T. Raimund Reintjes
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Berlin, den 21.10.99


 

Diskussionsbeitrag zur Neubestimmung grüner Politik

 

Nach dem - wenn auch nicht katastrophalen - so doch enttäuschenden Wahlausgang in Berlin kommt Bewegung in den Landesverband. Das ist begrüßenswert. Peter Lohauß e.a. legen mit ihrem Diskussionspapier "Berliner Thesen zur Neubestimmung Grüner Politik" einen Anstoß für eine Generaldebatte über die Neuausrichtung der Partei in inhaltlicher Zielsetzung vor, das zunächst ein wichtiges Signal aussendet: der Streit um politische Inhalte und Ziele muß im Vordergrund der parteipolitischen Erneuerung stehen – nicht die Reform von Parteistrukturen. Darüber hinaus wurde verstanden, daß die Erosion von inhaltlicher Kompetenz die Erosion von Wählerschaft nach sich zieht. Politik ist keine PR-Show, wenngleich eine kompetente und glaubwürdige Selbstdarstellung in den Medien und der Öffentlichkeit als Faktoren wichtig sind und wichtiger werden.

Das grüne Wählerklientel ist traditionell besonders kritisch, gerade gegenüber dem Verhältnis von Anspruch und Wirklichkeit der "eigenen" politischen Vertreter. Nicht nur in der Außendarstellung sind hier in der Vergangenheit Fehler gemacht worden. So ist besonders markant, daß vom einstmals formulierten gesamtgesellschaftlichen Reformprojekt nur noch "weichgekochte" Fragmente zurückgeblieben sind, die vereinzelt und ohne konzeptionelle Verbindung nebeneinander wie Luftblasen im Tiegel der Gesellschaft aufsteigen, nur um nach eingehender Medienschelte und selbstzerstörerischen Angriffen aus den eigenen Reihen an der Oberfläche der Realität zu zerplatzen.

Die AutorInnen des Papiers haben Recht, wenn sie die "Zuspitzung auf eine Realo-Links Konfrontation für überholt und unproduktiv" halten. "Die Politik muss auf der Basis unserer Grundwerte zu innovativen und zukunftsfähigen Positionen fortentwickelt werden." Nur:

  1. Bündnis 90/ Die Grünen heute

"Der Knabe lebt, das Pferd ist tot." Spätestens seit der Beteiligung an der Regierungsverantwortung im November 1998 zerfallen die letzten einigenden Klammern des Burgfriedens, die die Flügel der Partei anläßlich des Ziels der Bildung einer rot-grünen Bundesregierung zusammenhielten. Das Erreichen des Zieles zeitigte nicht etwa das erhoffte Signal für einen Aufbruch in ein Neuausrichtung gesellschaftspolitischer Mechanismen, sondern eine erschreckende Substanzlosigkeit bündnisgrüner Positionen. Neben den Fehlern, die – wenn die Verantwortlichen dazu stehen würden – (vielleicht?) gemeinsam getragen würden, hat sich insbesondere die Bundestagsfraktion (aber nicht nur sie allein) zur Arena machtpolitischer Kleinkriege entwickelt. Insbesondere der Umgang mit dem kritischen Teil der Fraktion nach innerparteilichem Dissenz in der Frage des Kosovokrieges war durch eine beschämende Schmutzkampagne gekennzeichnet, nahmen diese Abgeordneten doch nur das Recht für sich in Anspruch, für das ansonsten die ganze Partei stehen will bzw. sollte: freie Meinungsäußerung zu tun, und in der Frage der Zustimmung zu einem Kriegseinsatz nur seinem/ihrem Gewissen unterworfen zu sein, laut NEIN sagen zu dürfen, wenn es um den Befehl zum Töten geht. Darüber hinaus wurde nicht erkannt, daß ein Druck von Seiten der Grünen auf die Bundesregierung und seinen Außenminister (dessen Parteizugehörigkeit das im System angelegte und sich innerhalb der theoretischen Überlegungen und praktischen Gepflogenheiten durchgesetzte überparteiliche Konsensprinzip der Außenpolitik weit mehr beeinflußt hat, als das bisher möglich war) viel dazu beitragen konnte, die Bemühungen um eine möglichst schnelle Beilegung der Kampfhandlungen sowie der konsequenten Suche nach zivilen Konfliktlösungsmechanismen zu intensivieren. Ein Umgang der einzelnen Parteimitglieder miteinander – und seien sie auf noch so gegensätzlichen Flügeln – geleitet von gegenseitigem Respekt sollte das Mindestmaß an parteipolitischem Konsens darstellen. Das Papier "Berliner Thesen" macht hier einen ermutigenden Schritt nach vorn.

