Esoterik und die Linke

Seit Mitte der 80er Jahre haben sich - aus den USA kommend - esoterische, das heisst vor allem spirituelle und biologistische Stroemungen im deutschsprachigen Raum stark ausgebreitet; seit den 90er Jahren nehmen sie auch im ehemaligen Ostblock stark zu. Wurde esoterisches Gedankengut anfangs von einzelnen Gruppierungen getragen, drang es nach und nach in alle gesellschaftlichen Bereiche ein: in Politik und Wissenschaft, in die Oekologiebewegung, ins Management, in die Grosskirchen, ins Alltagsdenken und auch in linke Wissenschaft. Zu den Esoterik-Hauptinhalten gehoeren: Religion/Glaube/Spiritualitaet - also der Bezug auf eine hoehere kosmische Ordnung, die die sogenannte "Ganzheitlichkeit" oder "Einheit" darstellt.

Diese soll in der Gesellschaft verwirklicht werden. Biologistisches Denken - das sich berufen auf die "Autoritaet der Natur", um daraus Regeln und Ordnungen gesellschaftlicher Kommunikation herzustellen. Das heisst, biologistisches Denken, genauso wie Glauben und Spiritualitaet werden oftmals als Wissenschaft ausgeben. Das Verkuenden eines neuen Zeitalters, das einerseits durch eine neue kosmische Konstellation, andererseits durch einen Bewusstseinswandel der Menschen anbrechen wird. Frauen bzw. das weibliche Prinzip werden zum welt- und menschheitsrettenden Prinzip
erhoben. Die jahrhundertelange Unterdrueckung der Frauen wird in ihr Gegenteil gekehrt - jedoch mehr auf der ideologischen Ebene denn auf der real-materiellen.

Die Esoterik-Bewegung stellt ein Massenphaenomen dar, das in seiner gesellschaftlichen Bedeutung durchaus mit der 68er-Bewegung zu vergleichen ist. Was jedoch erstaunt, ist, dass die Linke, insbesondere linke kritische Wissenschaft, dieses Phaenomen in ihren Analysen weitgehend ausgespart hat. Grosse Teile der Linken sind spaetestens nach den
gesellschaftlichen Umwaelzungen von 1989 nahtlos zur Esoterik uebergewechselt, und der Grossteil der Restlinken hat sie rechts liegen gelassen. Der Blick buergerlicher und linker Esoterik-KritikerInnen konzentriert sich - in dualistischem Gut-Boese-Denken - auf die Rechtslastigkeit der Esoterik (zum Beispiel im Artikel "Rechter Wahn - Braune Esoterik auf dem Vormarsch" in der ZEIT vom 28.5.1998). Inwieweit Esoterik-Ideologie in Teilen der Linken verbreitet ist, inwieweit und warum Esoterik im Denken eines Grossteils "ehrenwerter" - keineswegs rechtsextrem eingestellter - Menschen verhaftet ist, wird kaum analysiert.

Die wenigen kritischen Arbeiten, die es zur Esoterik gibt, rekrutieren sich meist aus folgenden:
- Solchen, die die "falsche" Esoterik oder den rechten Rand der Esoterik kritisieren, um der "richtigen, der guten" zum Durchbruch zu verhelfen. Dazu gehoeren sowohl buergerliche als auch linke bzw. ehemals linke WissenschaftlerInnen, und allen voran die kirchlichen Esoterik- KritikerInnen. Letztere waren in den 80er Jahren die ersten, die ueber die
Esoterik-Bewegung publizierten. Die Kritik der offiziellen Kirchen ergibt sich logisch aus ihrem Konkurrenzverhaeltnis zur Esoterik-Bewegung.
- Solchen Arbeiten, die sich auf das Aufspueren von personellen und organisatorischen Verquickungen zwischen Esoterik und Rechtsextremismus beschraenken. Denunziation steht hier meist im Vordergrund. Oftmals wird auch der Faschismusvorwurf erhoben. Der Faschismusvorwurf an die Esoterik ist jedoch das Resultat eines vereinfachenden Denkens: Da sich Geschichte nicht wiederholt, kann sich auch "der Faschismus" nicht wiederholen. Egal, ob Joerg Haider oder die Esoterik: das Gefaehrliche ist weniger das faschistische an ihnen, sondern vor allem das mit dem historischen Faschismus Unvergleichbare - was aber keineswegs ihre Problematik mindert. - Oder Arbeiten, in denen - auch von Linken - Esoterik in erster Linie zum Gegenstand moralischer Abqualifikation gemacht wird. Sie stellen der
"boesen" Esoterik die "gute" Demokratie gegenueber. Sie stimmen ein in das allgemeine Klagen ueber Politikverdrossenheit und gesellschaftliche Regression.

