neue internationale Finanzordnung und eine nachfrageorientierte gesamtwirtschaftliche Politik in Europa selbst beim Wunschpartner Frankreich auf Granit.
Die mögliche Alternative lag greifbar nahe. 11 EU-Staaten bilden jetzt schon eine Währungszone namens Euroland. Drei weitere (Großbritannien, Dänemark, Schweden) könnten jederzeit mitmachen, wenn sie es denn politisch wollten. Griechenland hat gute Chancen, bis 2001 den Beitritt zur Währungsunion zu schaffen. Die "gemeinsame Souveränität" (Gerhard Schröder) der Eurozone ist gesamtwirtschaftlich wesentlich stärker, als die jedes europäischen Nationalstaats. Die Außenwirtschaftsabhängigkeit der EU beträgt nur 8 Prozent, bei den einzelnen Mitgliedstaaten variiert sie zwischen 25 und rund 40 Prozent. Eine gemeinsame gesamtwirtschaftliche Strategie vorausgesetzt, ist Euroland viel eher in der Lage, der "Globalisierungsfalle" zu entkommen, als jeder europäische Nationalstaat für sich alleine. In Euroland kann sich die Wirtschaftspolitik viel stärker auf die Binnenwirtschaft und Binnennachfrage konzentrieren, als es die bisherigen nationalen Wirtschaften alleine vermochten. Die "Wettbewerbsfähigkeit" verliert an Gewicht. Denn die Nachfrage der einheimischen Unternehmen und Privathaushalte kann sich zu 92 % in Produkte und Dienstleistungen "made in Europe" umsetzen. Wird der osteuropäische Raum in diese makroökonomische Kooperation einbezogen, so gewinnt "Europa" tatsächlich jene wirtschaftspolitische "Souveränität" zurück, die seine Nationalstaaten im Zuge neoliberaler Globasisierungsstrategien zu einem guten Teil verloren haben.
Vorausgesetzt es gibt in diesem großen Währungsraum eine gemeinsame Koordination der Wirtschaftspolitik (Delors "Wirtschaftsregierung"), so kann Europa sich mit einer binnenwirtschaftsorientierten Industrie-, Struktur-, Umwelt-, Beschaftigungs- und Regionalpolitik auf einen nachhaltigen Entwicklungspfad begeben, mit einer hamonisierten Unternehmens- und Vermögensbesteuerung und einem System des Fiskalföderalismus die Handlungsfähigkeit des Wohlfahrtsstaates wiederherstellen. Es kann Einkommens- und Entwicklungsunterschiede ausgleichen und sogar eine Sozialunion errichten, indem es mit Instrumenten wie der europäischen Sozialpolitik-Schlange oder dem Korridor-Modell Sozialdumping ausschaltet und die soziale Sicherheit in den weniger entwickelten Regionen schrittweise verbessert. Euroland bietet sogar das Potential für eine gleichgerichtete, expansive Haushaltspolitik all seiner Mitgliedstaaten als Alternative zur Austeritätspolitik der neoliberalen Ära. Jeder von der öffentlichen Hand einigermaßen klug investierte Euro zieht wegen der Größe des europäischen Binnenmarkts ewa 3 Euro an privaten Investitionen und Konsumentenausgaben nach sich. Damit können öffentlichen Investitionen bei einem durchschnittlichen effektiven Steuemiveau von 30 % weitgehend selbstfinanzierend sein. Die expansive Haushaltspolitik kann in mittlerer Sicht also ohne neue Verschuldung gestaltet werden. Der Schlüssel zu einer Abkehr vom ncoliberalen Pfad liegt in Europa - dem Übergang zu einer demokratischen, zivilen, ökologischen und sozialen Politischen Union.
Die Politische Union, die von der neuen Mitte-links-Mehrheit angestrebt wird, ist allerdings anderer Natur: "Wir wollen ein neues Europa für die neue NATO, und wir wollen die neue NATO für ein neues Europa." (Gerhard Schröder) Die "Staatwerdung Europas" über Euro und Währungsunion wird ergänzt durch eine gemeinsame militärische und sicherheitspolitische Ordnungsmachtpolitik der EU. In der strategischen Kriegsführungsfähigkeit will man mittelfristig mit den USA gleichziehen. Eine weitere Säule der Politischen Union bildet ein europäischer "Raum von Freiheit und Sicherheit" - die gemeinsame Innen-, Justiz-, Asyl- und Flüchtlingspolitik, die eine Stärkung staatlicher Repressionsapparate und die Abschottung der "Festung Europa" nach außen zur Aufgabe hat. Der neue Kommissionspräsident Romano Prodi hat sich darüberhinaus zum Ziel gesetzt, die Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union durch weitere Deregulierungsschübe und "Strukturreformen" im Europäischen Binnenmarkt zu stärken. Die Europäische Kommission soll dabei getreu der Ideologie des "Dritten Weges" die Rolle eines "vorwärtstreibenden Maklers" und Prozeßmoderators zwischen Industrie, Gewerkschaften, Europäischem Parlament und Ministerräten übernehmen.