 

2. Now Generation/ Next Generation

Die Erkenntnis, daß Bündnis 90/ Die Grünen besonders bei der jungen WählerInnenschaft besonders schlecht wegkommen, ist nicht neu. Grüne WählerInnen sind keine Stimmesel. Richtigerweise führen Lohaus e.a. aus, daß sich die Partei "sichtbarer für die Hauptthemen der jungen Generation öffnen" muß. Was heißt: "sichtbarer"? Weiß die Partei überhaupt, was die Hauptthemen der jungen Generation sind? Ich bin mir nicht so sicher – auch nach der Lektüre des Papiers. Einige Beispiele:

 

  1. "Verbesserung der Bildungschancen, (...) Berufsausbildung, Chancen für alle auf dem Arbeitsmarkt".

    Natürlich. Aber auf diesem Gebiet wird die Partei kaum jemals als übermäßig kompetent wahrgenommen werden, solange sie sich nicht besonders den veränderten Bedürfnissen der ins Arbeitsleben Strebenden annimmt. Selbstverständlich müssen sich B90/Grüne mit guten Konzepten oder Lösungsvorschlägen in die Diskussion einmischen: Flexible Arbeitszeitmodelle fördern, Selbstverantwortung der ArbeitnehmerInnen stärken, Stakeholder-Betriebe und genossenschaftliches Wirtschaften fördern, das Klima für Risikokapital verbessern, personenbezogene Bankrottregelungen rechtlich ausbauen, etc. Hier sollte die Partei besonders versuchen, die Meinungsführerschaft in ausbildungs-, wirtschafts- und arbeitsmarktbezogenen Themen zu besetzen, welche von SPD und CDU noch nicht zur Bastion ausgebaut wurden. Eine heilige Kuh, die es zu schlachten gilt, ist dabei das ambivalente Verhältnis zu den Gewerkschaften, deren arbeitsmarktpolitisches Agieren zu einer m.E. zunehmenden Belastung für die junge Generation wird. Flächentarifverträge sind längst nicht mehr überall im Sinne der ArbeitnehmerInnen, entmündigen sie den/ die Einzelnen in bezug auf die Gestaltungsfreiheit seiner bzw. ihrer Arbeitsbedingungen. Ebenso diskussionswürdig ist das Institut der Tarifautonomie, die der Bundes- und den Landesregierung(en) die Möglichkeit der Anwendung arbeitsmarktpolitischer Steuerungsmechanismen beraubt. Bündnisse für Arbeit verpuffen wirkungslos, da die Politik nur als Moderatorin, nicht aber als handlungsfähige Gestalterin auftreten kann und somit zwischen den protektionistischen Ansätzen der Tarifparteien zerrieben wird.

