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Frithjof Schmidt / Frieder Otto Wolf

 

Dritter Weg für Deutschland - eine Alternative zum öko-sozialen Umbauprojekt?

Grünes Grundsatzprogramm und politische Perspektiven nach einem Jahr rot-grüner Regierung

 

Prolog

Vom Ende eines strategischen Projektes

 

Ein Jahr nach dem Regierungswechsel befinden sich Sozialdemokraten und Bündnisgrüne in programmatischen Grundsatzdiskussionen. Die Regierungspraxis war für die Parteimitglieder und die breite Öffentlichkeit gleichermaßen ernüchternd. Ein klares, gemeinsames Profil der Regierung war nicht erkennbar. Im Gegenteil - die ersten sechs Monate bis zum Beginn der militärischen Kosovo-Intervention standen überwiegend unter dem Motto "Schröder gegen Grüne, Lafontaine und den Koalitionsvertrag": Nicht mehr als 6-Pfennig-Benzinpreiserhöhung, Sozialbeitrag ohne Leistungsanspruch bei den 630-Mark-Jobs, Kehrtwende beim Verbot der atomaren Wiederaufarbeitung, das Schachern mit der FDP bei der Reform der Staatsbürgerschaft - und immer wieder das Wort vom "Nachbessern" und die Erklärung, daß der Koalitionsvertrag "keine Bibel" sei. Schröder machte zudem mehrfach deutlich, daß er sowohl eine große Koalition unter seiner Führung als auch eine sozialliberale kleine Koalition ohne Neuwahlen als strategische Option habe, die Bündnisgrünen aber keine Alternative zur SPD. Der abrupte Rücktritt von Oskar Lafontaine ließ schlagartig das ganze Ausmaß des Richtungskampfes und der Führungskrise in der SPD sichtbar werden. Es war plötzlich so, als gäbe es die strategische Konvergenz zwischen dem Berliner Grundsatzprogramm der SPD (bzw. seiner aktualisierten Leipziger Fassung vom April 1998) und dem Wahlprogramm der Bündnisgrünen nicht.

Die "Schröder-Hombach-Clement Connection" hatte schon während des ganzen Wahlkampfes 1998 versucht, programmatische Eckpunkte eines rot-grünen Reformprojektes auszuhöhlen oder zu konterkarieren. Diese Strategie wurde dann gegenüber dem stark durch Lafontaines Verhandlungsführung geprägten Ergebnis der Koalitionsverhandlungen fortgesetzt. Im Machtkampf in der SPD verband sich die personelle Konkurrenz eng mit einer Richtungsauseinandersetzung über eine "Sozialliberalisierung" und "Entökologisierung" der Programmatik. Mit der machtpolitischen Entscheidung, deren Symbol der Abgang Lafontaines war, hat sich die koalitionspolitische Basis für ein gemeinsames rot-grünes Reformprojekt mit weitergehendem gesellschaftspolitischen Gestaltungsanspruch de facto aufgelöst. Den Bündnisgrünen ist sozusagen der "geborene" strategische Partner abhanden gekommen. Die SPD-Linke, die noch glaubhaft für dieses Projekt eintritt, wurde politisch marginalisiert. Rot-grün als gesellschaftspolitisches Projekt war damit zu Ende, bevor es begonnen hatte. Die Koalition tritt in eine neue Entwicklungsphase ein, in der sie deutlich die Züge eines eher machtpolitisch motivierten Regierungsprojektes annimmt.

 

Die Entscheidung für die militärische Intervention im Kosovo hat diesen Einschnitt stark überlagert. Sie brachte nun die Bündnisgrünen in eine tiefe Krise, insbesondere als die Illusion eines schnellen Einlenkens durch Belgrad platzt und die Kriegführung zu einem strategischen Bombenkrieg gegen die ganze jugoslawische Infrastruktur ausgeweitet wurde. Rot-grün führte Krieg für Menschenrechte im Kosovo. Im Streit um diesen Regierungsanspruch zerlegt sich die bis dahin die Bundesparteitage dominierende Linke in mindesten drei Gruppierungen. Eine davon sichert auf dem Bielefelder Parteitag die knappe Mehrheit für eine kritische Unterstützung der Regierungspolitik.

Die Schlüsselfragen der Finanz-, Steuer- und Wirtschaftspolitik, die die neue Phase der Koalition besonders prägen, wurden in dieser Situation praktisch nicht diskutiert. Die Partei war weitgehend durch quälende Debatten über den Krieg gelähmt, die bisherigen innerparteilichen Fronten waren durcheinandergebracht.

 

Die neue strategische Unübersichtlichkeit

 

Die Veröffentlichung des Schröder/Blair Papiers für eine sozialliberale Umgestaltung der europäischen Sozialdemokratie kurz vor den Europawahlen und die Vorlage des Sparhaushaltes durch Hans Eichel markieren dann die theoretische und die praktische Seite einer strategischen Initiative zur Neudefinition des Koalitionsprogramms. Die grüne Parteirechte sieht dies als Steilvorlage für einen neuen Richtungsstreit in der eigenen Partei. 1998 waren sie mit ihren Positionen zur Haushalts-, Steuer- und Rentenpolitik deutlich in der Minderheit geblieben. Jetzt schließen sie sich so nahtlos an den von Eichel und Schröder postulierten "sozialliberalen Mainstream" an, daß sie in Gefahr geraten, politisch unkenntlich zu werden. Die Parteimitte (objektiv markiert von "gemäßigten" Realos und Teilen der sogenannten Regierungslinken) folgt murrend, aber überrumpelt, und der Linken bleibt schockiert die Sprache weg.

Dabei dreht sich der Konflikt nicht um die Notwendigkeit energischer Schritte für eine Haushaltskonsolidierung durch Schuldenabbau. Es geht darum, ob beim Sparen ein politischer Gestaltungsanspruch diskutiert und umgesetzt wird. Anders formuliert: Wer den Rasenmäher einsetzt, sollte einerseits kein Unkraut stehen lassen und andrerseits die rot-grünen Blumenbeete nicht kurzerhand mit abrasieren. Zum Beispiel hätte das leider bisher unterbliebene Aus für den Transrapid jährliche Einsparungen erbracht, durch die das Versprechen einer maßvollen Erhöhung des Entwicklungshilfeetats im Koalitionsvertrag (der jetzt um 700 Mio gekürzt wird) nicht hätte gebrochen werden müssen. Von den Möglichkeiten überproportionaler Einsparungen im Militärhaushalt etwa durch die überfällige Abschaffung der Wehrpflicht einmal ganz zu schweigen. Und wer über Einsparungen spricht sollte auch mögliche Erhöhungen der Einnahmeseite nicht tabuisieren. Eine solche Diskussion - geschweige denn entsprechende Vorstöße gegenüber der SPD, in der es diesbezüglich heftig gärt - ist in den bündnisgrünen Führungsgremien nicht in Gang gesetzt worden.

 

Kreatives Sparen und Gestalten ist nicht mit klassischer Austeritätspolitik zu verwechseln. Gerade um die Sachzwang-Argumente einer Austeritätspolitik bildet sich in der Koalition ein parteiübergreifender ideologischer Block der Verfechter des sozialliberalen "Dritten Weges" als Alternative zur bisherigen sozialökologischen Reformstrategie. Die FDP beansprucht aufgekratzt das Copyright für diese Politik. Die grüne Parteirechte sieht sich als Speerspitze der neuen Linie. SPD-Linke und grüne Linke sehen nun für ihre konvergente Programmatik keine machtpolitische Option mehr. Der PDS geht rot-grün als strategischer Bezugspunkt für ihre Lagerstrategie verloren. Und die Union taktiert plötzlich einerseits entlang klassischer Sozialstaatspolitik wie eine konservative Sozialdemokratie und stimmt andrerseits Schröder zu, zweifelt aber an seiner Durchsetzungsfähigkeit. Für die Wählerinnen und Wähler wird die Lage äußerst unübersichtlich. Das deutsche Parteiensystem befindet sich in einer dynamischen Umbruchphase. Sie wird mit Sicherheit noch mindestens bis zur nordrhein-westfälischen Landtagswahl im Mai 2000 andauern. Die Programmatik aller Parteien muß - bei Strafe des politischen Niedergangs - in dieser Situation neu begründet werden. Die strategischen Konsequenzen aus der veränderten Lage müssen nüchtern und ohne Tabus geprüft werden. Einige dieser Konsequenzen liegen vorab auf der Hand.

 

 

Von der privilegierten Partnerschaft zum ergebnisorientierten Handelsabschluß

 

Das Konzept der Bildung eines rot-grünen Reformblocks hat mit zwei Prämissen operiert: Zum einen mit der These der "geborenen" Partnerschaft durch programmatische Konvergenz zwischen SPD und Bündnisgrünen. Zum anderen mit der These, daß diese strategische Partnerschaft möglichst auf keiner politischen Ebene durch Bündnisse mit der CDU/CSU und zumindest bundespolitisch nicht durch Bündnisse mit FDP oder PDS desavouiert werden dürfe. Beide Prämissen sind obsolet geworden.

 

Nach der "Verschröderung" der Sozialdemokratie wäre jede privilegierte politische Bindung der Bündnisgrünen an die SPD eine strategische Dummheit.

 

Die Parteirechte betreibt mit ihrem Anpassungskurs an Schröders "Dritten Weg" eine Rechtsverschiebung des Konzeptes der "geborenen Partnerschaft", statt sich aus dieser Falle der Erpreßbarkeit zu befreien. Zugleich stellt sie damit die programmatische Eigenständigkeit der eigenen Partei zunehmend in Frage. Die Parteilinke wird nur dann eine Zukunft haben, wenn sie sich der neuen Lage stellt. Sie muß erstens ohne Dogmatismus die Eigenständigkeit grüner Politik als Ausdruck einer gesellschaftlichen Grundströmung neben Konservatismus, Sozialdemokratie und Liberalismus weiterentwickeln. Und sie muß zweitens rigoros gegen das selbst formulierte doppelte Tabu der Zusammenarbeit mit CDU und PDS vorgehen.