Eingehende Analyse der esoterischen Inhalte, der gesellschaftlichen Ursachen und Zusammenhaenge interessiert wenig.

Esoterik ist rationale Irrationalitaet ...

... in Zeiten irrationaler Rationalitaet und neben Populismus, Nationalismus und Fundmentalismus eine Folge der krisenhaften Verfasstheit unserer gesellschaftlichen Verhaeltnisse, das heisst Folge unserer marktwirtschaftlichen und rechtsstaatlichen Demokratie, und nicht - wie von Linken meist postuliert - ihr "boeses" Gegenteil. Esoterik ist
vielmehr die Auswirkung der Verhaeltnisse, in denen wir leben. Nicht Irrationalismus, rechtes Gedankengut oder der rechte Rand brechen in die gesellschaftliche Mitte ein, sie sind auch nicht Angriffe auf Vernunft, Freiheit und Aufklaerung - wie oft bedauert wird -, sondern vielmehr eine Folge der Verhaeltnisse in eben dieser gesellschaftlichen Mitte. Diese
Verhaeltnisse sind wiederum das Resultat der Aufklaerung. (1)

In gewisser Hinsicht ist Esoterik die blosse Fortsetzung der Verhaeltnisse im Kapitalismus: Am deutlichsten ist das an zwei Merkmalen erkennbar: erstens am esoterischen Paradigma "Jede und jeder sei fuer all ihr Glueck und sein Leid selbst verantwortlich; ja, alles, was dir geschieht, du alleine bist deines Glueckes oder Unglueckes Schmied." Dieses Paradigma wird auch oft mit jemandes Karma begruendet. Hier wird ganz einfach die allgemeine Individualisierungstendenz in unserer Gesellschaft auf die Spitze getrieben.

Ein zweiter Punkt, der das Verhaftet-sein in den gegebenen Verhaeltnissen aufzeigt, ist der Konsum- bzw. Geschaeftsaspekt der Esoterik. Esoterik ist neben einer bestimmten Weltanschauung vor allem ein Konsumartikel: Der
Markt an Buechern, Zeitschriften, Seminaren, Therapien und Reisen boomt nach wie vor. Fuer viele ist Esoterik in erster Linie eine Einkommensquelle.

Wenn ich also konstatiere, Esoterik sei eine Auswirkung der kapitalistischen Verhaeltnisse, heisst das aber nicht nur, dass sie eine Fortsetzung dieser Verhaeltnisse ist, sondern sie ist auch insofern eine Auswirkung, indem sie durchaus auch eine Form der Gesellschaftskritik darstellt. Die vielbejammerte Politikverdrossenheit kann auch emanzipatorischen Gehalt haben. Eine der Ursachen fuer die Esoterik- Bewegung ist der Versuch, aus den menschenzerstoerenden Zwaengen auszubrechen. Dieser Versuch ist jedoch zum Scheitern verurteilt, weil er in eine bzw. in zwei falsche Richtungen laeuft: Einerseits zurueck in voraufklaererische Zeiten, in denen laut Esoterik die Welt noch in Ordnung, naemlich in goettlicher Ordnung war. Anderseits gibt es auch Tendenzen in der Esoterik, die einfach die kapitalistische Entwicklung fortschreiben und verstaerken. Etwa indem behauptet wird, eine atomare Zerstoerung der Erde diene der schnelleren Verwirklichung des Neuen Zeitalters, oder die Gentechnik diene der Schaffung des Neuen Menschen,
oder die erhoehte Strahlung aufgrund des Ozonlochs diene des besseren geistigen Austauschs mit anderen Zivilisationen.Die aktuelle Interpretation von Cyborgs als neues revolutionaeres Subjekt durch Linke ist letzterer Tendenz nicht unaehnlich.