    Weiterhin müssen Fragen diskutiert werden, welche Technologien und Berufe zukunftsfähig sind, wo regional, national oder international ein Kompetenzvorsprung erreicht und wie dieser durch arbeits- und (aus-)bildungspolitische Instrumente gezielt gefördert werden kann. Ist ein diversifizierteses Hochschulsystem sinnvoll, welches Maß an Bildung muß allgemein gesichert werden, welche bildungspolitischen Mechanismen zur Spezialisierung sind geeignet, Kapital aus der "freien" Wirtschaft verstärkt für den Bildungsbereich zu gewinnen? Welcher "Mix" aus freier Lehre und praxisorientierter Forschung ist vorteilhaft für alle Beteiligten? Wie kann Wirtschaft und Industrie zur Beteiligung an den Kosten für universitäre Bildung in die Pflicht genommen werden, was können im Gegenzug die Bildungseinrichtungen zu Innovation und Marktfähigkeit beisteuern? Welche Kombination aus theoretischen Wissen und praktischen Erfahrungen hält die besten Chancen für die Anforderungen zukünftig im Arbeitsleben Stehenden bereit?

     

  2. Stichwort Mediendemokratie.

Hier hat die Partei zweifelsfrei erhöhte Kompetenz, doch wo sind die breiten Diskussionen in der Öffentlichkeit zu Fragen der Netzökonomie, eines virtuellem Finanzsystems, virtueller Bürgerrechte, Zensur, PC‘s im Kindergarten, Informationsrecht, etc.? Die Partei hat hier Kompetenzen, sie diskutiert – aber in kleinen, kaum wahrgenommen Zirkeln. Kostenfreier Zugang zum Internet ist Bürgerrecht! Wahlumfragen unter den Internet-userInnen haben im März 1998 über 30 Prozent GrünwählerInnen identifiziert!

Auf der Gründungsveranstaltung des "Forum Globale Fragen", einer vom Außenminister Fischer ins Leben gerufene (und leider bisher nur nationale) NRO-Plattform, bezeichneten viele VertreterInnen deutscher NROs (z.B. Klaus Dicke, Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen) das Internet als stärkste zivilgesellschaftliche Waffe. Für Bündnis 90/ Die Grünen ergibt sich hier eine Möglichkeit, ihr lahmenes Standbein in der Bürgerrechtsbewegung und Menschenrechtsinitiativen durch eine konzeptionelle Strategiediskussion (wieder) zu beleben.

c) Stichwort Ökologische Gesellschaft

Ein Kernthema, reduziert auf Einzelfragen (die z.T. im Thesenpapier angerissen werden). Wo ist das Konzept "Ökologische Gesellschaft", welches als Art Vision (jetzt doch das schreckliche Wort) die einzelnen Komponenten verbindet? Wo sind die öffentlichen Positionen zur Liberalisierung des Strommarktes? Atomstrom ist Yello, regenerative Energiewende ein grünes Schlagwort ohne erkennbares (obwohl zweifelsfrei vorhandenes) Konzept? Wo sind die öffentlichkeitswirksam präsentierten Gesamtkonzepte, wie eine Energiewende mit oder gegen die Stromriesen erreicht werden kann? "GRÜNE Politik muss sich daran messen lassen, wie weit die großen Themen ökologischen Wirtschaftens vorangebracht werden" heißt es richtigerweise im Papier. Wo sind die Exportprognosen für nachhaltige Technologien? In der Öffentlichkeit jedenfalls nicht. Wenn Kinkel den Topmanagern deutscher Großunternehmen Aufträge in aller Welt vermittelte: warum kann Fischer nicht ähnliches für Unternehmen aus der Umwelttechnologiebranche tun? Oder Trittin? Welche/r grüne MinisterIn vermittelt internationale Kontakte für kleine und mittlere innovative Öko-Tech-Betriebe, mit denen die hiesige Produktion angekurbelt und die Preise attraktiv gestaltet werden können? "Die Angebotsbedingungen zukunftsweisender Wirtschaftsbetriebe verbessern" heißt konkret: internationale Märkte beliefern, damit Marktanteile schaffen, wettbewerbsfähige Preisgestaltung zu ermöglichen, damit technologische Weiter- und Neuentwicklungen fördern, damit auch Marktsegmente im Inland vergrößern etc. Wo sind Ideen für ökologische Dienstleistungsangebote, die über Müllabfuhr und Biogemüse-Bringdienst hinausgehen?