 

Die Maxime muß zukünftig heißen: verhandelt werden kann je nach Wahlergebnissen mit allen, abgeschlossen wird bei tragfähigen Ergebnissen mit dem, der die größten Zugeständnisse an grüne Ziele macht. Konkret gesagt: Es macht weder Sinn, etwa in Berlin eine rot-grüne Koalition unter Einschluß der PDS prinzipiell auszuschließen; noch macht es Sinn, etwa in NRW a priori einen Verzicht darauf anzukündigen, gegebenenfalls die arrogante Beton-SPD mit Hilfe einer nach Jahrzehnten der Opposition potentiell verhandlungsbereiten CDU auszumanövrieren. Die Gier kann bei offenen Kräfteverhältnissen ein mächtiger Verbündeter sein. Regierungsbeteiligung ist immer streng an den Ergebnissen zu messen. Und ohne Oppositionsfähigkeit gibt es keine Standfestigkeit in der Regierung.

 

Damit keine medienträchtigen Mißverständnisse aufkommen: Wir plädieren nicht dafür, das Bündnis 90 / Die Grünen von sich aus die rot-grüne Koalition auf Bundesebene oder in Nordrhein-Westfalen aufkündigen und nun strategisch in schwarz-grün machen. Das wäre ganz falsch. So simpel liegen die Dinge selbstverständlich nicht. Die gegenwärtige politische Verfaßtheit der Union bietet keine Grundlage für eine Koalitionsbildung. Wir machen uns keine Illusionen über die tiefe Verwurzelung der christdemokratischen Parteirechten im braunen Humus. Insbesondere solange diese Partei rassistische Stimmungen schürt, um sie für populistische Kampagnen wie beim Staatsbürgerschaftsrecht zu nutzen, verbietet sich so etwas. Je "tiefer" die politische Ebene jedoch angesiedelt ist, um so mehr ergeben sich taktische Spielräume zur Durchsetzung grüner Ziele. Und wir sehen auch die deutlichen Richtungskämpfe in der Union, deren Ausgang noch offen ist. Die etwa vom NRW-Parteichef Rüttgers angekündigte Veränderung der Programmatik wird ebenso genau zu analysieren sein, wie die programmatischen Veränderungen bei der SPD. Nur eines darf es nicht geben: daß die SPD auf allen Ebenen der Politik beliebig eine mögliche rot-grüne Mehrheit beiseite schiebt und statt dessen Mehrheiten mit der CDU, der FDP und der PDS bildet, während die Bündnisgrünen sich auf "Lagertreue" festlegen, so daß ausschließlich Konstellationen mit der SPD für sie denkbar sind. Aus dieser Falle der Erpreßbarkeit müssen wir heraus - und diese strategische Überlegung gehört in den Rahmen der Debatte über ein Grundsatzprogramm.

 

Gerade bei einer offenen Bündnisstrategie gewinnt aber ein klares programmatisches Profil an Bedeutung. Nur wenn die WählerInnen davon überzeugt sind, daß es den Bündnisgrünen um gesellschaftliche Veränderung und nicht schlicht um Posten geht, werden sie eine solche Politik unterstützen. Deshalb ist die Erarbeitung eines kompromißlosen Grundsatzprogramms eine Überlebensbedingung für Bündnis 90 / Die Grünen geworden. Die folgenden Arbeitsthesen sollen dazu einen Beitrag leisten.

 

Arbeitsthesen für ein grünes Profil 2000

 

Wir konzentrieren uns in diesen Arbeitsthesen bewußt auf die Grundprobleme einer Strategie des öko-sozialen Umbaus in der Auseinandersetzung mit den Vorschlägen für einen neuen gesellschaftlichen "Dritten Weg". Wichtige Dimensionen der Politik, die in dieser Diskussion nicht direkt angesprochen werden, wie Strategien in der Friedens- oder der Frauenpolitik, eine Strategie zur sozialen und ökologischen Angleichung von Ost- und Westdeutschland, konkrete Schritte beim Atomausstieg oder in der Rechtspolitik, haben wir hier weitgehend nicht berücksichtigt. Dies bleibt der weiteren Diskussion vorbehalten.

 

1. Der ökologisch-solidarische Gesellschaftsvertrag als strategisches Konzept

 

Nach dem Scheitern an der 5 Prozenthürde im Westen in den ersten gesamtdeutschen Wahlen 1990 wurde eine intensive Strategie- und Strukturdiskussion begonnen. Nach der Erarbeitung des Grundkonsenses und der Fusion mit dem Bündnis 90 ging es für die neue Partei Bündnis 90 / Die Grünen um eine Strategie für die Bundestagswahlen 1994 und für einen möglichen Regierungswechsel. Die Parteilinke vertrat das Konzept eines "ökologisch-solidarischen New Deal". Das Ziel war, die lebensweltlichen Interessen der modernen Mittelschichten mit den verteilungspolitischen Interessen der Arbeiterbewegung und der Ausgegrenzten der Zweidrittelgesellschaft so zu verknüpfen, daß daraus ein neuer, hegemoniefähiger Reformblock entstehen konnte. Dieses Konzept eines neuen "Gesellschaftsvertrages" war in der Partei mehrheitsfähig. Es korrespondierte mit entsprechenden Überlegungen des SPD-Grundsatzprogramms von 1989 und zeigte so neben der gesellschaftlichen Reformperspektive auch eine parlamentarische Machtperspektive auf.

Das Konzept wurde das Leitmotiv des bündnisgrünen Wahlprogramms von 1994. Darin heißt zur Strategie der Partei:

 

"Wir wollen einen ökologisch-solidarischen Gesellschaftsvertrag:

Immer mehr Menschen wissen, daß es nicht so weitergehen kann wie bisher. An die Stelle der Zweidrittelgesellschaft von oben muß ein Solidarzusammenhang von unten treten.

Wir wollen an der Gestaltung eines neuen ökologisch-solidarischen Gesellschaftsvertrages mitwirken, denn wir wissen: viele wohlhabendere Menschen wollen sich nicht auf ihrem Wohlstand ausruhen. Sie sind bereit, auf Mehrung materiellen Wohlstands zu verzichten, wenn sie gewiß sein können, daß die Mittel in soziale und ökologische Programme geleitet werden. Sie wissen, daß sich Lebensqualität nur durch die soziale und ökologische Umgestaltung der Gesellschaft verbessert und nur so die nachfolgenden Generationen eine Lebenschance haben. Die weniger Verdienenden wiederum, die in den Genuß der Umverteilung kommen, können sich um so mehr für eine ökologische Politik engagieren, als ihre eigenen materiellen Nöte gemindert werden.

Dieses Bündnis kann den Druck auf die erhöhen, die der sozialen Verpflichtung, die aus dem Eigentum erwächst, nicht gerecht werden, sich mit einem wirklichen Solidarbeitrag an der Jahrhundertaufgabe der gesellschaftlichen Erneuerung zu beteiligen. Diese gesellschaftliche Koalition kann die Grundlage für eine neue und tragfähige Koalition im Bundestag bilden."(S.3/4)

Und: "Wir sind entschieden dagegen, die finanziellen Lasten von Rezession und deutscher Vereinigung auf die sozial Benachteiligten des unteren Drittels der Gesellschaft abzuwälzen. Die materiellen Voraussetzungen für eine sozial gerechte Alternative sind gegeben. Es gibt insbesondere im Westen beim oberen Drittel und Teilen der Mittelschicht hohe Einkommen und Vermögen. Trotz Rezession nehmen die privaten Geldvermögen beim oberen Drittel der westdeutschen Gesellschaft beträchtlich zu.

Wir wollen die soziale Schieflage in der Finanz- und Verteilungspolitik überwinden. Deshalb streben wir einen gerechten Lastenausgleich an. Wer mehr hat, wird mehr schultern müssen. Solidarität statt Ellbogen: Das ist unser Grundsatz!"(S.8)

 

Wir müssen heute feststellen, daß es in der Zeit von 1994 bis 1998 nicht gelungen ist, dieses strategische Konzept eines neuen Gesellschaftsvertrages breit zu verankern und dafür eine gesellschaftliche Mobilisierung zu erreichen. Wir plädieren dafür, in den nächsten Monaten im Rahmen der Vorbereitungen für ein neues Grundsatzprogramm ausführlich über die Ursachen zu debattieren. Einige sollen hier schon angesprochen werden:

 

- Sowohl die Lage der neuen Mittelschichten als auch die Lage der traditionellen Industriearbeiterschaft hat sich in diesem Zeitraum dynamisch verändert. Der ökonomische Konkurrenzdruck ist schärfer geworden, die Gefahr der Arbeitslosigkeit und damit der gesellschaftlichen Ausgrenzung hat zugenommen. Die objektiven Solidarzusammenhänge in den Belegschaften werden ausgehöhlt. Der Unterschied zwischen den einzelnen Einkommensgruppen nimmt zu, weil eine Gruppe gut qualifizierter Elitebeschäftigter weitere Einkommenszuwächse erzielt, während die unteren Einkommen unter dem Druck der Massenarbeitslosigkeit sinken. Outsourcing, neue Selbständigkeit, prekäre Teilzeitjobs und Leiharbeitsverhältnisse führen zu einer neuen Arbeitsteilung, die die Gesellschaft immer deutlicher in Elitebeschäftigte und ZuarbeiterInnen spaltet. Neben die soziale Spaltung der gesamten Gesellschaft tritt zunehmend auch eine Abkoppelung ganzer Regionen, wie dies zum großen Teil in Ostdeutschland geschieht. Die Bereitschaft, wirtschaftliche Opfer für einen ökologisch-solidarischen Interessenausgleich zu bringen, geht unter solchen Bedingungen zurück.