Das "neue Europa" des Dreigestims Schröder-Blair-Prodi wird sowohl autoritär als auch marktliberal, allerdings weder ökologisch noch sozial: außenpolitisch strebt es zur geeinten imperialen Ordnungsmacht auf dem alten Kontinent und seinen angrenzenden Einflußsphären in Afrika und Eurasien, innenpolitisch zur für Flüchtlinge unüberwindbaren "Festung Europa" und wirtschaftspolitisch zu einem dem freien Spiel der Marktkräfte und der eisernen Hand staatlicher Kürzungsprogramme überlassenen "Standort Europa".
Die Schwachstelle der europäischen Mitte-links-Regierungen liegt in den anders gepolten Erwartungen beachtlicher Teile ihrer Wählerinnenschaft. Europäische Reformkräfte, die die Politische Union Europas als Umwelt-, Beschäftigungs- und Sozialunion, als solidarische Währungsunion, als liberale Flüchtlings- und zivile Außenpolitik buchstabieren, können durchaus Gehör finden. Allerdings müssen sie eine hohe Hürde überspringen: bisher noch weitgehend nationalstaatlich orientierte Kräfte sind gefordert, sich zu einem europäischen Strategiedialog zusammenzufinden, um eine europaweite sozial-ökologische Refombewegung aufzubauen.
3. Ein alternatives Projekt: Teilhabegesellschaft und Zukunftsfähigkeit
Die Neue Mitte hat einen derzeit nicht zu unterschätzenden Vorteil gegenüber der Linken: sie formuliert ein in den Grundzügen klares strategisches Gesamtprojekt. Ihr Nachteil ist; daß sie die wirklichen Krisenursachen damit nicht lösen, sondern die zahlreichen Probleme und Widersprüche nur im autoritären Korsett einer dualen und von oben konzertierten Wirtschaft für eine Zeitlang einsperren kann. Für die große Mehrheit der Bevölkerung steht keine Verbesserung ihrer Lage in Aussicht, der Weg zu einer zukunftsfähigen ökologischen und sozialen Entwicklung bleibt versperrt. So postuliert die Neue Mitte z.B. eine Politik der Chancengleichheit, verbaut mit
ihrem Niedriglohnsektor jedoch einer großen Zahl von Menschen die Chance auf reale Weiterentwicklung ihrer Qualifikationen und Fertigkeiten und die Teilhabe an der Wohlstandsentwicklung der übrigen Gesellschaft.
Ein alternatives Projekt der Linken kann demgegenüber reale Anforderungen an die Ausgestaltung einer "Teilhabegesellschaft" formulieren, die von der Neuen Mitte bloß rhetorisch und symbolisch propagiert wird. Teilhabegesellschaft und Zukunftsfähigkeit könnten zu Schlüsselthemen der Linken in der Zukunft werden.
Dafür wird es nicht genügen, die immer noch aktuellen und zielfiihrenden Einzelreformen aus dem programmatischen Repertoire der Linken bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu propagieren - sei es eine konsequentere Ökosteuerreform, ein klares umweltpolitisches Ordnungsrecht, eine revitalisierte Vermögen- und Erbschaftssteuer oder eine Vermögensabgabe, verbindliche Frauenquoten in der Privatwirtschaft oder ein öffentlich geförderter Beschäftigungssektor. Mensch kann mit Recht darauf verweisen, daß die rot-grüne Bundesregierung in verteilungspolitischen Fragen im europäischen Vergleich besonders mutlos agiert. Selbst die Vorbilder der "Modernisierer" wie Großbritannien (Sondersteuer auf Profite privatisierter ehemaliger staatlicher Unternehmen zur Finanzierung von Jobprogrammen für Jugendliche) oder Dänemark (Ökosteuer, Arbeitsmarktabgabe für höhere Einkommen) wagen sich deutlich weiter vor als Deutschland. So richtig diese punktuellen Verweise auf energischere Reformen in anderen Ländern sind - aus einer Summe von Einzelreformen wird noch lange kein strategischer Gcgenentwurf. Deshalb konzentriert sich dieser Text z.B. nicht auf neue Vorschläge zur Rentenpolitik oder andere konzeptionelle Entwürfe in einzelnen Politikfeldern, deren Wichtigkeit unbestreitbar sind. Es geht an dieser Stelle zunächst um Leitbilder und Strategien für eine erneuerte linke Politik - als Alternative, nicht als bloße Variante zum "Dritten Weg".