Das Papier behauptet: "Bündnis 90/ Die Grünen stehen für eine innovative und soziale Marktwirtschaft". Ist das so? Die Partei will (!) dafür stehen, aber wo wird das deutlich? Das Papier redet lapidar von "wirtschaftlichem Wachstum". Wachstum bedeutet, zu lasten Dritter zu wirtschaften. Heute (leider noch) eine gesellschaftliche Notwendigkeit, da die kapitalistische Wirtschaftsform derzeit darauf basiert, aber: wo sind die Szenarien, wie aus der Wachstumsfalle ausgestiegen werden kann? Die Deutschen – und mit ihnen viele andere Gesellschaften – "leiden" nicht an begrenzten Konsummöglichkeiten, sondern am Überfluß. Wie kann aus der Wegwerfgesellschaft eine Wiederverwendungsgesellschaft werden? Regneration und Nachhaltigkeit sind die mittelfristigen Minimalziele einer ökologischen Gesellschaft. Langfristig muß der Trend umgekehrt, müssen Flüsse und Meere sauberer, Wälder aufgeforstet, und die Atmosphäre gereinigt werden. Langfristiges Ziel muß die Wiederherstellung eines gesunden ökologischen Gleichgewichts sein, welches dann durch nachhaltiges Wirtschaften und Leben bewahrt werden kann. Ökologie als Thema ist nicht tot. Es wird nur immer noch mit den naiven Vorstellungen wollsockenstrickender KörnerfetischistInnen in Verbindung gebracht. Auch Nadelstreifenanzüge können ökologisch hergestellt werden, biologisch abbaubare Autokarossen könnten – ohne an Trabbis zu erinnern – Designerpreise gewinnen (wenn man den Gedanken weiterspinnt, könnten selbst Altautoverordnungen überflüssig werden...) usw.

 

d) Gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften

Die von Bündnis 90/ Die Grünen angestrebte gesetzliche Neuregelung muß sauber vorbereitet werden. Es muß erneut mit einer Schmutzkampagne der CDU gerechnet werden. Um ein Desaster in der Außenwahrnehmung der Parteipolitik wie bei der Diskussion über die doppelte Staatsbürgerschaft zu vermeiden, bei dem das Ergebnis zwar unbefriedigend war, dennoch einen wichtigen Durchbruch bezüglich des Ausstiegs aus dem Deutschen Blutrecht markiert, könnten prominente Perönlichkeiten zur Unterstützung gewonnen werden. Bündnis 90/ Die Grünen sollten versuchen, eine solche Gesetzesinitiative als gesellschaftspolitisches und nicht als parteipolitisches Anliegen zu entwickeln, beispielsweise durch ein Symposium für die Belange gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, auf der in diesen Bevölkerungsgruppen tatsächlich vorhandene Bedürfnisse transparent würden, sodaß die Partei sich auf einen öffentlich als solchen wahrgenommenen gesellschaftlich begründeten Boden von Forderungen und Vorstellungen beziehen kann. Somit nähme man eventuellen Gegenkampagnen einigen ideologischen Wind aus den Segeln. Zusätzlich wären für den Fall, daß mit der SPD Kompromisse geschlossen werden müssen, die Grünen in ihrer Glaubwürdigkeit unbeschädigt.