- Eine ökologische Steuerreform und ein ökologisches Zukunftsinvestionsprogramm können nicht einfach als eine Art "passive Revolution" von oben politisch durchgesetzt werden. Die Zivilgesellschaft muß eine Konsumwende und ein anderes Wohlstandsmodell wollen und tragen. Diese Bereitschaft, das zeigt auch die Demoskopie eindeutig an, ist seit 1994 deutlich zurückgegangen. Das bündnisgrüne Wahlprogramm von 1998 hat hier eine Achillesferse. Es hat die Politik des ökologischen Umsteuerns stark auf die Einführung von Ökosteuern reduziert. Die Instrumente der Ordnungspolitik und der Industriepolitik sind darin klar in den Hintergrund getreten. Die Wirkungsmächtigkeit der notwendigen sozialen Ausgleichsmaßnahmen ist nicht deutlich genug erkennbar. Für die breite Öffentlichkeit entstand - unter tätiger Mithilfe von Pfarrer Hintzes Propagandatrupps - der Eindruck eines marktradikalen, neoliberalen Ökokonzeptes: Die wollen alles über den Markt, eben über Preiserhöhungen regeln. Die "kleinen Leute" sind ihnen dabei inzwischen egal.

Ein solcher Eindruck wirkt geradezu als Sprengsatz für das Konzept eines ökologisch-solidarischen Gesellschaftsvertrages.

 

- In der Sozialdemokratie ist vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Umbrüche ein mehrjähriger Richtungskampf entbrannt, der personell zwischen 1994 und 1998 von Scharping über Lafontaine zu Schröder geführt hat. Letzterer postuliert radikal das Primat industrieller über ökologische Interessen, stützt sich politisch klar auf die Großindustrie (der "Genosse der Bosse") und die neuen "Modernisierungsgewinner", d.h. die Kernbelegschaften der gut verdienden Facharbeiter und den wirtschaftlich erfolgreichen Teil der "neuen Selbständigen". Sein Konzept der "neuen Mitte" sieht sich eben nicht als Korrektiv zu den Entsolidarisierungstendenzen in der Gesellschaft, sondern nutzt diese Tendenzen als politischen Resonanzboden um den Sozialstaatsgedanken zumindest teilweise zur Disposition zu stellen.

 

Der soziale Zusammenhalt der Gesellschaft und die Bewahrung der Umwelt werden gerade unter den Bedingungen der globalen Märkte für Konsum, Produktion und Dienstleistungen nicht ohne einen ökologisch-solidarischen Interessensausgleich zu haben sein. Diese Grundannahme der bündnisgrünen Strategie eines ökologisch-solidarischen Gesellschaftsvertrages bleibt auch im Jahr 2000 richtig und formuliert damit ein überragendes gesellschaftliches Querschnittsinteresse. Allerdings wird unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen eines verschärften Verteilungskampfes ein derartiges Bündnis nur dann erreicht werden können, wenn die in den letzten vier Jahren deutlich gewordenen Defizite der Strategie gezielt beseitigt werden. Die neuen Entwicklungen, die mit den Stichworten von der Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft verbunden sind, stehen bei diesem Korrekturbedarf im Zentrum.

 

Es wird vor allem darum gehen, die Beschäftigten in den neuen Kommunikations- und Wissensbranchen, die neuen Selbständigen ebenso wie die in prekären Arbeitsverhältnissen, für eine ökologisch-solidarische gesellschaftspolitische Option zu gewinnen. Ohne ihre aktive Teilnahme wird die notwendige Erneuerung des Gesellschaftsvertrages nicht mehr zustande kommen. Ihr Interesse an einer Selbstbestimmung bei der Gestaltung der neuen Verhältnisse bindet sie keineswegs besonders eng an den neoliberalen Politikentwurf - auch wenn sie darin zunächst individuelle Chancen für sich selbst gesehen haben. Eine erneuerte grüne Strategie kann und muß sie politisch gewinnen.

 

Der "Dritte Weg"- eine Lösung für die Probleme des Übergangs zur "Dienstleistungsgesellschaft"?

 

In der Beschreibung der deutschen Gesellschaft als einer im Reformstau blockierten Industriegesellschaft sind sich heute alle politischen Richtungen einig. Warum das aber so ist, darauf wird in der Regel nur mit schillernden Großbegriffen geantwortet, deren Erklärungswert gering bleibt. Waren wir noch vor wenigen Jahren auf dem unaufhaltsamen Weg in die "Postmoderne", so entdeckt jetzt unter den Bedingungen der "Globalisierung" fast jede/r einen "Modernisierungsbedarf" ohne dessen Durchsetzung der Weg in die Dienstleistungsgesellschaft blockiert wäre. Schnell wird einerseits von einer "zweiten Moderne"(Giddens, Beck) gesprochen, zu deren Speerspitze sich dann "modernisierungskritische Modernisierer" ernennen. Der im ursprünglichen Sinn wachstumskritische Begriff der "Nachhaltigkeit" wird flink zum "nachhaltigen Wachstum" weiterentwickelt oder der schlichte Vorgang eines Sparprogramms zur Sanierung der Staatsschulden zur "nachhaltigen Haushaltspolitik" verklärt. Soviel rhetorische Akrobatik verweist auf das Überspielen ungelöster Probleme.

 

 

Wir meinen, daß die Diskussion über eine effiziente volkswirtschaftliche Strategie für den ökologisch-sozialen Umbau unter den Bedingungen der globalen Märkte für Konsum, Produktion und Dienstleistungen seit der Debatte über Reagonomics und Thatcherismus in einer Sackgasse steckt. Dieses angelsächsische Wirtschaftsmodell setzt als Antwort auf die Krise der traditionellen "fordistischen" Großindustrie darauf, den neuen Dienstleistungen und Wissensprodukten durch Deregulierung von Investitions-, Arbeits- und Sozialrecht sowie in der Folge durch drastische Lohnsenkungen zu ungehemmten Wachstum zu verhelfen. Der Sozialstaat westeuropäischen Typs wird in erster Linie als Wachstumshemmnis gesehen und soll gemeinsam mit dem "Fordismus", dem Nachkriegsmodell des kapitalistischen Aufschwungs, auf den Abfallhaufen der Geschichte. Da zumindest in den USA durch diese Politik das Erwerbsarbeitsvolumen deutlich angewachsen ist, sehen die VertreterInnen von Kapitalinteressen und beindruckte Teile der Öffentlichkeit dieses Modell politisch wieder in der Offensive.

 

Als Antwort darauf wurde von der Linken insbesondere in Westeuropa eine defensive Strategie der Verteidigung des "rheinischen Kapitalismus" (Michel Albert) in Verbindung mit dem Gedanken einer ökologischen Modernisierung der Volkswirtschaften entwickelt. Durch öffentliche Beschäftigungsmaßnahmen, eine beschäftigungsfördernde Steuer- und Geldpolitik, durch Arbeitszeitverkürzung und die gezielte Förderung einer "Umweltindustrie" soll die Arbeitslosigkeit zurückgedrängt und das System von Flächentarifverträgen zur Sicherung eines "Normalarbeitsverhältnisses" im globalen "Standortwettbewerb" verteidigt werden.

Die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen und die wachsende Durchlöcherung der Flächentarifverträge zeigt in Verbindung mit der wachsenden Staatsverschuldung seit geraumer Zeit, daß diese Strategie die weltweiten Wirkungen der neoliberalen Politik und die Dynamik in den Umwälzungen der Produktionsstrukturen unterschätzt hat.

 

 

 

Die Theoretiker des "Dritten Weges" ziehen aus dieser Bilanz die Konsequenz der "weichen" Kapitulation vor dem amerikanischen Weg. Sie wollen den ökonomischen Anschubeffekt eines Niedriglohnsektors für die Durchsetzung der neuen Dienstleistungen und Wissensprodukte erreichen, ohne die negativen sozialen (und möglichen politischen) Folgen in voller Härte zu vollziehen. Durch das Instrument der Kombilöhne soll diese soziale Abfederung erreicht werden. Das Dilemma dieser Strategie liegt auf der Hand: Zum einen erfordert sie ernsthaft angewendet eine starke Ausdehnung staatlicher Transferleistungen, die mit einer gleichzeitigen Rückführung der Staatsschulden langfristig kaum zu vereinbaren ist. Zum anderen wird ein solcher Niedriglohnsektor natürlich mittelfristig das alte Tarifgefüge zerbrechen und enormen Druck auf die Höhe der "Normallöhne" ausüben.

 

Die Kardinalfrage des gegenwärtigen gesellschaflichen Umbruchs ist dadurch also keineswegs gelöst: Wie kann der Weg in die Produktionsstrukturen der Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft gefördert und das Erwerbsarbeitsvolumen (mit der Folge eines erhöhten Steuer- und Sozialbeitragsaufkommens) vergrößert werden, ohne die Abwärtsspirale beim Lohnniveau in Gang zu setzen? Wie kann im Gegenteil diese Entwicklung mit größerer Verteilungsgerechtigkeit und d.h. insbesondere ohne Ausschluß von wachsenden Teilen der Bevölkerung von gesellschaftlicher Teilhabe erreicht werden?

 

Vom sozial-ökologischen zum kapital-ökologischen Gesellschaftsvertrag?