Zusammengefasst: Esoterische Ideologien sind rationale Irrationalitaet, also eine Reaktion auf die irrationale Rationalitaet unserer Verhaeltnisse. (2) Ausloesendes Moment moegen durchaus kapitalismuskritische Gefuehle sein, jedoch gibt es in der Esoterik keinerlei fundierte Kapitalismusanalyse, und die Kritik, die vorhanden ist, wird sogleich zu einem Zurueck vor die Aufklaerung. Letztlich geht es um eine einzige grosse Sinn- und Trostveranstaltung, die aus einfachen
Welterklaerungsmustern und Rechtfertigungen von Unmenschlichkeit und Leid besteht. Das Aushalten von Widerspruechen, sowie offensive Gesellschaftskritik, die die kapitalistische Systemueberwindung zum Ziel hat, ist nicht Gegenstand der Esoterik. Ganz im Gegenteil: es handelt sich um hilflose kurzschluessige Ueberreaktionen angesichts der grossen Unsicherheiten und Verunsicherungen, denen jedes Individuum heute ausgesetzt ist.

Esoterischer Inhalte in linker Wissenschaft

Die grosse Sinnkrise, die die Entstehung der Esoterik-Bewegung bedingt, hat auch vor Linken nicht halt gemacht. Unter dem "kritischen Potential" - also unter Linken, Gruenen, SozialdemokratInnen, Alternativen, linken WissenschaftlerInnen etc. - haben sich esoterische Inhalte genauso etabliert - bzw. Inhalte, die durch die Esoterik-Bewegung (wieder) en
vogue wurden - wie in allen anderen Gesellschaftsbereichen auch. Auf den spirituellen Oekofeminismus, der ein umfassendes Ideologem darstellt, das bis weit in die linke Frauenbewegung hineinreicht bzw. zu dem viele linke Frauen uebergewechselt sind, sei an dieser Stelle nicht eingegangen. (Vgl. dazu meinen Buchbeitrag "Fetisch Weiblichkeit. Ueber die diffizilen Zusammenhaenge zwischen spirituellem Oekofeminismus und rechter Ideologie" (3)).

Um nur ein besonders anschauliches unter zahlreichen Beispielen zu nennen, das die im Folgenden beschriebenen esoterischen Inhalte in linker Wissenschaft verdeutlicht, sei auf das "Natursymposium" der Oesterreichischen Gesellschaft fuer Politikwissenschaft (14.-15.11.1997 in Wien) hingewiesen. Ein Arbeitskreis war ausschliesslich esoterischen Inhalten gewidmet, in anderen waren sie ebenfalls stark vertreten. Renommierte PolitologInnen, die sich durchaus als links, kritisch und emanzipatorisch verstehen, huldigen der Esoterik in den hoechsten Toenen. (4)

Spiritualitaet/Religion

Neuerdings verteidigen viele Linke Religion vehement, oder sie entdecken Spiritualitaet als (ihren) neuen Lebenssinn. Spiritualitaet ist in den letzten Jahren zu einem weitverbreiteten Allheilmittel avanciert. Sie fehlt in keinem Bereich - sei es bezueglich des Geschlechterverhaeltnisses und der Sexualitaet, sei es bezueglich Oekologie, sei es im Management,
oder sei es in der Wissenschaft generell.
Religion und Spiritualitaet wird von vielen Linken ontologisch betrachtet, das heisst als etwas, das es immer geben wird. Anstatt das Beduerfnis nach Religion und Spiritualitaet zu analysieren, setzen sie ihre Notwendigkeit voraus. Analyse des neuen religioesen und spirituellen Booms ist in ihren Augen eine generelles Warnen vor Religion. Das heisst, sie fuehlen die Religion in ihrer Daseinsberechtigung bedroht. Religion und Spiritualitaet sind jedoch in unserer Welt, in der die
oekonomischen "verschleierten und verkehrten Verhaeltnisse" (Marx) auch vor dem Bewusstsein nicht halt machen, genauso ein notwendiges Mittel zur Alltagsbewaeltigung wie der von Marx sogenannte "Gesunde Menschenverstand"
oder das "Alltagsbewusstsein". Religion und Spiritualitaet sind kein angeborenes Beduerfnis, wie immer mehr Linke behaupten.