Im Zentrum dieser Alternative steht die neue Verteilungsfrage, weil die gegenwärtigen Verteilungsverhältnisse ganz wesentlich zur Blockade einer zukunftsfähigen Entwicklung führen. Nicht von ungefähr entzündet sich hieran immer wieder der "Aufstand des Kapitals" und die gemeinsame Mobilisierung von neoliberalen Medien und Lobbyverbänden - sei es im Gesundheitswesen, beim Atomausstieg (Rückstellungen, Wer gewinnt - wer verliert), bei der Einkommensteuerreform, bei der Rente oder beim Sparpaket. Nichts ist in Deutschland so tabuisiert wie eine Korrektur der Verteilunssverhältnisse - wer gerne Tabus bricht, findet hier ein weites, unbestelltes Feld.
Ein Alternativprojekt der Linken zum "Dritten Weg" könnte sich um zwei zentrale Themen gruppieren, die eine weitreichende Perspektive eröffnen:
• Zukunftsfahigkeit - eine neu gefaßte Form der Vollbeschäftigung, Nachhaltigkeit und Emanzipation verknüpfen;
• demokratische Teilhabegesellschaft.
Der Übergang zu einer zukunftsfähigen Entwicklung ist inzwischen zu einer harten Verteilungsfrage geworden. Wenn die Forderungen der Klimaforscher ernst genommen werden:, den Energie- und Ressourcendurchsatz der Wirtschaft bis 2050 um 80 bis 90 Prozent zu verringern, dann gibt es für das alte Modell der Verteilung von Wachstumsgewinnen zwischen Arbeitnehmerinnen und Unternehmen keine dauerhafte Zukunft mehr. Weil das technologische Einsparpotential schnell
an seine Grenzen stößt, würde weiteres Wirtschaftswachstum mit der Zeit die Effizienzgewinne auffressen und die Umwelt wieder gefährden. Eine lebenswerte Gesellschaft für alle läßt sich dann nur herstellen, wenn Erwerbsarbeit und Reichtum in der Gesellschaft gleichmäßiger verteilt werden. Dies stellt höhere Ansprüche an eine Politik der Umverteilung, als wir sie vom bisherigen Modell des "Rheinischen Kapitalismus" kennen. Hinzu kommt die Aufgabe, allen, die es wünschen, einen realen Zugang zu existenzsichemder Erwerbsarbeit zu schaffen und Arbeit zwischen Frauen und Männern gleichmäßig umzuverteilen. Das Instrumentarium für eine ökologische Effizienzrevolution und den Übergang zu ökologischeren Lebensstilen (Gut leben statt viel haben) ist weitgehend beschrieben. In der Beschäftigungspolitik führt kein Weg vorbei an einer konsequenten Arbeitsumverteilung (drastische Arbeitszeitverkürzung, Stärkung des Dritten Sektors, öffentlich geförderte Beschäftigung, kollektive Absicherung und sozial staatliche Rahmensetzung für neue Jobformen, Frauenförderung, Ausbau von Kindergärten und Ganztagsschulen etc.). Wer den nötigen ökologischen Umbau und den Ausbau der sozialen und Bildungsinfrastruktur nicht durch horrende Staatsverschuldung finanzieren will, muß erst recht Vermögen, Unternehmen und hohe Einkommen entstprechend ihrer Leistungsfähigkeit besteuern. Wie der polnische Ökonom Michal Kalecki gezeigt hat, hat eine umverteilende Steuerpolitik durchaus belebende Wirkung für die Wirtschaft (das dänische Beispiel stützt diese These im übrigen auch).