 

Auch die Strategievorschläge der grünen Parteirechten sind in diesen Zusammenhang politisch wenig plausibel: Im Wettstreit mit der FDP die soziale Argumentationslinie des "Dritten Weges" mit wirtschaftsliberalen Positionen nach rechts zu verschieben und die ökologische Frage in diesem Kontext primär als Problem der umweltorientierten Technikförderung zu behandeln, löst die beschriebenen Probleme nicht. Der strategische Wechsel von einer sozial-ökologischen Kraft zu einer kapital-ökologischen Abteilung des Liberalismus verengt die gesellschaftliche Basis grüner Politik gerade in Umbruchzeiten. So stellen die Wahlforscher Jürgen Falter und Kai Arzheimer in der Auswertung einer entsprechenden empirischen Untersuchung schlicht fest: "Eine kühne parteipolitische Neupositionierung im Sinne einer echten inhaltlichen Rechtsverschiebung der Partei verspricht wenig Erfolg, ja, sie ist mit so hohen Risiken behaftet, daß die Grünen daran zerbrechen oder zugrunde gehen könnten." (FAZ v. 31.8. 1999) Die damit untrennbar verbundene Reduzierung des politischen Profils der Partei auf eine wirtschaftsliberale, ökologische Bürgerrechtspartei führt schnell dazu, daß Ökologie als Luxusgut für Besserverdienende empfunden wird.

 

Wie weit dabei der inhaltliche Rückzug auf verwechselbare Floskeln, verbunden mit dem Aufbauen einer rückwärtsgewandten Frontstellung zwischen Staat und Markt gehen kann, hat der NRW-Bauminister Michael Vesper im Juni eindrucksvoll mit der Formulierung von sechs Thesen für ein "neues" grünes Profil gezeigt:

"- Wahrung der Bürger- und Menschenrechte, Schutz von Minderheiten;

- Weltoffenheit und Toleranz gegenüber Andersdenkenden;

- eine grundsätzliche Skepsis gegenüber einem allmächtigen und umfassenden Staat;

- die Orientierung an einer ökologisch-marktwirtschaftlichen und nicht staatlich geplanten

Wirtschaftspolitik;

- eine Bildungsoffensive auf allen Ebenen

- Vorbehalte gegenüber wirtschaftlichen und gesellschaftliche Großorganisationen und

Monopolen.

Ein solches Profil, durch im besten Sinne liberale Traditionen geprägt, ist im Parteienspektrum in Deutschland jenseits der Grünen nicht vertreten. Wir müssen es in Zukunft noch stärker entwickeln." (Weitwinkel. StadtBlatt v.17.6.1999)

 

Eintreten für Menschenrechte und Bildung, Weltoffenheit und Toleranz, Skepsis und Vorbehalte gegen Großorganisationen - ein unverwechselbares Profil? Über die Banalität dieses Profilkonzeptes wäre achselzuckend hinwegzugehen, wäre da nicht noch das abstrakte Ausspielen von ökologisch-marktwirtschaftlicher gegen staatlich geplante Wirtschaftspolitik. Hier wird eine Schlüsselfrage der gesellschaftliche Debatte so falsch gestellt, daß das entscheidende Problem verdrängt wird:

Eine volkswirtschaftlichen Strategie zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit und Durchsetzung eines ökologischen Strukturwandels muß heute Vorschläge für eine qualitativ neue Verzahnung von Arbeits- und Wirtschaftsförderungspolitik machen. Nicht die Entscheidung zwischen Staatsintervention und Marktkonformität (wie Milton Friedmann das seit Jahrzehnten predigt) steht an, sondern ihre intelligente Verknüpfung.

 

Wir plädieren deshalb dafür, im Rahmen der Vorbereitungen für das neue Grundsatzprogramm, ins Zentrum der Debatten über die Zukunft der Erwerbsarbeit und die Wege des ökologischen Umbaus die Auseinandersetzung um die Entwicklung einer ökologischen Industriepolitik mit produktbezogenen Förderstrategien zu rücken.

 

Die bisherige programmatische Diskussion der Partei bietet hierfür einen Ausgangspunkt. Im Wahlprogramm von 1998 heißt es:

"Die Massenarbeitslosigkeit kann mit den herkömmlichen Methoden der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik nicht überwunden werden. Weder sind die ökonomischen Wachstumsraten zu erreichen, die notwendig wären, um das Rationalisierungspotential der modernen Technik wettzumachen, noch sind sie ökologisch vertretbar. Vollbeschäftigung muß neu definiert werden. Erwerbsbiographien werden künftig noch vielfältiger und individueller werden. Die Vorstellung vom männlichen "Normalarbeitnehmer" – 49 Jahre 40 Stunden die Woche im Betrieb – taugt nicht mehr als gesellschaftliches Leitbild.

Vollbeschäftigung bedeutet für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Eröffnung existenzsichernder Teilhabe an der Erwerbsarbeit für alle Arbeitssuchenden, Frauen wie Männer. Die Zukunft liegt in einer neuen Verteilungsgerechtigkeit, um die verschiedenen Formen der Erwerbsarbeit und andere produktive Tätigkeiten wie die Familien- und Pflegearbeit und Phasen der Qualifizierung rechtlich und finanziell abzusichern, miteinander zu verzahnen und die Übergänge zu erleichtern."

 

Allerdings bleibt das Wahlprogramm völlig unkonkret, was die Strategie einer Verzahnung der Arbeitsmarkt- mit einer Wirtschaftsförderungs- und Industriepolitik betrifft. In diesem konzeptionellen Defizit liegt neben der verengten Ökosteuerkonzeption eine weitere Achillesferse grüner Politik. Deshalb gerät unsere Partei und insbesondere die Bundestagsfraktion in der Auseinandersetzung mit der Strategie des sozialliberalen "Dritten Weges" völlig ins Schwimmen. Die einen sehen sich flugs als Speerspitze dieser Politik, andere sehen eine Abwehr- und Blockadepolitik als letzte Möglichkeit eine soziale Orientierung zu bewahren - nur ein eigenes neues Konzept wird bisher nicht entwickelt.

 

Unsere Arbeitsthese für solch ein alternatives Wirtschaftskonzept beruht auf einer gezielten Förderung von regional verankerten Unternehmen, durch die Effekte einer ökologischen Umorientierung der Produktion mit dauerhafter Beschäftigungswirkung verbunden werden können. Dabei setzen wir ganz besonders auf die beträchtlichen Potentiale des Handwerks und auch auf neue Formen der Bereitstellung öffentlicher Angebote.

 

Die gegenwärtige Arbeitsmarktpolitik ist durch die Massenarbeitslosigkeit völlig überfordert. Sie setzt vor allem an der "Einzelförderung" der betroffenen Erwerbslosen an. Die bisherige Wirtschaftsförderungspolitik setzt immer noch zentral auf die Entwicklung der traditionellen Großunternehmen. Wir schlagen dagegen eine neue Politik der Wirtschaftsförderung vor, die die unternehmerische Innovation in sozial und ökologisch erwünschten Bereichen wirksam und dauerhaft stützt. Ihre Finanzierung kann in hohem Umfang durch eine Umwidmung bereitstehender Mittel erreicht werden.

 

Die erfolgreiche Wiedereingliederung von Erwerbslosen in den Arbeitsmarkt durch AB-Maßnahmen wird angesichts der wirtschaftlichen Lage in vielen Regionen in immer größerem Umfang zur Illusion. Erhebliche Teile der Mittel für solche Maßnahmen könnten im Rahmen eines anderen Konzeptes zur Beschäftigungsförderung sinnvoller eingesetzt werden. Ein beträchtlicher Teil der Mittel der Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe "Förderung der regionalen Infrastruktur" geht heute in "Betonprojekte" nach dem wirtschaftlichen Entwicklungsmuster der fünfziger und sechziger Jahre. Auch das dafür ausgegebene Geld kann sinnvoller für eine neue Strategie der Unternehmensförderung eingesetzt werden: handwerkliche Betriebe könnten - im Rahmen von Energiesparprogrammen - eine umfangreiche kostengünstige Wärmedämmung von Wohnungen vornehmen; Dienstleistungsagenturen würden in die Lage versetzt, schwarz arbeitenden oder "prekär" beschäftigten Menschen sozial gesicherte Arbeitsplätze anzubieten, indem sie personenbezogene Dienstleistungen (etwa in der Kranken- und Altenpflege) dauerhaft bezahlen und zu sozial gestaffelten Preisen dort anbieten, wo sie am dringendsten gebraucht, aber bisher nicht bezahlt werden können. Öffentliche Unternehmen (Beschäftigungsgesellschaften, Arbeitskräftepools) könnten regionale Umstrukturierungsprozesse sozalverträglich begleiten. Zugleich sind sie in der Lage, für ein expandierendes Handwerk oder für Dienstleistungsunternehmen qualifizierte Arbeitskräfte "vorzuhalten". Kommunale und regionale Körperschaften können als "Nachfrager" von politisch gewollten neuen Produkten (etwa Solardächer) und Dienstleistungen (z.B. Schuldenberatung) auftreten, um ihnen so am Markt zum Durchbruch zu verhelfen. Das Grundprinzip ist immer das Gleiche: Während der Markt entscheidet, welche konkreten Leistungen in welchem Umfang gewollt werden, und wer sie am besten bereitstellen kann, sorgt die Politik dafür, daß bestimmte ökologisch, kulturell oder regionalökonomisch gewollte Leistungen auch am Markt angeboten werden.

 

Eine solche, dezentral angelegte staatliche Strategie der Unternehmensförderung und Nachfragestimulierung unterscheidet sich grundlegend von traditioneller keynesianischer Globalsteuerung durch die Zentralregierung. Marktmechanismen sind hier von vornherein integraler Bestandteil der Strategie und gewährleisten die Feinsteuerung.