Religion und Spiritualitaet gehoeren genauso wie auch Politik und Recht zu den fetischisierten Kommunikationsformen, weil direktes Miteinander-in- Beziehung-treten - ohne Angst, ohne Konkurrenz, ohne Charaktermasken - noch nicht moeglich ist. (5)

Subjektcharakter der Natur

Viele linke WissenschaftlerInnen vertreten nunmehr die einst typische These der Esoterik, die Erde sei ein lebendiges Wesen. Man stuetzt sich auf die Gaia-Hypothese von James Lovelock, auf die autopoietischen Ansaetze von Maturana und Varela oder auf die Theorie von den morphogenetischen Feldern von Rupert Shaldrake.

Der Natur wird Subjektcharakter zugeschrieben. Wozu dient eine "Verlebendigung" der Erde? Aus den einschlaegigen Arbeiten geht unumwunden hervor, dass die These von der lebendigen Natur - sei sie nun eine Tatsache oder nur eine Annahme oder eine Metapher - dazu diene, um die bedrohte Natur als schuetzenswert zu erachten. So verwundert es auch nicht, wenn der Erde oftmals menschliche Zuege - also die Faehigkeit des Denkens und des Leidens - zugeschrieben werden. Um drohende oekologische Katastrophen zu vermeiden, muesse die sogenannte "natuerliche Ordnung" befolgt werden.

Mit der These vom Subjektcharakter der Natur begibt man sich auf gefaehrliches Glatteis. Sie birgt alle Gefahren des Biologismus. Wenn die Natur oder der Kosmos vermeintliche Handlungsanleitungen liefern, kann in diese - vom Menschen klarerweise - alles und jedes hineininterpretiert werden. Natur ist jedoch frei von Denken. Sie ist das, "was aus sich entsteht und in sich vergeht." "Sie bleibt bei sich. Sie hat kein Ziel, das nicht auch Anfang ist." Der Mensch ist ueber die Natur hinausgegegangen. Er ist "Teil und Gegenteil der Natur". (6)

Es gibt keinen Grund, die prinzipielle Unterscheidung zwischen Natur, Pflanzen und Tieren einerseits und dem Menschen und der Gesellschaft andererseits aufzugeben. Dasselbe gilt auch fuer Maschinen: Cyborgs, Tieren und Pflanzen die gleichen Rechte und dieselbe Subjekthaftigkeit wie dem Menschen zuzuschreiben, halte ich schlicht fuer Humbug. Noch
groesserer Humbug ist jedoch, zu glauben, damit menschenwuerdige, herrschaftsfreie, egalitaere Verhaeltnisse schaffen zu koennen.

Die Ueberwindung des Kapitalismus mit all seinen mensch- und naturausbeutenden und -zerstoererischen Auswirkungen ist und bleibt eine Frage der Produktionsverhaeltnisse, eine Frage des Wertverhaeltnisses, eine Frage des Fetischismus der Warenform.

Die fehlende Liebe

Eine ganz neue Entwicklung ist das Benennen "der fehlenden Liebe" als Hauptursache fuer unmenschliche Verhaeltnisse. Hierbei werden Folgen mit Ursachen verwechselt. Etwas, das nur in menschgerechten Verhaeltnissen gedeihen kann - etwa Liebe -, wird als Hoffnung, besser gesagt, als Zaubermittel gegen alles Boese in der Welt gehandelt - aehnlich wie auch Spiritualitaet oder das weibliche Prinzip. Zitate wie folgende zeugen schlicht von magischem Denken und von der Art und Weise, wie gesellschaftliche Veraenderungsstrategien gedacht werden: Mittels Liebe werden "Ziele wie Macht, Reichtum, Konsum oder Ablenkung an Bedeutung verlieren". Mittels Liebe und dem Sich-Verbundenfuehlen mit der Natur werden "die Kategorien und die Welt des Herrschaftsdenkens verlassen werden." Der Papst koennte es nicht besser formulieren.