Die Idee der Teilhabegesellschaft setzt nicht nur auf gestärkte Bürgerinnenbeteiligung in den Kommunen und erweiterte demokratische Teilhaberechte der StaatsbürgerInncn (wie z.B. bei Volksentscheiden und Referenden). In der britischen Debatte um die Stakeholder Society geht es in der Tat auch um eine gleichmäßigere Verteilung des Produktiwermögens in der Gesellschaft. Die Neue Mitte will das Thema mit Peanuts-Reförmchen wie verbesserten vermögenswirksamen Leistungen vom Tisch kriegen. Wer jedoch eine breite Perspektive auf die Teiihabegeseltschaft eröffnen will, kommt z.B. an den ursprünglichen schwedischen Vorschlägen zu einer schrittweisen Übertragung des Produktivvermögens an die Arbeitnehmerinnen über Fondsmodelle kaum vorbei.
Ein weiterer Eingriffspunkt ist die Diskussion um neue Managementmodelle und flache Hierarchien. Wenn von den Beschäftigten verlangt wird. im Rahmen einer "modernen Arbeitsorganisation" künftig unternehmerisch zu denken und zu handeln, warum sollen sie dann keine reale Mitentscheidungsgewalt über das Wie, Wann und Was der Produktion haben? Und warum sollen nach wie vor nur die Untemehmensspitzen darüber entscheiden, für welche strategischen Investitionen der erwirtschaftete Gewinn verwendet wird?
Das Postulat der Teilhabegesellschaft setzt die Frage nach einer zeitgemäßen Form der Wirtschaftsdemokratie auf die Tagesordnung. Wolfgang Ullmann fragt zu Recht: "Wie soll demokratische Kontrolle und je eine klare Identifizierbarkeit von Verantwortlichkeiten und Haftbarkeiten geschehen, wo es personale Subjekte nicht mehr gibt, sondern nur noch Strukturen von mittlerweile digitaler Flexibilität?" Und weiter: "Sind wir bereit, die Geteiltheit des Lebens und alles Lebendigen als die unantastbare Voraussetzung allen Eigentums anzuerkennen?"
Ullmann plädiert für eine Alternative zum posessiven Eigentumsbegriff der kapitalistischen Marktwirtschaft wie des Staatssozialismus: "Der Inhalt eines partizipativen Eigentumsrechtes ist bestimmt durch Personalisierung und Operationalisierung. Unter Personalisierung ist genau das zu verstehen, was das Treuhandkonzept des Zentralen Runden Tisches vorsah. Das Gesamtvermögen - nicht nur das Geldvermögen - der DDR sollte erfaßt und allen BürgerInnen nach einem über Volksentscheid festzulegenden Schlüssel durch Urpfandbriefe zugeteilt werden. Der Sinn dieses Konzeptes war, das Volkseigentum wirklich als solches zu behandeln und es von seiner entfremdeten Hegemonisierung als Staatseigentum zu befreien. Außerdem wären durch diese Maßnahme die durch eine demokratiefeindliche Privatisierung unterbrochenen Relationen zwischen Eigentum und Öffentlichkeit schlagartig wiederhergestellt und aktiviert worden. Das führt zum anderen Merkmal des partizipativen Eigentumsrechts, seiner Operationalisierung. In dem Maße, wie Eigentum monetarisiert und formalisiert wird, kennt es keine andere Bewegungsform mehr als die der Wertänderung und der Information über sie. Daraus erklärt sich auch, daß die inhaltliche Produktivität und Innovationskraft dieses Eigentums ständig abnimmt. Ganz anders das partizipative Eigentum. Entscheidend für dasselbe ist nicht das Verfügen, sondern das Teilhaben, wie an der Luft, die wir atmen (...)."
Ullmanns Schlußfolgerung: "Durch Teilhabe kann es eine individuelle Beteiligung an öffentlichem Eigentum wie an genossenschaftlichem Eigentum geben. Persönliches Eigentum kann umgekehrt kommunikabel werden wie Sachen, die wir nach Absprache und auf Zeit verleihen. Genossenschaftliches Eigentum kann über Pacht- und Schuldrecht partizipieren an öffentlichem Eigentum wie an gesamtmenschlichem, den für alle Menschen unerläßlichen Lebensgrundlagen. (...) Kunst, Kunstwerke, Wissenschaft und ihre Ergebnisse müssen prinzipiell für öffentlich erklärt werden."