 

Besondere Bedeutung haben in diesem Zusammenhang auch Konzepte eines öffentlich geförderten Beschäftigungsbereiches und ihre Verbindung mit einer alternativen Mittelstandspolitik, die sich besonders mit der überragenden Beschäftigungswirkung des Handwerkes auseinandersetzen müssen. Die Schaffung eines "dritten" wirtschaftlichen Sektors neben dem privatwirtschaftlichen und dem staatlichen ist hier das strategische Stichwort: kommunalwirtschaftliche Infrastrukturarbeiten, Stadt- und Landschaftsreparaturarbeiten, soziale und kulturelle Arbeit muß in einem breiten Ansatz von Arbeits- und Gewerbeförderung von links integriert werden. Wir brauchen eine ökologisch orientierte Industriepolitik: Wirtschaftsförderung, ökologische Konditionierung der Produktion und Durchsetzung von Arbeitszeitverkürzung. Das ökologische Umbauprogramm muß in seiner Präsentation vom Verdacht der marktradikalen, asozialen Preistreiberei befreit werden, die Ökosteuer muß als Instrument der Umweltpolitik auf einen angemessenen Platz neben Ordnungs- und Industriepolitik verwiesen werden. Nur so besteht die Chance, Mehrheiten von unten für einen ökologisch-solidarischen Gesellschaftsvertrag zu erkämpfen.

 

2. Politische Ökologie heute: Das "Prinzip Verantwortung" auf dem Markt durchsetzen

 

Die starke Ausrichtung der bündnisgrünen Strategiediskussion in der Umweltpolitik auf das Instrument der Ökosteuer hat zu einer politischen Schieflage in der Bewertung des Verhältnisses von Markt zu staatlicher Konditionierungs- und Sanktionspolitik geführt. Immer häufiger wird bei der Darstellung des bündnisgrünen Programms der Anschein erweckt, im Zeitalter einer "Effizienzrevolution" durch den "digitalen Kapitalismus" könne sich Umweltpolitik darauf konzentrieren, durch entsprechende Rahmenregelungen sicherzustellen, daß "die Preise die Wahrheit sagen". Der strategische Grundkonflikt der politischen Ökologie zwischen den Anforderungen einer nachhaltigen Entwicklung und dem Stellenwert ökonomischen Wachstums für die gesellschaftliche Entwicklung wird aus diesem Blickwinkel fast unsichtbar. Mit der Zauberformel vom "nachhaltigen Wachstum" durch Ökotechnik wird er scheinbar in Luft aufgelöst. Hier bahnt sich die Entwicklung einer politischen Lebenslüge an, der energisch widersprochen werden muß und hier besteht zugleich ein Grundsatzkonflikt mit der heute vorherrschen Modernisierungsideologie.

 

Ein pauschales politisches Setzen auf ökonomisches Wachstum als wichtigster Triebfeder für gesellschaftliche Entwicklung eint international und in Deutschland die meisten politischen Kräfte - bisher bis auf die Grünen. Politische Ökologie nahm die deutlich werdende Endlichkeit der Ressourcen als Ausgangspunkt für eine Kritik der kapitalistischen und sozialistischen Wachstumsgläubigkeit. Die Grünen als gesellschaftliche Bewegung haben hier ihre spezifische Differenz zu den anderen wichtigen geistig-politischen Strömungen entwickelt.

Allerdings wurde in den grünen Programmdebatten schnell klar, daß es auch nicht damit getan ist, einfach im Sinne eines pauschalen Verzichtsappells Unabhängigkeit vom Wachstum zu fordern. Die Leitidee für die weitere Programmdiskussion war ein Konzept des selektiven Wachsens und Schrumpfens von Wirtschaftssektoren, je nach ihrer ökologischen Verträglichkeit. Dafür war eine Entkoppelung der Debatte vom herkömmlichen volkswirtschaftlichen Wachstumsverständnis als abstrakter statistischer Kategorie wichtig.

Es ist sinnvoll, in diesem Zusammenhang einen strategischen Vorstoß der grünen Bundestagsfraktion aus den achtziger Jahren in Erinnerung zu rufen. Mit dem Entwurf für ein ökologisches Stabilitätsgesetz sollte der statistische, rein quantitativ am Bruttosozialprodukt orientierten Wachstumsbegriff ausgemustert und durch qualitative Kriterien ersetzt werden.

Völlig klar war in diesem Zusammenhang, daß der Markt und der Einsatz marktkonformer Instrumente allein eine zukunftsfähige Entwicklung nicht erzwingen kann. Allerdings zeichnete sich die grüne Programmatik bis 1990 durch eine völlige Unterschätzung marktkonformer politischer Steuerungselemente und hier insbesondere der Steuerpolitik aus. Im Verlauf der daher zentralen Ökosteuer-Diskussion ist aber nun sozusagen das Pendel viel zu stark in die andere Richtung ausgeschlagen, ebenso wie der Gegenentwurf zur Wachstumskategorie der klassischen volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung nicht weiter verfolgt wurde.

 

Es bleibt richtig: Die Ökosteuer ist ein Instrument zur Stimulierung, Stabilisierung und Aufrechterhaltung einer ökologisch befriedigenden Entwicklung in bestimmten Sektoren. Aber für ein rasches und deutliches Umsteuern reicht sie allein nicht aus:

Entweder ist sie so hoch, daß sie Verhaltensänderungen erzwingt, dann ist sie notwendigerweise zugleich massiv unsozial - indem sie ein solches Verhalten zum Privileg einer kleinen Schicht von Reichen macht. Das ist für die Entwicklung ökologischen Bewußtseins bei den Menschen, die durch solche Maßnahmen "ausgeschlossen" werden, mehr als kontraproduktiv. Die notwendige gesellschaftliche Akzeptanz kann so nicht erreicht werden. Es gibt eben nicht den einfach zu bedienenden zentralen Hebel für die Veränderung der gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsrichtung. Vielmehr wird das bewußte und aktive Mittun der großen Mehrheit der Menschen bei der Umsetzung ökologischer Veränderungen für jede wirksame Umbaustrategie dringend gebraucht.

 

Oder die Ökosteuer bleibt in einer Größenordnung, wo sie kaum wirksame Verhaltensänderungen auslösen kann (und womöglich noch durch Preisschwankungen auf internationalen Märkten konterkariert wird). In dieser Situation interessiert vor allem die Frage, wo das eingenommene Geld bleibt: Verschwindet es in den großen Staats- und Sozialkassen, oder wird es als "seed money" an strategischen Punkten des notwendigen Strukturwandels eingesetzt. Hierbleibt die von vielen Linken vorgebrachte Kritik an der Vorstellung gültig, eine Senkung der Sozialabgaben in der Höhe von maximal 1% könne unmöglich als eine derartige "Weichenstellungsinvestition" betrachtet werden. 100.000-Dächer- oder Null-Energie-Haus-Programme wären hier deutlich wirksamere Geldanlagen.

 

Die Marktteilnehmer in die Verantwortung nehmen - in der Umwelthaftung von den USA lernen

 

Wir plädieren für eine Umweltpolitik, die auf die Eigenverantwortung der Anbieter von Produkten und Dienstleistungen setzt. Aufgrund der Dezentralisierung unternehmerischer Entscheidungen in der gegenwärtigen Wirtschaftsweise auch der "global players" sind hochdifferenzierte und "dynamische" Strukturen moderner Wertschöpfung entstanden. Diese entziehen sich einem zentralisierten staatlichen Zugriff. Ohne ein Eingehen auf diese veränderten Voraussetzungen kann niemand hoffen, umweltpolitische Ziele wirksam durchsetzen zu können. Insofern ist es in der Tat erforderlich, die marktförmigen Instrumente der Umweltpolitik stärker in den Vordergrund zu rücken. Ohne eine wirksame ordnungspolitische Flankierung bleibt dies eine aber halbe Sache: Damit die "Eigenverantwortung" nicht bloß ein schön klingender Begriff bleibt, muß ihr auch eine wirksame Haftung der verantwortlichen Unternehmen entsprechen. Dies ist in den USA der Fall, wo die Unternehmen einer gesetzlichen "Gefährdungshaftung" auch für im Moment der Entscheidung noch unbekannte Gefahren unterworfen werden. Auch die Beweislast ist so zu regeln, daß die Betroffenen eine faire Chance haben. Weiterhin müssen die Voraussetzungen für eine tatsächliche Verbraucherentscheidung am Markt geschaffen werden: umfassende Kennzeichnungspflicht, Zugang zu Produktinformationen, Regelungen zur Sicherstellung der Wahrhaftigkeit von Werbung.

 

Aber auch im Rahmen einer solchen marktbezogenen Umweltpolitik kann sich demokratische Politik nicht aus diesem Politikfeld zurückziehen. Selbstverpflichtungen der Unternehmen etwa sind auf klare Zielvorgaben zu beziehen (z.B. die CO2-Reduktionsziele von Rio), die innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens zu erreichen sind. Dabei kann die Wahl geeigneter Mittel zunächst, etwa für 5 Jahre, dem kreativen Wettbewerb der Unternehmen anvertraut werden. Sollte sich aber bei der Überprüfung der Ergebnisse herausstellen, daß auf diesem Wege die vorgegebenen Ziele nicht erreicht werden, dann muß es verbindlichere politische Vorgaben geben: So können etwa diejenigen Verfahren und Instrumente flächendeckend vorgeschrieben werden, die sich als die wirksamsten erwiesen haben.

 

Neue Wege in der Zulassungspolitik beschreiten

 

Entsprechende Verfahren einer demokratischen und wettbewerblichen Öffnung des Verwaltungshandelns lassen sich auch für andere Bereiche der Umweltpolitik finden. Schweden etwa hat innovative Instrumente für die Zulassung von chemischen Produkten entwickelt, in denen etwa zunächst im Wettbewerb ausgeschrieben wird, welches am wenigsten toxische Produkt eine bestimmte Aufgebe lösen kann. Oder Norwegen prüft in einer breiten Konsultation aller betroffenen gesellschaftlichen Interessengruppen, ob es überhaupt einen relevanten Bedarf für ein bestimmtes Produkt gibt, bevor es das Zulassungsverfahren eröffnet. Nur durch eine solche wirksame Einbettung der im engeren Sinne marktförmigen Instrumente kann verhindert werden, daß sie ins Leere laufen oder für Marktvermachtungsstrategien von privaten Monopolunternehmen umfunktioniert werden.