Ganzheitlichkeit

Eine der weitverbreitetsten Esoterik-Ideologien - auch in linker Wissenschaft - ist die der Ganzheitlichkeit. Die Widersprueche, dem das moderne Individuum ausgesetzt ist (7), sollen "ganzheitlich" geheilt werden. Der "Fragmentierung" des modernen Individuums, der Spezialisierung in der Wissenschaft, den symptom-zentrierten Methoden in der Medizin soll "Ganzheitlichkeit" entgegen gesetzt werden. Ganzheitlichkeit wird als noch umfassenderes Allheilmittel/Zaubermittel gehandelt als Spiritualitaet oder Weiblichkeit. Ein neues ganzheitliches Weltbild soll das alte
mechanistische-rationale, das die Ursache alles Boesen in der Welt darstellt, abloesen und so Sinn und Heil stiften.
Nach philosophischen und historischen Hintergruenden fragt niemand. Das wuerde die gesuchte Harmonie stoeren. Mit eisener Konsequenz wird auf jegliches Definieren, Herleiten oder Hinterfragen dieses Begriffs verzichtet. Er wird auch von Linken weitgehend in stiller Uebereinstimmung mit der Verwendung in der Esoterik gebraucht. Diese stellt einen
eindeutigen Rekurs auf lebensphilosophische Denkmuster und konservative Kultur- und Zivilisationskritik dar. Ausgangspunkt ganzheitlicher Ansaetze ist "eine rational unerklaerbare schlechthin ,daseiende` Ganzheit, deren
,Urgruende` wissenschaftlich nicht zu erhellen, sondern nur durch das Leben selber zu erfahren seien." (8) Von Intuition ist in diesem Zusammenhang oft die Rede, als eine "selbstverstaendliche Kategorie menschlicher Wahrnehmung", der nicht nur im Gefuehlsbereich zu folgen sei, sondern auch in der Wissenschaft. Vor allem auch "die Liebe", "das Weibliche" oder die Spiritualitaet sollen nunmehr zu wissenschaftlichen Kategorien, bzw. in die Wissenschaft integriert werden. Wie im Biologismus versucht wird, das Ideologische wissenschaftlich zu stylen, so wird auch versucht, den Begriff "Ganzheitlichkeit" zu verwissenschaftlichen. Wie kein anderer hat C. G. Jung mit seiner Archetypenlehre, in der der Seelenkern "die Sphaere der Ganzheit, des unverdorbenen Sinns" darstellt, dazu beigetragen, "Seelenanalyse und Weltanschauung zu vereinen", und den "Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und den Durst nach Sinn gleichermassen
zu befriedigen" (9). Linke machen sich nicht einmal die Muehe, auf den Totalitaetsbegriff von Lukács einzugehen. Es fehlt jegliche Begriffsanalyse.

Christoph Tuercke ist der einzig mir bekannte, der eine (wert-)kritische Analyse des Ganzheitsbegriffs im Sinne Jungs bzw. der Esoterik, der auch von vielen Linken uebernommen wurde, erarbeitet hat. "Jungs Lehre krankt an der Zivilisation, deren Dekadenz sie heilen will. Und sie leidet nicht an ihrer Krankheit. Sie richtet sich gemuetlich ein in der Welt, aus der sie hinauszufuehren meint. Ihr Programm der Ganzheitlichkeit, das den Menschen zu seinem Ursprung zurueckbringen soll, steht an der Spitze des Fortschritts: in tiefem Einklang mit der totalitaeren Tendenz der
warenproduzierenden Gesellschaft, Dinge und Menschen als Objekte von Kauf und Verkauf bis zur Indifferenz einander anzugleichen und zur ,irrationalen Vereinigung der Gegensaetze` (Jung) zu zwingen. Die Archetypen sind denn auch keine archaischen Urbilder, sondern moderne Wunschbilder. Sie versprechen sichere Seelenfuehrung, wenn man sie nur
gewaehren laesst, geben religioesen Sinn, ohne auf eine bestimmte Religion zu verpflichten, bieten eine in sich gerundete Weltanschauung, ohne sich metaphysisch festzulegen." (10) Ganzheitlichkeit ist genauso wie Spiritualitaet oder biologistisches Denken mit jedem beliebigen Inhalt fuellbar. Das Ziel ist, "einen Sinn ueberhaupt - welchen Inhalts auch
immer" zu stiften, den "der moderne Mensch braucht, um es in der pluralistischen, auf keinen vernuenftigen Endzweck ausgerichteten Gesellschaft auszuhalten". (11) "Ein solches Ueberhaupt leistet, was keine starre Konfession vermag: Es erhaelt ebenso stabil wie flexibel, ebenso selbstaendig wie autoritaer fixierbar." (12)