 

  1. Frieden und Menschenrechte

Die Diskussion um den Einsatz deutscher Soldaten (wo bleibt übrigens hier die Gleichstellung der Geschlechter?) im Kosovo-Krieg (und es war ein Krieg, nicht bloß ein Konflikt, wie manche Rhetoriker gerne erklären) hat gezeigt, daß die pazifistischen Wurzeln der Grünen verkümmert sind. Diejenigen, die der Illusion erlegen waren, die Grünen wären nach wie vor eine pazifistische Partei, dürften inzwischen bei den NichtwählerInnen oder der PDS heimisch geworden sein. Ein Umstand, der den Einbruch der Partei in den Ostbezirken – zumindest zum Teil - erklärt. Für die Partei bedeutet das jedoch nicht, sich ihres Anspruchs zu entledigen, friedliche – und vor allem präventive – Konfliktlösungsstrategien zu unterstützen und darauf hinzuwirken, daß zivilgesellschaftliche Mechanismen, vor allem in den Krisenregionen der Welt, aufgebaut bzw. gestärkt werden. Die dazu im Papier gemachten Vorschläge sind jedoch unvollständig.

 

  1. Zur weltweiten Verbreitung der zivilgesellschaftlichen Prozesse, insbesondere präventiver Konfliktlösung, muß der Umbau der Vereinten Nationen zu einem globalen Instrument von Friedens- und Menschenrechtsinitiativen massiv unterstützt werden. Innerhalb der Globalisierungsdiskussion wird der Querschnittscharakter von präventiver Friedens- und Menschenrechtspolitik deutlich. Fragen des Umweltschutzes, menschlicher Gleichstellung, nachhaltigen Wirtschaftens sowie kulturellen und religiösen Selbstbestimmungsrechten (u.a.) sind untrennbar miteinander verwoben. Zivilgesellschaftliche und Menschenrechts-Initiativen müssen über ein intensives Netzwerk unter Einbeziehung etablierter Strukturen wie der UNO zu einem "global player" werden, ansonsten werden diese Belange im Zuge der globalen Prozesse wieder an Bedeutung verlieren.

     

  2. Rüstungskontrolle ist nach wie vor eines der zentralen Probleme im Kampf gegen Krieg und Terror. Die USA habe mittlerweile einen nahezu 50-prozentigen Anteil am Volumen des internationalen Waffenhandels, dahinter folgen Frankreich und England. Damit sind die selbsternannten Hüter von Frieden und Freiheit Hauptnutznießer von Krieg, Bürgerkrieg und Terrorismus. Hier muß eine Debatte ansetzen, der den Mythos entzaubert, daß Demokratien quasi automatisch auch Hüterinnen des Friedens und Streiterinnen für Menschenrechte sind. Die von Seiten der USA ausgegebene Parole "Globalisierung stärkt Marktwirtschaft stärkt Demokratie stärkt Frieden" ("enlargement"-Konzept) ist fragwürdig und muß ersetzt werden durch zivilgesellschaftliche Konzepte internationaler Friedenssicherung. Ganz und gar kontraproduktiv wäre in diesem Zusammenhang eine Zustimmung für neue Waffenlieferung von seiten der Bundesrepublik an die Türkei.

     

  3. Die Rolle der Medien bei Kriegseinsätzen mit transatlantischer Beteiligung ist problematisch. Seit dem 2. Golfkrieg unterliegt die mediale Kriegsberichterstattung einer Zensur, wie es sie vorher nie gegeben hat. Das widerspricht fundamental demokratischen und im GG verankerten Prinzipien (eine Zensur findet nicht statt!). Darüber hinaus sind selbst die "freigegebenen" Bilder und Informationen von seiten der NATO oder der am Krieg beteiligten Regierungen zum Teil gefälscht, unwahr oder beschönigend (Beispiel: Bombardierung der chinesischen Botschaft). Bündnis 90/ Die Grünen ist als Anwalt bürgerrechtlicher Interessen verpflichtet, diese Vorgehensweise zu bekämpfen und freie und unabhängige Berichterstattung der Medien zu unterstützen. Ein besonders kontraproduktives Bild hat in diesem Zusammenhang der Berliner Landesverband bei der Besetzung seiner Räumlichkeiten abgegeben. Die zurecht bestehende Kritik der Betreiber des Gegeninformationsbüros an der Rolle der Grünen in diesem Krieg führte leider nicht zu einer konstruktiven Umsetzung des Anliegens der Besetzung. Stattdessen mündete der in Gang gesetzte Interessenskonfliktlösungsmechanismus in der Räumung des Büros durch die Polizei. Hier wurde eine Chance vertan, diese Diskussion in die Öffentlichkeit zu tragen, stattdessen wurde nur die Distanz zu den "linken Chaoten" demonstriert.