 

Die ökologischen Kosten unverkürzt berücksichtigen

 

Eine solche marktbezogene Umweltpolitik, die nicht auf ihren demokratischen Gestaltungsanspruch verzichtet, muß vor allem auf die umfassende Einbeziehung verdeckter ökologischer Kosten setzen. Dabei geht es sowohl um den im bisherigen "Lebenslauf" eines Produktes angesammelten "ökologischer Rucksack" an Stoff- und Energieverbrauch, als auch um indirekte, aber meßbare Folgekosten. Das ist allerdings keineswegs nur eine Frage der Preisgestaltung. Notwendig ist ebenso eine Politik der Stärkung der KonsumentInnenrechte. Das gilt beispielsweise auch für das Gesundheitswesen, dessen ökonomische und soziale Bedeutung zweifellos weiter zunehmen wird. Warum sollen die Krankenkassen sich nicht die durch Rauchen oder durch Amalgam-Zahnfüllungen verursachten erhöhten Krankheitskosten von den verantwortlichen ProduzentInnen durch entsprechende privatrechtliche Klagen zurückholen? Warum sollen die unter den zunehmenden Allergien leidenden Menschen nicht die jedenfalls zu wichtigen Teilen dafür verantwortlichen umweltschädlichen Industrien auf Schadenersatz verklagen können? Obrigkeitsstaatliche Pseudoregulierungen dienen in diesem Kontext letztlich nur dazu, die Unternehmen aus ihrer Verantwortung zu entlassen. Eine radikale Hinwendung zu Marktprozessen unter klarer juristischer Verantwortlichkeit würde für eine sehr viel klarere Situation sorgen und könnte innerhalb der Industrie die Kräfte stärken, die auch im eigenen längerfristigen Interesse zu einem erheblich verbesserten Umweltverhalten bereit sind.

 

Der Schutz der ökologischen "Allmende"

 

Wichtige Probleme, die die Voraussetzungen menschlichen Markthandelns betreffen, übersteigen den Horizont einer ihrer Grenzen bewußten marktbezogenen Umweltpolitik: Hierher gehört die gesamte Problematik des nicht "bepreisbaren" und daher auch nicht handelbaren "gemeinsamen Erbes der Menschheit", wie einige globale ökologische Systeme (das Klima, die Ozonschicht der Atmosphäre), die Biodiversität insgesamt oder bestimmte ökologische Systemen (z.B. primäre Wälder, Wattenmeere, Korallenriffs, Tiefseeräume, Antarctica). In dieser Hinsicht geht es darum, für dieses Menschheitserbe grenzübergreifend ein von öffentlichen Institutionen garantierten Bestandsschutz durchzusetzen. Daraus ergeben sich sowohl allgemeine stoffliche und energetische Vorgaben an Produktion und Konsum, um die "Tragefähigkeit" (carrying capacity) dieser System nicht zu überlasten, als auch spezifische Maßnahmen zum Schutz vor zerstörerischen Eingriffen und Nutzungen. Beides schließt die Notwendigkeit ein, der privaten Aneignung und damit den ökonomischen Märkten Grenzen zu setzen, indem etwa die juristischen Kategorien des "gemeinsamen Erbes der Menschheit" und der "ökologischen Allmende" für diese Bereiche spezifiziert und verbindlich gemacht werden.

 

3. Lastenausgleich und Steuerentlastung als Schlüsselprobleme einer finanzpolitischen Sanierungsstrategie

 

Das Schuldendesaster der Kohl-Ära hat zwei wesentliche Quellen. Zum einen wurden die ökonomischen Probleme der deutschen Einheit grotesk heruntergespielt um durch das Versprechen blühender "Landschaften" Wahlen zu gewinnen. Die Kosten der Transferleistungen für die Integration der "neuen Länder" wurden weitestgehend durch Kreditaufnahme finanziert. Zugleich wurde im Sinne der neoliberalen Theorie steuerpolitisch eine Umverteilung der Lasten durchgeführt: Während die Belastungen durch Lohnsteuer und Sozialabgaben stetig stiegen, wurden die Empfänger von Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen systematisch entlastet. Durch die Koppelung der Renten an die Nettolohnentwicklung wurde die Masse der RentnerInnen in diese Umverteilungsspirale mit einbezogen.

Das so politisch herbeigeführte Absinken der Steuereinnahmen aus hohen Einkommen, das Absinken der Lohnsteuereinnahmen durch die wachsende Arbeitslosigkeit und die steigenden Zins- und Tilgungsausgaben für die Kredite führten den Staat in eine Rekordverschuldungskrise

Der programmatische Ansatz, mit dem Bündnis 90 / Die Grünen dieser Entwicklung im Wahlprogramm 1998 begegnen wollen ist völlig richtig. Im Zentrum eines mittelfristigen Konsolidierungsprogramms für die Staatsfinanzen stehen drei steuerpolitische Säulen:

 

Eine Reform der Einkommensteuer, die die unteren Einkommen entlastet (Anhebung der Steuerfreistellung des Existenzminimums, niedrige Eingangssteuersätze) und die durch den radikalen Abbau von Steuervergünstigungen erreichen soll, daß die nur noch fiktiv existierenden Steuersätze für hohe Einkommen wieder zu real zu zahlenden Steuersätzen werden.

 

Eine Reform der Vermögensbesteuerung, die vor allem dadurch größere Verteilungsgerechtigkeit erreichen will, daß Vermögen, das vererbt oder verschenkt wird, nach seinem tatsächlichen Ertragswert besteuert wird. Zusätzlich soll die von der Kohlregierung abgeschaffte Vermögenssteuer für Vermögen von über 400.000 DM in Höhe von 1 Prozent wieder eingeführt werden.

 

Eine Vermögensabgabe zur Finanzierung der Kosten der deutschen Einheit - befristet auf 15 Jahre - für Vermögen über zwei Millionen DM (nach Abzug von Privatvermögen) nach einem progressiven Tarif bis zu 2,5 %.

 

Wir plädieren nachdrücklich dafür, an diesen drei Säulen festzuhalten. Ein befristeter und zweckgebundener Lastenausgleich und eine gezielte Steuerentlastung müssen die beiden Maximen bündnisgrüner Finanzpolitik sein.

 

Insbesondere der strategische Gedanke des Lastenausgleichs für die Kosten der deutschen Einheit ist in der Praxis der rot-grünen Koalition immer weiter verdrängt worden. Dabei ist klar, das eine Vermögensabgabe und eine Erbschaftsbesteuerung nach tatsächlichem Ertragswert einen substantiellen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung durch Erhöhung der Einnahmen leisten kann, während die Wiedereinführung der Vermögenssteuer eher eine symbolische Maßnahme der Gerechtigkeit darstellt, da die zu erwartenden realen Einnahmen nach Abzug der Verwaltungskosten eher geringe Bedeutung haben. In diesem Zusammenhang muß die ideologisch aufgeladene Diskussion über die Staatsquote energisch bekämpft werden.

 

Die Staatsverschuldung ist ein zentrales gesellschaftliches Problem, das es zu lösen gilt. Eine hohe Staatsquote steht damit nur indirekt im Zusammenhang. Es ist falsch, nicht über sinnvolle Erhöhungen der Staatseinnahmen zu reden, nur weil sich die Staatsquote erhöht. Das gilt auch für die Besteuerung grenzüberschreitenden Kapitalverkehrs (Tobin-Steuer). Eine hohe Staatsquote ist weder prinzipiell gut oder schlecht. Es geht schlicht darum, die Ertragskraft des Steuersystems wiederherzustellen. Nur so kann der Staat wieder ausreichende Handlungsfähigkeit zurückgewinnen. Hier muß sich haushaltspolitischer Pragmatismus gegen ideologische Denkschablonen von rechts durchsetzen.

 

Ebenso energisch, wie für eine Erhöhung der Einnahmeseite plädieren wir für eine deutliche Senkung aller Einkommensteuersätze - wenn die Steuervergünstigungen radikal abgebaut werden. Es ist von strategischer Bedeutung, daß die Bündnisgrünen glaubhaft machen, daß sie es mit der Steuerentlastung und der Steuervereinfachung wirklich ernst meinen. Nur dann kann Akzeptanz für gezielte, zweckgebundene Maßnahmen des finanzpolitischen Lastenausgleich und des ökologischen Umsteuerns erreicht werden. Es geht ja gerade auch darum, möglichst viele BezieherInnen hoher Einkommen in das Bündnis für einen neuen ökologisch-solidarischen Gesellschaftsvertrag aktiv miteinzubeziehen. Deshalb ist es auch politisch falsch, eine nominelle Senkung der Spitzensteuersätze unter allen Umständen abzulehnen. Einmal ganz abgesehen von den möglichen verfassungspolitischen Problemen, die bei Spitzensteuersätzen von um die 50% für Instrumente wie die Vermögensabgabe entstehen können: die Botschaft der gezielten Steuerentlastung im Rahmen eines ökologisch-solidarischen Bündnisses zur Weiterentwicklung der deutschen Gesellschaft muß hier pragmatisch auch gegen Denkschablonen von links durchgesetzt werden.