Ullmanns Vorstellungen sind sicher im einzelnen diskussionswürdig und zu hinterfragen - doch bietet sein partizipativer Eigentumsbegriff interessante Schnittstellen zu Diskussionen in anderen Foren - etwa die der Ökologiebewegung um die Notwendigkeit einer "ökologischen Allmende" (Schutz gemeinsamer ökologischer Lebensgrundlagen der Menschen wie Gene, strategische Wasserressourcen, Luft, Naturstoffe etc, vor ihrer Vereinnahmung als Privateigentum oder "geistiges Eigentum" von Firmen), die der Open-Source-Informatiker um das Konzept des "Copyleft" und eine "Ökonomie des Schenkens" oder jene der BUND-Misereor-Studie oder von fortschrittlichen Designer-Kreisen zu ökologischen Leasingkonzepten (Verbraucher zahlen nur den Gebrauchswert eines Gutes - das Produkt bleibt Eigentum des Herstellers, der Haftung übernimmt, Reparaturen vornimmt und es am Ende entsorgt). Der Hannoveraner Sozialforscher Michael Vester merkt an: "Die Wissensgesellschaft schafft aber nicht nur neue, kompetentere Eliten, sie macht die Autorität von Eliten auch schrittweise überflüssig, wenn sie Kompetenz immer weiter in die Mitte der Gesellschaft verlagert. Die Verlagerung der Kompetenz nach unten wird ohne eine Verlagerung der Kontrolle nach unten nicht auskommen." Die Teilhabegesellschaft ist jedenfalls nicht ohne einen neuen Zugang zur Eigentumsfrage zu denken.
4. Die Grünen haben ihren Umbau zur liberalen Scharnierpartei weitgehend abgeschlossen
Noch zu Beginn der 90er Jahre sah sich die grüne Strömung der Realpolitiker als pragmatische Reformisten an, die an der Seite Oskar Lafontaines und der linken Sozialdemokratie für moderate ökologische und soziale Reformen stritt. Sie verstand sich als "postmaterialistische Linke", die in einer Strategie kleinster Schritte zusammen mit der SPD Deutschland erneuern wollte. Spätestens seit Mitte der 90er Jahre hat sie ihre Selbstverständnis radikal verändert. Immer mehr wurden Deutungsmuster und politische Konzepte aus dem geistigen Arsenal des Neoliberalismus aufgesaugt und in grünen Politspeak übersetzt.
So war bald die Rede von der notwendigen "Renaissance der Selbständigkeit" (Hubert Kleinert), von einer "nachhaltigen Finanzpolitik" (Oswald Metzger), von einer grünen "Angebotspolitik von links" (Margarete Wolf), von der "Entdeckung des Marktes'" (Tom Koenigs), von der Senkung des Spitzensteuersatzes und einer die Gewinne entlastenden Unternehmenssteuerreform (Christine Scheel), von "Generationengerechtigkeit" bei der Rente (die durch eine Rentenniveausenkung wie bei der CDU durch einen demografischen Faktor erreicht werden sollte) oder vom Vorrang für kleine und mittlere Unternehmen. Diese Umorientierung wurde im der Folgezeit in der Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik radikalisiert und am Primat der "Markttauglichkeit" ausgerichtet (eigene Vorschläge zum Niedriglohnsektor, verschärftes Rentenkonzept Thea Dückert's, Umweltpolitik im Dialog mit der Wirtschaft, die neuesten Vorschläge Margarete Wolfs zu einer neuen "liberalen" grünen Wirtschaftspolitik etc.). Der grüne NRW-Bauminister Michael Vesper bringt den neuen Geist auf den Punkt und verlangt ein "klares Bekenntnis der Grünen zur Wirtschaft". Nur bei der Ökosteuer orientierte man sich zeitweise an alten sozialdemokratischen Konzepten (Einnahmen verwenden, um Lohnnebenkosten zu senken).
Mit diesem programmatischen Wechsel verband sich ein Tausch der Bündnispartner innerhalb der SPD: bald focht man an der Seite von Technokraten wie Sigmar Mosdorfoder von Strategen der Neuen Mitte wie Bodo Hombach. Künftig galt es, Sozis wie Oskar Lafontaine von "sozialistischen Experimenten" abzuhalten. Die Mehrheit der grünen Bundestagsfraktion hatte die Partei in der öffentlichen Wahrnehmung damit bald als Gruppierung zwischen SPD und CDU positioniert, die prinzipiell mit beiden Koalitionen abschließen kann und die SPD in der Wirtschafts- und Sozialpolitik aggressiv in Richtung des Hombachschen Modemisierungskurses (mit umweltpolitischen Einsprengseln) treibt.