     

  1. Soziale Gerechtigkeit

    Zur Debatte um soziale Gerechtigkeit haben die Grünen einige gute Vorschläge beigesteuert. Das Papier bezieht sich darauf. Eine Verkürzung der "linken" Position auf die Anwaltschaft ausgegrenzter Minderheiten oder darum, "Benachteiligte zum alleinigen Maßstab ihrer Konzepte von Gesellschaftsgestaltung" zu machen, ist m.E. eine falsche Sichtweise. Bündnisgrüne Politik muß, daß stellt das Papier richtigerweise fest, gesamtgesellschaftliche Konzepte bereitstellen. Jedoch bezieht sich der Impetus einer sozialen Gerechtigkeit auf das in der Gesellschaft weithin empfundene Mißverhältnis zwischen Benachteiligten und Bevorteilten. Eine Umverteilung öffentlicher Mittel zugunsten Benachteiligter bedeutet nicht "Einschüchterung der Besserverdiendenden", sondern die politische Gestaltung sozialer Prozesse. Mit Steuergeschenken an die konsolidierten Schichten werden Habsucht, Gewinnmaximierung und soziale Ausgrenzung unterstützt. Stattdessen müssen Mechanismen für die ausgegrenzten Gruppen etabliert werden, wie eine (Wieder-)Eingliederung in die Gesellschaft gelingen kann. Das kann sowohl über die Förderung von Selbsthilfeinitiativen, als auch über Druck auf diejenigen Unternehmen geschehen, die ihre Möglichkeiten und gesellschaftliche Verantwortung bezüglich der Schaffung von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen nicht gerecht werden. Die Schaffung von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen kann mit weiteren steuerlichen Anreizen versehen werden, andere im Papier vorgestellte Überlegungen sind geeignet, den – auch finanziellen – Gewinn solcher Maßnahmen für die betroffenen Unternehmen transparent zu machen. Letztendlich darf sich die Partei jedoch auch nicht vor einem Konflikt mit der Arbeitgeberverbänden, großen Konzernen oder AktionärInnen scheuen. Den VertreterInnen dieser Gruppen ist kaum ein Übermaß an "freiwilligem" sozialen Gewissen zu unterstellen. Was in der Frage des Atomausstiegs möglich ist – nämlich: "zur Not im Dissenz" – sollte auch bei der Wiederherstellung sozialer Gerechtigkeit möglich sein. Bestimmte Gruppen sind während der vergangenen 16 Jahre der CDU/ CSU/ FDP-Regierung an den Futtertrögen öffentlicher Zuwendung so fett (und einflußreich) geworden, daß eine freiwillige Aufgabe der liebgewonnenen Begünstigungen kaum zu erwarten ist – egal wie asozial sie in ihren Auswirkungen sind. Letztlich wage ich jedoch die Behauptung, daß eine Dissenz-Strategie gar nicht unbedingt erforderlich sein wird. Die Förderung zur Schaffung von Ausbildungsverbünden dürfte beispielsweise im Sinne vieler kleiner und mittelständischer Betriebe sein – wie das Beispiel des Kreuzberger Kreis untermauert.


  2. Parteipolitisches Profil

Der Abschied der Partei von seiner basisdemokratischen Orientierung ist fast vollbracht. Es dürstet die Funktionäre nach Ämterhäufung. Machtkumulation und Hierarchisierung. Auf immer weniger Schultern verteilte Verantwortung führt zu einer gesteigerten Macht der Amts- und Mandatsträger, nicht aber zu einer kompetenteren Politik.