 

Es gibt für uns keinen Zweifel, daß die hohe Staatsverschuldung drastisch reduziert werden muß, wenn die Handlungsfähigkeit der Politik für gesellschaftliche Reformen erhalten bzw. erweitert werden soll. Das es sich dabei um Einsparungen in Höhe von zweistelligen Milliardenbeträgen handeln muß, liegt auf der Hand. Aber gerade ein Sparhaushalt muß politischen Gestaltungswillen deutlich werden lassen. Eine schlichte Strategie der pauschalen Kürzungen, die selektive Erhöhungen und überproportionale Streichungen nach politischer Entscheidung fast ausschließt, ist dabei kontraproduktiv.

Wir brauchen eine Korrektur der bisherigen rot-grünen Sanierungsstrategie für den Staatshaushalt 2001.

 

  1. Wider die Wagenburgmentalität: Den Sozialstaat der "Dienstleistungsgesellschaft" neu gestalten

 

Die Entwicklung der "Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft" hat neue soziale Interessenlagen hervorgebracht, die eine Neugestaltung des Sozialstaates dringend erfordern. Die gegenwärtige Debatte um den "Umbau des Sozialstaates" wird - auch innerhalb der Bündnisgrünen - ohne ausreichende Berücksichtigung der gesellschaftlichen Umbrüche geführt, den die globalen Märkte für Konsum, Produktion und Dienstleistungen hervorgerufen haben.

Einerseits wird die "Solidargemeinschaft" beschworen und verteidigt, als ob sie als solche einen Garanten für soziale Gerechtigkeit und ein demokratisches Gegengewicht zur wachsenden ökonomischen Macht der global agierenden Unternehmen bildete. Dabei wird nicht reflektiert, in welchem Maße die Sozialversicherungen selber vom Funktionieren dieser globalisierten Wirtschaft abhängig sind. Außerdem wird oft nicht einmal mehr zur Kenntnis genommen, in welchem Maße diese Versicherungssysteme aufgrund ihrer Ausschließungsregeln selbst zur sozialen Spaltung beitragen - wovon jede prekär beschäftigte Frau, jeder Jugendliche, dessen Einstieg ins Erwerbsleben schief gegangen ist oder auch jeder Langzeitarbeitslose ein Lied singen können. Jede "Lösungsstrategie", die sich darauf beschränkt, die Sozialversicherungsinteressen einer dahinschwindenden überwiegend männlichen "Arbeiteraristokratie" zu verteidigen, wird daher an diesen neuen Interessenlagen scheitern.

Andererseits verführt die Erfahrung der langjährigen Börsenhausse offenbar immer mehr Menschen dazu, den Propagandisten einer vorrangig privaten Daseinsvorsorge auf den Leim zu gehen. Von individueller Freiheit und Selbstbestimmung für Individuen kann keine Rede mehr sein, wenn die soziale Sicherung zur Geisel des "volatilen" Weltfinanzsystems gemacht wird. Die Bedeutung der amerikanischen Pensionsfonds für Spekulationswellen auf den internationalen Finanzmärkten sollte hier ein warnendes Beispiel für eine gesellschaftliche Fehlentwicklung von einem System der sozialen Sicherung hin zu einem marktabhängigen Unsicherheitssystem sein.

 

 

Der Streit geht nicht um den Finanzierungsmix

 

Die Debatte sollte nicht darum gehen, ob es in Zukunft eine Mischung geeigneter Formen der privaten Vorsorge, der öffentlichen Versicherung und der öffentlichen Versorgung gegenüber den wesentlichen Lebensrisiken geben soll. Das steht bei vernünftiger Betrachtung außer Zweifel. Die grundlegende Frage, die in der Debatte um die Zukunft des Sozialstaates zu klären sein wird, ist die nach dem künftigen Verhältnis der allgemeinen Risiken der BürgerInnen zu den spezifischen Risiken der abhängig Arbeitenden. Es geht darum, unter den veränderten Verhältnissen ein akzeptables Maß an sozialer Sicherheit und realem Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe mit einer Pluralität von Lebensmodellen neu zu verbinden. Und es geht darum, durch Einbeziehung der unternehmerischen Wertschöpfung in die Finanzierungsgrundlage wieder für langfristige Stabilität des Finanzrahmens zu sorgen.

 

Erwerbsarbeit bleibt zentral, wird aber anders

 

Mittelfristig stellt sich die Aufgabe, auch als Funktionsvoraussetzung der Sozialsysteme, wieder allen Menschen, Frauen und Männern, den Zugang zu Erwerbsarbeit freizumachen. Es wird notwendig sein, angesichts der begrenzten Wirksamkeit einer makroökonomischen Beschäftigungspolitik zunehmend Gewicht auf die Umverteilung der Arbeit zu legen. Dabei sollten bürgerrechtliche Ansätze zur Reduzierung des Arbeitsangebotes in den Vordergrund treten - Sonntagsjahre (Sabbaticals), Elternurlaub, gesicherter Zugang zu Aus-, Fort- und Weiterbildungsangeboten. Diese Instrumente werden zugleich zum Abbau der Massenerwerbslosigkeit beitragen.

 

Die einschneidenden Veränderungen in der Arbeitswelt im Übergang zur "Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft" führen zu einer Gewichtsverlagerung in den sozialen Sicherungssystemen: von Mechanismen der Vorsorge gegenüber den spezifischen Risiken der abhängigen Arbeit auf die Vorsorge gegenüber allgemeinen Risiken aller BürgerInnen. Prekär Beschäftigte, Selbständige und SchwarzarbeiterInnen werden in wachsendem Umfang auf eine sozialpolitische Daseinsvorsorge angewiesen sein. Zugleich werden auch bei den in abhängiger Arbeit Beschäftigten zunehmend Lebensabschnitte auftreten, in denen ihre soziale Sicherung nicht an ihre Situation als ArbeitnehmerInnen anknüpfen kann.

 

Nicht private Vorsorge, sondern öffentliche Daseinsvorsorge ist verstärkt gefordert

 

Mit diesen Veränderungen von Inhalt und Stellenwert der Erwerbsarbeit rückt aber nicht automatisch die Frage nach der privaten Eigeninitiative in den Vordergrund. Die große Mehrheit der BürgerInnen wird weiterhin durch die schiere Größe der abzudeckenden Risiken in ihren Möglichkeiten zur privaten Vorsorge überfordert bleiben. Dagegen werden dringend unbürokratische öffentliche Sicherungsmechanismen für allgemeine Lebensrisiken gebraucht, zu denen neben Elternschaft, Krankheit und Alter zunehmend auch ökonomische Tatbestände wie Dequalifizierung und Einkommensarmut gehören.

 

 

 

 

In dieser Debatte über die menschenwürdigen Lebensbedingungen, die in einem akzeptablen Gemeinwesen zu garantieren sind, geht es vor allem um eine menschenwürdige Grundsicherung für alle, die sie benötigen. Diese Garantie darf nicht von besonderen Anforderungen an "Wohlverhalten" gebunden werden.

Damit ist jedoch die Problematik einer öffentlichen Politik der Daseinsvorsorge noch keineswegs erschöpft: Sie muß auch dafür einstehen, daß etwa chronisch kranken oder behinderten Menschen hinreichende Hilfen gewährt werden, oder auch gut verdienenden "Prekären", die außerhalb der traditionellen Sozialversicherungssysteme bleiben, ein öffentliches Sicherungsangebot für ihre Vorsorgebedürfnisse bereitstellen.

 

Es gibt keinen Grund für die Annahme, die klassischen Sozialversicherungssysteme würden im Rahmen einer solchen Politik funktionslos werden. Ebenso wenig gilt dies für ergänzende betriebliche oder tarifvertragliche Absicherungsstrategien. Allerdings würden diese sich wieder auf ihre Kernfunktion konzentrieren können: die Absicherung spezifischer Risiken der abhängigen Arbeit. Aus der anderen Seite gilt dies ebenso für tatsächlich freiwillige private Vorsorgebemühungen. Mit ihrem Verschwinden ist nicht zu rechnen. Es gibt auch keinen Grund, dies anzustreben. Nur die Begründung für eine öffentliche Förderung derartiger Aufwendungen - etwa durch Steuerfreistellung der gezahlten Beiträge - entfiele in einem solchen Rahmen.

 

Für eine rationale Rentendebatte

 

Die öffentliche Diskussion über die Zukunft des Sozialstaates hat sich in letzter Zeit auf die Auseinandersetzung um die Gewährleistung einer solidarischen Alterssicherung konzentriert. Grund hierfür ist die sich abzeichnende fundamentale Finanzierungskrise der Rentenversicherung. Die demographische Tendenz, daß immer mehr RentnerInnen immer weniger potentiellen BeitragszahlerInnen gegenüberstehen, die seit über 15 Jahren anhaltende Massenerwerbslosigkeit und die seit 1990 praktizierte massive Finanzierung versicherungsfremder gesellschaftlicher Aufgaben aus der Rentenkasse lassen es fraglich erscheinen, ob sich die heute erworbenen Rentenansprüche in Zukunft noch werden realisieren lassen.

 

In dieser Debatte haben sich drei unterschiedliche Argumentationslinien herausgebildet: Die einen propagieren ein unbeirrtes Festhalten an der Umlagefinanzierung im Sinne einer beitragsbezogenen Versicherungsrendite mit Solidaritätsabschlag. Die anderen betrachten diesen Versicherungsbeitrag schlicht als private Kapitalanlage und monieren die relativ geringe Rendite. Deshalb plädieren sie für die Umstellung auf eine rein private Vorsorge im Rahmen kapitalstockgesicherter Rentenfonds. Beide Positionen wenden sich gegen die ansteigende Steuerfinanzierung der Renten. Sie wollen allenfalls noch die Abdeckung der sog. versicherungsfremden Leistungen als läßliche Systemsünde durchlassen.