Die grüne Linke hatte auf diesen Strategiewechsel der Realos vorerst keine gemeinsame politische Antwort. Grüne Linke mögen an der einen oder anderen Frage noch bis zu 40 % der grünen Parteitagsdelegierten für ihre Anliegen mobilisieren, aber sie haben kaum mehr eine Mehrheitschance und liegen politisch tiefer am Boden denn je. Spätestens mit dem Kosovo-Parteitag der Grünen hat sich gezeigt, daß eine latente Mitte-Rechts-Mehrheit sich in der Partei verfestigt hat. Die grüne Linke ist ähnlich wie Jusos und SPD-Linke in die Rolle einer strukturellen Minderheit geraten.
Die Entwicklung einer Globalaltemative zur Strategie des Dritten Wegs ist zur Schlüsselfrage geworden, wenn die grüne Linke überhaupt als attraktive und aktive Minderheitsströmung überleben will. Auf Prozesse der Meinungsbildung und des Interessenkampfes in der Gesellschaft kann sie ohnehin nur Einfluß nehmen, wenn sie sich mit anderen, ähnlich orientierten Kräften in Bündnissen und Netzwerken zusammenfindet. Innerhalb der Grünen muß sie einen Neuanfang als robuste Minderheit wagen, die in der Diskussion um den Kurs der Regierungspolitik, um Grundsatzfragen und die Erstellung eines neuen Grundsatzprogramms offensiv agiert.
5. Strategische Perspektive: Politische Umgruppierung der Linken
Die strategische Perspektiven über eine Regierungsbeteiligung sozial-ökologische Reformpolitik wenn auch in kleinsten Schritten voranzutreiben, ist durch die Wende zur "Politik der Zweiten Chance" vollständig verbaut worden. Ein gemeinsames rot-grünes sozial-ökologisches Reformprojekt, auf das vor der Bundestagswahl so viele gehofft hatten, gibt es nicht mehr. Auf der Ebene der Parteipolitik betrifft dies nicht nur SPD und Grüne, sondern auch die PDS.
Die PDS hat im Westen aufgrund ihrer politischen Herkunft und der fortgesetzten DDR-Nostalgie eines bedeutenden Teils ihrer östlichen Wählerinnenbasis nach wie vor erhebliche Schwierigkeiten, als glaubwürdige linke Alternative allgenommen zu werden. Doch dies ist nicht ihr einziges Handicap. Die Ergebnisse ihrer Regierungsbeteiligung in Mecklenburg-Vorpommern und ihrer Tolerierungspolitik in Sachsen-Anhalt lassen keine bedeutsamen Unterschiede zur Regierungspolitik von Rot-Grün im Bund und in den Ländern erkennen. Innerparteilich ist sie damit zerissen zwischen der Rolle als konsequente Opposition gegen die Politik der Neuen Mitte einerseits und dem Zugehen auf die Schröder-SPD (und inzwischen auch auf die Ost-CDU) zur Ermöglichung weiterer Regierungsbeteiligungen in den ostdeutschen Bundesländern andererseits. Auch für sie ist nicht in Sicht, mit den avisierten Koalitionspartnern einen tragfähigen Minimalkonsens über sozial-ökologische Reformpolitik zu finden. Sie ist damit eher Bestandteil des Problems der Erneuerung der Linken statt Teil seiner Lösung.
Unter dem Vorzeichen des Dritten Wegs und der "Modernisierung" ist die Strategie der Regierungsbeteiligung zur Durchsetzung sozial-ökologischer Reformpolitik in eine Sackgasse geraten. Der bei vielen grün-fundamentalistischen oder revolutionär-sozialistischen Linken verbreitete Umkehrschluß, Regierungsbeteiligungen aus prinzipiellen Gründen abzulehnen, fuhrt allerdings auch nicht weiter. Allein durch konsequente Oppositionspolitik lassen sich zwar Modifizierungen der Regierungspolitik durchsetzen oder bestimmte Entwicklungslinien verzögern und verhindern. Dies hat der Widerstand der Anti-AKW-Bewegung in den 80er Jahren exemplarisch gezeigt. Sie ermöglicht allerdings nicht die Neugestaltung von Politik entlang einer alternativen Entwicklungslogik. Entscheidend für einen solchen Politikpfad ist das Zusammenspiel einer entschlossenen, reformorientierten Regierung auf Grundlage eines politischen Minimalkonsenses und von sozial-ökologischen Reformbewegungen in der Gesellschaft, die an der Umsetzung der Reformpolitik vor Ort teilnehmen und eine zögerliche Regierung durch eigene Aktionen unter Druck setzen können. Beide Bedingungen - ein sozial-ökologischer Minimalkonsens der Regierenden und aktive, selbstbewußte Bewegungen - sind derzeit bekanntlich nicht gegeben. Der Emeuerungsprozeß der Linken muß deshalb darauf abzielen, durch politische Umgruppierungen darauf hinzuwirken, diese Bedingungen herzustellen. Ein Ausblenden der Regierungsfrage wird ihr dabei nicht viel nützen.