Der Umstand, daß es innerhalb der Grünen traditionell heftige Richtungsstreits gegeben hat, ist Ausruck der im Zusammenbruch befindlichen traditionellen Parteistrukturen. Nun erlebt die Partei eine Transformation zum für die Grünen neuen – ansonsten altbekannten Modell innerparteilicher Hierarchie. Teile der Partei unterstellen, daß die Außendarstellung grüner Positionen glaubwürdiger wird, wenn innerparteilicher Dissenz nicht in die Öffentlichkeit dringt, wenn also parteipolitische Diskussionsprozesse möglichst intransparent ablaufen. Ich halte das für einen Fehler. Im Gegenteil behaupte ich, daß es eine Stärke von Bündnis 90/ Die Grünen ist, öffentlich zu diskutieren und Raum für Auseinandersetzung und verschiedene Positionen zu geben. Richtig ist, daß es in der Vergangenheit oftmals mißlungen ist, grüne Positionen eindeutig identifizierbar zu gestalten. Aber die beiden Elemente müssen sich gegenseitig nicht ausschließen. Vielmehr muß verstärkt darauf hingearbeitet werden, daß gefundene Positionen und der Prozeß der Diskussion von Außen unterscheidbar werden. Positionen befinden sich optimalerweise permanent in einem Prozeß der Hinterfragung, der Anpassung an die Wirklichkeit. (Partei-)Politische Wahrheiten sind nie absolut, auch wenn insbesondere CDU/ CSU und FDP dies der Bevölkerung Glauben machen wollen. Die Partei muß gegen das in der Bevölkerung verankerte Schwarz-Weiß-Denken ankämpfen, sie muß Diskussion in der Gesellschaft anregen und Sammelbecken für verschiedene Denkansätze bleiben. Daher ist eine dualistische – besser noch multiple - Parteistruktur mit breiten horizontalen Diskussions- und Einflußebenen fruchtbar, auch wenn sie, wie anfänglich bereits erwähnt, - insbesonderen in der Außendarstellung - nicht auf eine Zuspitzung einer Realo-Links-Konfrontation hinauslaufen darf. Ideologien sollten auch innerhalb der Grünen überwunden werden. Daher ist die Schlußfolgerung des Papiers "diesen Zielen muß auch die Parteistruktur Rechnung tragen" richtig, wenngleich wohl nicht im Sinne der AutorInnen. Gemeinsam entwickelte Kompromisse müssen gemeinsam vertreten werden, optimalerweise sind in diesen (vorläufigen) Ergebnissen die unterschiedlichen Ansätze der verschiedenen Positionen identifizierbar, ohne zu Formelkompromissen (wie z.B. der PDS-Beschluss des Berliner Landesverbandes auf der LDK zu Beginn des Jahres) zu verkommen.

Wie die AutorInnen des Papiers plädiere ich für einen barrierefreien Diaolg der einzelnen Strömungen - wir alle können voneinander lernen. Der vielgescholtene KV Kreuzberg beispielsweise hat gezeigt, daß er es sehr wohl versteht, die Stimmung innerhalb des Bezirks zu erkennen, Themen für die Bevölkerung verständlich zu transportieren, glaubwürdig zu sein und somit (auch bei den Wahlen) erfolgreiche Politik zu gestalten – allein die Kreuzberger Positionen besitzen keinen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit. In Wilmersdorf (oder sonstwo) herrschen andere "Gesetze", werden andere Strategien bevorzugt, andere Themen diskutiert oder alternative Lösungsmodelle präferiert. Vielleicht aber hält – um beim Beipsiel zu bleiben - das "Kreuzberger Rezept" die ein- oder andere gute Idee parat, wie bündnisgrüne Politik in den Bezirken vermittelt werden kann...? Was für ein Glück der Partei, aus der Vielfalt schöpfen zu können!

 

Berlin, den 21. Oktober 1999