Ganzheitlichkeit ist wie die Warenform selbst ein abstraktes Prinzip. Waehrend ersteres jedoch ein Wunschbild ist, ist letzteres bittere Realitaet. "Dies Beduerfnis zur religioesen Urgegebenheit verklaeren und sich zum Instrument seiner Befriedigung machen, statt an ihm das halbherzige Unbehagen in der Kultur zu studieren, das sich schon mit
Placebos beruhigen laesst und des geistvollen Opiums grosser Theologie gar nicht mehr bedarf, jene lauwarme Erloesungssehnsucht, die eine andere Welt als die, ueber die sie klagt, gar nicht mehr ernstlich will - das heisst der Psychoanalyse (und der Gesellschaftskritik, M.W.) die Moeglichkeit abschneiden, die seelische Verfassung der Gegenwart als Resultat der warenproduzierenden Gesellschaft zu begreifen, die der Ware Arbeitskraft nicht nur den Sinn ihres Daseins vorenthaelt, sondern auch den Wunsch nach einem Zustand, wo es anders waere, verblassen laesst." (13)

Gruende fuer das Massenphaenomen Esoterik

Ein wesentlicher Grund fuer das Massenphaenomen Esoterik liegt auch in der Tatsache begruendet, dass die Linke heute wenig gesellschaftliche Relevanz hat. Und ein wesentlicher Grund fuer die geringe gesellschaftliche Relevanz der Linken ist, dass sie keine emanzipatorischen Perspektiven aufzeigt, sondern in historisch Ueberfaelligem verhaftet ist. Es greift viel zu kurz, Kapitalismus als Klassen- und Interessensgegensatz anstatt als fetischisierte gesellschaftliche Totalitaet zu verstehen, in der die sozialen Beziehungen der Menschen nur verdinglichte sein koennen. Anstatt der defensiven Haltung der Linken sind radikale Analyse, offensive Kritik und systemueberwindende Perspektiven vonnoeten. Der kapitalistische Nerv muss getroffen werden - also Wert, Ware, Geld, Lohnarbeit, Staat, Recht, Politik, Nation und Demokratie. Aufklaerung und Demokratie sind keineswegs das Ende emanzipatorischer Entwicklung, sondern historische Gegebenheiten, ueber die hinausgedacht werden muss. Sie koennen aus historischen Gruenden
nicht mehr einer Emanzipation dienen. An deutlichsten wird dies wohl am Beispiel der Lohnarbeit sichtbar.
Die meisten Linken - auch solche, die ueberhaupt nichts mit Esoterik am Hut haben - sind weitgehend genauso dem Glauben verhaftet wie EsoterikerInnen und Spirituelle. Sie glauben an die Moeglichkeit von menschenwuerdigem Leben innerhalb des Kapitalismus, wenn - wie sie betonen - "alle nur wollen taeten". Oder sie glauben an die Durchsetzbarkeit von "Gerechtigkeit" per Gesetz. Sie glauben, menschenwuerdige Verhaeltnisse waeren eine Frage des subjektiven Wollens, eine Frage des Bewusstseins der Menschen. Sie erkennen nicht, dass diesem subjektiven Wollen die
objektiven oekonomischen Verhaeltnisse entgegenstehen. Sie erkennen nicht, dass Ausbeutung von Mensch und Natur dem Kapitalismus immanent ist und immer immanent sein wird. Dagegen hilft auch keine neue Welt-Ethik, keine
Liebe und auch keine Cyborgs.

Da Glaubensinhalte leicht gewechselt werden koennen, braucht es nicht zu verwundern, wenn ehemalige Linke heute der Marktwirtschaft huldigen, oder wenn viele ehemalige dogmatische Linke nunmehr zur Esoterik "konvertiert" sind. Ein Glaubensinhalt wurde einfach durch einen anderen ersetzt.

Maria Woelflingseder

Maria Woelflingseder, Dr. phil., hat Paedagogik und Psychologie studiert, Forschungsschwerpunkt: Esoterik- und Biologismus-Kritik, weiterhin: koordinierende Redakteurin der Zeitschrift "Weg und Ziel". Sie lebt in Wien.