Nicht wenige intellektuelle Linke setzen darauf, daß eine programmatisch erneuerte und damit auch in Wahlen wieder populärer gewordene Linke durch eine Regierungsbeteiligung mehr durchsetzen könne, als dies mit SPD und Grünen in ihrer heutigen Verfassung möglich ist. Diese Erwartung bricht sich allerdings an den realen Machtverhältnissen. Der Aufstand des Kapitals gegen den ersten zögerlichen Refonnschub unter Lafontaine isr ein mahnendes Beispiel. Ohne eine gesellschaftliche Bewegung im Rücken, die mindestens genauso wirksam Druck für ihre Interessen entfalten kann wie die Wirtschaftsverbände und neoliberalen Medien für die Kapital-
Seite, wird auch ein solcher Versuch kläglich scheitern. Auch wenn wir in einer Mediengesellschaft leben, funktioniert die Politik nun einmal nicht nach dem Modell des herrschaftsfreien Diskurses von Jürgen Habermas, wonach der- oder diejenige gewinnt, der oder die die besseren Argumente parat hat.
Vorrangige Aufgabe der Linken ist es deshalb zunächst, in der Gesellschaft Potentiale für sozial-ökologische Reformpolitik neu zu bündeln und die Verständigung auf ein gemeinsames strategisches Projekt zu fördern. Weil die politischen Fronten in der Auseinandersetzung um die Politik der Neuen Mitte quer zu den Parteigrenzen von SPD, Grünen und PDS verlaufen, ist die Gründung neuer (Kleinst)-Parteien für die nötige gemeinsame Verständigung genauso kontraproduktiv wie der Versuch, den linken Erneuerungsprozeß gleich mit der Frage der Parteiform zu überfrachten. Da ein großer Teil der noch aktiven emanzipatorischen Kräfte - Umweltverbände, Frauengruppen, Netze linker Gewerkschafterinnen, Migrantinnenverbände, Jugendgruppen etc. - ohnehin parteilich kaum oder nicht gebunden sind, wird ein solches Vorgehen den notwendigen Diskurs über gemeinsame Inhalte, Strategien und Aktionsmöglichkeiten unmöglich machen.
Für eine Bündelung linker, ökologischer, solidarischer und feministischer Potentiale in der Gesellschaft sind Netzwerke wesentlich sinnvoller. Es ist bei dieser Organisationsform egal, ob einzelne Aktive ein grünes, sozialdemokratisches oder PDS-Parteibuch haben, solange gemeinsame Strategien, Konzepte und Aktionsmöglichkeiten entwickelt werden können, die alle zusammen voranbringen. Die Netzvverkform erleichtert es auch, den unterschiedlichen sozialen Milieus des potentiellen Reformlagers gerecht zu werden.
Die verschiedenen, häufig an Einzelthematiken orientierten Netzwerke in der Bundesrepublik stehen vor einer entscheidenden Frage: entweder sie beißen sich vereinzelt und mit ihren jeweiligen schwachen Kräften an der rot-grünen Konterreform die Zahne aus - oder sie versuchen, aus ihren jeweiligen Blickwinkeln Gemeinsamkeiten mit anderen Netzwerken und Initiativen zu finden, die Kräfte zu bündeln und einige wenige gemeinsame Strategien und Aktionen zu entwickeln. Eine solche Vorgehensweise wurde bereits z.B. von der "Initiative für eine andere Politik", vom "Netzwerk für eine zukunftsfähige Politik" oder vom "Jugendbündnis für eine zukunftsfähige Politik" in Ansätzen entwickelt, die in unterschiedlicher Zusammensetzung ein Spektrum von Naturwissenschaftlerinnen über Umwelt- und Dritte Welt-Gruppen bis zu Gewerkschafterinnen versammeln. Es erscheint sinnvoll, diese Kräfte noch weiter zu bündeln, bisher nicht an diesen Prozessen beteiligte Initiativen zur Mitarbeit einzuladen und eine Diskussion über Alternativen und Handlungsmöglichkeiten zur Politik der Neuen Mitte in Gang zu setzen.