Eine dritte Argumentationslinie plädiert für einen pragmatischen Mix von drei Elementen: Steuerfinanzierung einer Grundrente, Umlagefinanzierung einer beitragsbezogenen Sozialversicherungsrente und Zusatzrente aufgrund privater (oder betrieblicher) Vorsorge. Dem ist u.E. nur die Frage nach der angemessenen Gewichtung dieser Elemente entgegenzuhalten, die in der Diskussion zumeist offen gelassen wird.

 

 

 

Für uns besteht kein Zweifel, daß ein solcher Mix sinnvoll ist und sich durchsetzen wird. Allerdings sehen wir eine wichtige gesellschaftspolitische Steuerungsaufgabe in eben dieser Gewichtung der drei Elemente. Sie wird letztlich über den Charakter des Rentensystems entscheiden. Wir wenden uns dabei ausdrücklich gegen die Entstehung eines dominant kapitalmarktabhängigen Systems zur Alterssicherung in Deutschland, das einige derjenigen im Schilde zu führen scheinen, die heute für einen Finanzierungs-Mix plädieren.

 

Öffentliche Garantien der gesellschaftlichen Solidarität bleiben notwendig

 

Ein wichtiger Ausdruck gesellschaftlicher Solidarität ist die Höhe der staatlich finanzierten Sockelleistungen und ihr Anteil an den gesamten Systemleistungen. Damit Altersarmut gebannt werden kann, muß deren Niveau und damit auch deren Anteil relativ hoch angesetzt werden. Zusammen mit dem beitragsfinanzierten Anteil der Sozialversicherung muß die steuerfinanzierte Rente jedenfalls im Leistungssystem deutlich gegenüber der privaten Vorsorge dominieren. Ein allzu hoher Anteil der privaten Zusatzrente in diesem Mix würde zu zwei gefährlichen Effekten führen: Zum einen würde dadurch das Grundprinzip der Solidarität für den Bereich der Alterssicherung relativiert und die Abhängigkeit des Systems der privaten Altersvorsorge macht es in der Tendenz zu einer abhängigen Variablen der internationalen Aktien- und Kapitalmärkte, auf denen Versicherungsgesellschaften und private Pensionsfonds zu Erwirtschaftung ihrer Rendite agieren. Von Anlagesicherheit kann mittelfristig keine Rede mehr sein, wenn ein Zig-Billionen-Kapital - wie es zur "Absicherung" der Renten weltweit gebraucht würde - zusätzlich auf die Weltanlagemärkte drängten. Das könnte zwar kurzfristig noch einmal die Kurse hochtreiben, würde diese aber zugleich jedes sinnvolle Verhältnis zum wirklichen Ertrag der Papiere verlieren lassen - und damit die Unsicherheit aller Finanzanlagen noch einmal entscheidend steigern.

 

5. Eine neue " Werte-Debatte" wird den Bündnisgrünen nutzen

 

Alle gesellschaftlichen Grundströmungen stehen gegenwärtig vor der Herausforderung, sich in einer veränderten historischen Lage neu zu verorten. Die CDU/CSU fordert eine gesellschaftliche "Werte-Debatte" ein. Die Bündnisgrünen sind gut dafür gerüstet, die Auseinandersetzung mit diesen Strömungen, den Liberalen, den Sozialdemokraten, den Konservativen und der neuen Rechten, offensiv und überzeugend zu führen.

In dem "Grundkonsens", der der Vereinigung von Bündnis 90 und den Grünen zugrunde lag, hatten beide Parteien festgestellt: "Uns eint der Wille nach mehr Demokratie und sozialer Gerechtigkeit, das Gebot einer umfassenden Verwirklichung der Menschenrechte, das Engagement für Frieden und Abrüstung, Gleichstellung von Frauen und Männern, Schutz von Minderheiten, Bewahrung der Natur sowie umweltverträgliches Wirtschaften und Zusammenleben."

Auch für diese "Grundwerte" kann das allgemeine Gebot, "alles zu prüfen und zu behalten, was gut ist", nicht außer Kraft gesetzt werden. Vor dem Hintergrund unserer programmatischen Überlegungen können wir aber feststellen, daß wir keinerlei Anlaß haben, von diesen grundlegenden Orientierungen abzurücken: Es kann und wird den Bündnisgrünen gelingen, ihre politischen Projekte vollkommen zeitgenössisch neu zu formulieren, um diesen Visionen politische Kraft zu geben. Unser Anspruch, das Menschheitsprojekt der "gleichen Freiheit für alle" so zu verwirklichen, daß sich zugleich die Ziele der ökologisch-solidarischen Nachhaltigkeit, einer gewaltfreien Friedensordnung und einer herrschaftsfreien Geschlechterdemokratie durchsetzen lassen, hat nichts von seiner Aktualität verloren.

 

6. Für eine ehrliche Strategiedebatte - Schluß mit der Linie "Augen zu und durch"!

 

Bei Bündnis 90/Die Grünen hat der politische Selbstbetrug bei vielen in den Führungsgremien Hochkonjunktur. Fast autosuggestiv wird bei jeder demoskopischen Hiobsbotschaft und bei jeder neuen Wahlschlappe wiederholt: Wir haben nur ein Vermittlungs- und ein Strukturproblem. Die Linie von Partei- und Regierung ist super. Nur die Menschen verstehen uns noch nicht richtig. Die einen betonen dann ein personales Führungsproblem. Doppelspitzen und Trennung von Amt und Mandat im Parteivorstand seien Schuld an einem unklaren Profil. Und hinter mehr oder weniger vorgehaltener Hand wird lamentiert, daß Frauenprivilegien große Männer behindern. Die anderen sprechen von Kommunikationsstrategien, an denen es fehle und planen neue Stellen für eine bessere, koordinierte Öffentlichkeitsarbeit. Wären erst einmal Vorstände und Ministerien darstellerisch unter einen Hut gebracht, dann würde unsere Akzeptanz besser.

 

Wir halten diese Sichtweise für oberflächlich oder für eine schlechte Durchhaltetaktik. Wir plädieren dafür, offen auszusprechen, daß unser strategisches Konzept für einen rot-grünen Reformblock aufgrund konzeptioneller Fehler nicht aufgegangen ist und überarbeitet werden muß. Wir wollen im Rahmen der Debatte über ein neues Grundsatzprogramm offen darüber sprechen, warum wir den Gedanken eines ökologisch-solidarischen Gesellschaftsvertrages, den wir seit 1993/94 propagieren, nur sehr schwach in der Gesellschaft verankern konnten. Nicht Doppelspitzen und Kommunikationsstrategien sind dafür verantwortlich. Die marktradikale Schieflage im Verhältnis unserer Ökosteuerkonzeption zu ökologischer Ordnungspolitik, unsere fast nicht vorhandene ökologische Industrie- und Wirtschaftspolitik, das politische Schillern in der Wachstumsfrage, unsere De-facto-Aufgabe der Strategie des Lastenausgleichs und der Einnahmenerhöhung in der Finanzpolitik, die geringe Akzeptanz in breiten Teilen der Partei für die Einbeziehung von höheren Einkommen in eine Strategie der gezielten Steuerentlastung aus bündnispolitischen Gründen, die kaum erkennbaren Gestaltungsansprüche im Rahmen der Sanierungsstrategie für den Bundeshaushalt; die finanzpolitische Aufgabe unserer Grundüberzeugung der Nord-Süd-Solidarität, daß die entwicklungspolitischen Mittel kontinuierlich erhöht werden müssen und - last not least - das Hineinschlittern in den Kosovo-Krieg und seine programmatischen Konsequenzen, das sind die Punkte die in den kommenden Monaten diskutiert und geklärt werden müssen - bundes- oder landespolitische Koalitionsdisziplin hin oder her.

 

Wir halten die Zeitgeistattitüde, in der Gesellschaft nicht mehr rechts und links zu sehen, für unsinnig und glauben, daß jede Partei aus der Spannung zwischen ihren Flügeln lebt. Aber wir wollen zu einem Klima in Bündnis 90 / Die Grünen beitragen, in dem nicht rein machttaktisch begründete Strömungs- oder Parteidisziplin eine offene und ehrliche Grundsatzdebatte verhindert. Das kann sich unsere Partei nämlich bei Strafe ihres Niedergangs überhaupt nicht mehr leisten.

 

 

 

Wir wollen eine Strategiediskussion ohne Tabus, in der das Argument und nicht die politische Funktion oder die Flügelverortung zählt. Dazu gehört auch der Mut, über strategische Konsequenzen aus der "Verschröderung" der SPD und den Erfahrungen mit der Obstruktionspolitik der Beton-Sozis à la Beck und Clement offen zu sprechen. Denkverbote darf es dabei nicht geben, denn wir brauchen Wege aus der koalitionspolitischen Eindimensionalität und Erpreßbarkeitsfalle in der uns nicht nur Kanzler Schröder sieht. Grün ist der Wechsel.

 

 

Nachbemerkung: Wir danken insbesondere Willi Brüggen, Friedrich Heilmann, Dietmar Lingemann, Claudia Roth, Lisa Paus, Elisabeth Schroedter, Barbara Steffens und Christian Ströbele, die in Sitzungen des erweiterten HerausgeberInnen-Kreises der Zeitschrift "Andere Zeiten" mit uns diese Thesen anregend und kritisch diskutiert haben. Ohne sie wäre dieses Thesenpapier so nicht zustande gekommen. Aber selbstverständlich tragen nur wir für die konkreten Positionen als Autoren die Verantwortung. Wir wollten bewußt kein weiteres "Unterschriftenpapier" vorlegen, denn es geht jetzt bei der Erarbeitung des neuen Grundsatzprogramms um die pointierte Entwicklung von Ideen und Argumenten und nicht um Gruppenbildung und Resolutionsrhetorik.

 

Berlin, im September 1999

Frithjof Schmidt und Frieder Otto Wolf