Anmerkungen:

1) Vgl. Maria Woelflingseder: Die Spirituellen, die aus der Kaelte kamen,
in: El Awadalla: Heimliches Wissen - unheimliche Macht, Wien/Bozen 1997.
2) Vgl. Volkmar Sigusch: Vom Trieb und von der Liebe, Frankfurt 1984, S. 158.
3) Maria Woelflingseder: Fetisch Weiblichkeit. Ueber die diffizilen Zusammenhaenge zwischen spirituellem Oekofeminismus und rechter Ideologie, in: Renate Bitzan (Hg.): Rechte Frauen, Berlin 1997.
4) Vgl. Volkmar Lauber: Beherrschung oder Achtung: Grundhaltungen zur aeusseren und inneren Natur; Margarete Maurer: Zum Politischen im Naturbezug der naturwissenschaftlichen Laborpraxis. Fuer eine Politik der
Koproduktivitaet und des Dialogs; beide Beitraege in: "Oesterreichische Zeitschrift fuer Politikwissenschaft" 2/1996 (Wien).
Weiterhin:
Die Referatsmanuskripte des Natursymposiums (14. und 15.11.1997 in Wien) insbesonders von Elisabeth List (Natur ist, was uns Leben laesst),
Kathleen Hoell (Das Organismus/Umwelt-Feld-Konzept in der Gestalttherapie),
Eckhard Kanzow (Eine Aufforderung zum Tanz. Nachhaltigkeit - matrizentrische Werte - Natur - Leben),
Elena Franzini (Die Natur als Lehrerin. Die innerer Natur des Menschen in Analogie zur Natur der Aussenwelt).
5) Vgl. Franz Schandl: Fetisch Religion. Zur fundamentalen Kritik des scheinbar Unueberwindbaren, in: "Weg und Ziel" 5/1996 (Wien).
6) Franz Schandl: Stichwort "Natur", in: Siegfried Grubitzsch, Klaus Weber (Hg.): Psychologische Grundbegriffe, Reinbek bei Hamburg, 1998, S. 365.
7) Vgl. Maria Woelflingseder: Die Spirituellen, die aus der Kaelte kamen, a.a.O., S. 187ff.
8) Monika Leske: Philosophen im Dritten Reich, Berlin 1990, S. 135.
9) Christoph Tuercke: Denker der Zukunft. C. G. Jungs Archetypenlehre, in: Christoph Tuercke: Gewalt und Tabu, Lueneburg 1992, S. 91.
10) Ebd., S. 106
11) Ebd., S. 107
12) Ebd., S. 107
13) Ebd., S. 107f.

Ergaenzende Literatur:
Gero Fischer/Maria Woelflingseder (Hg.): Biologismus - Rassismus -
Nationalismus. Rechte Ideologien im Vormarsch, Wien 1995, darin der
Beitrag von Maria Woelflingseder: Biologismus - "Natur als Politik". New
Age und Neue Rechte als Vorreiter einer (wieder) etablierten Ideologie.
Maria Woelflingseder: Fetisch Weiblichkeit. Ueber die diffizilen
Zusammenhaenge zwischen spirituellem Oekofeminismus und rechter Ideologie.
In: Renate Bitzan (Hg.): Rechte Frauen. Skingirls, Walkueren und feine
Damen, Berlin 1997.
Maria Woelflingseder: Die Spirituellen, die aus der Kaelte kamen. In: El
Awadalla: Heimliches Wissen - unheimliche Macht. Sekten, Kulte, Esoterik
und der rechte Rand, Wien/Bozen 1997.
Maria Woelflingseder: Stichwort "Esoterik" im Handbuch Psychologische
Grundbegriffe, hg. von Siegfried Grubitzsch und Klaus Weber, Reinbek bei
Hamburg 1998.
Maria Woelflingseder: Liebe und Sex in Zeiten ohne Sinn und Sinnlichkeit.
Ueber die Verdinglichung des Bewusstseins und die Mystifikation des
Sexuellen an Hand von Marx` Warenanalyse und Werttheorie. In: "Weg und
Ziel" 2/1996 (Wien).

aus: ak - analyse & kritik, Zeitung fuer linke Debatte und Praxis /Nr. 418/