Programmatisch-konzeptionelle Erneuerung, die Entwicklung von Strategien, die Ansprache heterogener sozialer Milieus, der Aufbau funktionstüchtiger Strukturen und gemeinsamer Aktionen sollten dabei in einem dialogischen Prozeß Hand in Hand gehen. Interessierte politische Kräfte in Parlamenten und Regierungen können die öffentliche Wirkung der Netzwerke verstärken, indem sie sich positiv auf deren Forderungen und Aktionen beziehen und im Rahmen ihrer Möglichkeiten sowohl mediale als auch parlamentarische Unterstützungsarbeit leisten. Gelingt dieses Zusammenspiel, so würde es in Deutschland überhaupt wieder möglich, strategische politische Alternativen in eine massenwirksame Diskussion zu bringen.
Die neue Mitte birgt ein erhebliches Potential für neue politische Differenzierungen: "Dieser Riß wird vor allem zwischen den "neuen Hegenionen" - der Elite der mehr oder minder modemisierten Technokraten - und der neuen Arbeitnehmemitte verlaufen. Wenn in der Mitte die Angst vor Arbeitslosigkeit und Ungewisser Zukunft abnimmt, wird deutlicher, daß sich jener untere Teil der Neuen Mitte mit der passiven Rolle, für mehr soziale Sicherheit bescheidenere Tarifabschlüsse hinzunehmen, nicht abfinden wird. Als Konsequenz der von der Neuen Mitte enttäuschten Re-formerwartungen "kommt es mit der Zeit zu verschiedensten neuen Protestbewegungen der moderneren sozialen Gruppen - insbesondere Arbeiter und Angestellte, Schüler und Studierende, Frauen und diskriminierte Gruppen. Ihre Forderungen werden sich nicht auf materielle Umverteilungen beschränken: Sie wollen mitbestimmen, wenn es um ihre Zukunft geht." (Michael Vester)
Eine erneuerte Linke darf sich also nicht ausschließlich als Interessenvertretung der Modemisierungsverliererinnen und Marginalisierten verstehen, wenn sie Erfolg haben will. Sie muß vielmehr auf eine politische Umgruppierung quer durch verschiedene soziale Milieus setzen. Die Anliegen der breiter werdenden Schichten der sozial Ausgeschlossenen gilt es mit den Fragen der Gestaltung der "Wissensgesellschaft" und des ökologischen Umbaus so zu verknüpen, daß die Linke insbesondere in die von Vester prognostizierte Differenzierung im Milieu der modernen Arbeitnehmermitte und in die Umbrüche in den postmaterialistischen Milieus der Hedonisten und Liberalintellektuellen orientierend eingreifen kann. Mit einer bloßen Neuflage der "postmaterialistischen" Politik der Grünen in den 80er Jahren - die heimliche Sehnsucht vieler AktivistInnen aus dem linksgrünen Milieu - kann diese Umgruppierung nicht bewerkstelligt werden. Dafür sind die Anliegen der Ökologie, der Emanzipation von Frauen, der Demokratisierung, der Integration von ImmigrantInnen und Flüchtlingen inzwischen zu sehr mit der neuen Verteilungsfrage verknüpft.
Das Potential zum Aufbau einer anti-neoliberalen politischen Strömung, die auf gemeinsamen Interessen von Frauen, Migrantinnen, "neuen ArbeitnehmerInnen", prekär Beschäftigten und neuen Selbständigen gründet, ist durchaus vorhanden. Die politische Kunst wird darin liegen, diese Interessen hinreichend miteinander zu verknüpfen und eine jeweils milieugerechte Form der politischen Ansprache zu finden. Dies ist die entscheidende Aufgabe im Emeuerungsprozeß der politischen Linken in Europa und in Deutschland.
Annelie Buntenbach und Klaus Dräger, Ende September 1999
P.S.: Die hier dargelegte Argumentation wird in einem längeren Text in Form einer Broschüre noch weiter ausgeführt werder. Als Fertigstellungstermin ist Ende Oktober 99 geplant. Der Text wird über die Website von Basisgrün erhältlich sein.