Heidi Meinzolt-Depner, T/F 089-89979690, Meinzolt-Depner@t-online.de
FÜR EINE GRÜNE UTOPIE - GEGEN DEN LIBERALEN REALISMUS
Nein die Grünen sind nicht unkritisch geworden, aber die Opposition im Kopf bröselt. Die Magie der packenden Idee ist hin, die der Partei Achtung und gute Wahlergebnisse bescherte.
Die Vision, die Gesellschaft grundlegend zu verändern und mit jedem politischen Schritt kreativ, spontan und wachsam, aufregend auf die Veränderung zuzusteuern, wird vom liberalen Realismus abgelöst. "Machbare" Schritte, verhackstückt in parlamentarische Initiativen, haben die alleinige Definitionshoheit für das, was "realistisch" ist.
Der Zeitgeist regiert in Form des organisierten Opportunismus.
Dies ist eine unzureichende Antwort auf den hohen Erwartungsdruck in puncto "Wechsel". Grüne Politik verhütet vielleicht noch das schlimmere und gestaltet den Status quo, also den Rest. Und das wars dann. Mindestens die Politikverdrossenheit zahlt es uns zurück.
So taugen aber die Grünen nur mehr zum Alibi des guten Gewissens für die Modernisierer und oh Schreck! die Wähler merken das.
Noch unterscheiden sich die grünen Programme von denen anderer Parteien: Profit um des Profits willen, Wachstum um des Wachstums willen das darf es bei den Grünen nicht geben. Diese Form des Neo- bzw. Ultra-Liberalismus lehnen sie im Konsens ab. Profit muß schon die Würde der Menschen berücksichtigen und die Endlichkeit der Ressourcen einkalkulieren. Aber bereits diese Logik entläßt den Staat weitgehend aus der Verantwortung und die Organisation des Gemeinwesens ist nur mehr der gesammelte Anspruch seiner Einzelwesen. Politik ist damit bereits individualisiert und wird zur Spielwiese seiner mehr oder minder charismatischen Politakrobaten. Jedes Mitglied, jeder Wähler kann im Katalog der tausend Möglichkeiten und ausgefeilten Detailkonzepte ein bißchen mehr Kinderrechte, eins von tausend Dächern, einen Ausbildungsplatz im zivilen Friedensdienst usw. aussuchen jedes für sich genommen interessant, aber letztlich eine Art Gemischtwarenhandlung für den Durchschnittsverbraucher.
Der gesellschaftliche Druck, den wir für eine Veränderung der Verhältnisse auch der Besitzverhältnisse erzeugen müssten, hat in dieser Angebotsvielfalt zu viele Ventile, als daß er energiebringend eingesetzt werden könnte!
Politik hat es nicht einfach am Ende des 20. Jahrhunderts voller Fortschritte und Fortschrittsgläubigkeit, weil sich inzwischen so manches ins Gegenteil verkehrt.
Armut und Not sollten eigentlich der Vergangenheit angehören zumindest in unseren mitteleuropäischen Gesellschaften. Aber jetzt am Ende geht die Schere der Verteilung von Reichtum und Macht plötzlich wieder weit auf. Hat die Politik versagt?
Auf der Verliererseite wie auf der Gewinnerseite ist jedenfalls Entpolitisierung angesagt: die einen sind zunehmend abgekoppelt, denn die Politik schafft nicht die Arbeit die sie suchen; die sozialen Netze werden dünner, Stress und Enttäuschung wachsen und das Ergebnis ist: die Menschen gehen nicht mehr wählen, weil sie sich nicht vertreten glauben.
Die Gewinner sind an der optimalen Organisation ihres Freiraums interessiert, sie investieren nicht ins Allgemeinwohl, sondern in virtuelles Geld, in international freischwebende Finanzmärkte; ihre Multinationalen Konzerne bestimmen den globalen Markt, dem die Politik inzwischen hinterherhechelt, oder sogar das Terrain bereitet. "Politik betreibt zunächst nichts anderes als die Entsorgung der Toiletten der Global Players", nannte dies Carl Améry kürzlich.
Grünes Stammwählerpotential war links und/oder vorne, es war geprägt durch Protagonisten des Anders Denken und Anders Handeln durch alle Institutionen hindurch. Die Grünen versammelten einen beträchtlichen Anteil intellektueller Avantgarde und Querdenkertum und waren damit attraktiv für ein gutes Wählerpotential. Der Drang der Partei in die Neue Mitte, die vielen Formelkompromisse, der Kotau gegenüber der Machbarkeit, sowie äußerliche und innerliche Anpassungsstrategien, kratzen an der Authentizität der Ideen. "Wir müssen den Wettbewerb der orginellsten Querdenker drastisch einschränken" heißt die jüngste Devise von Kerstin Müller. Also auch hier ein strategischer Abgesang.
Wenn Machbarkeit von der Methode zum politischen Ziel wird, dann reduziert sich aber die grüne Politik, dann reduzieren sich Ideen und Visionen, dann denkt man/frau nur mehr das Machbare und macht nur das im Moment Mögliche.
Emanzipative Politik, Partizipation, Gleichberechtigung, innere Demokratie alles waren bestimmende Elemente des grünen Politikansatzes. Und jetzt: Machtbastionen dürfen nicht in Frage gestellt werden, statt dessen wird die lästige Basis geschleift. Die größte Quote zur Postenbesetzung haben diejenigen, die schon daraufsitzen. Regierungsfähigkeit lernen heißt die Opposition im Kopf zu zähmen.
Interne Strategieschlachten und endlose Strukturdebatten täuschen darüber hinweg, daß es sich nicht um ein Vermittlungsproblem handelt, sondern darum und das ist viel "nachhaltiger" in der Wirkung - daß die Beteiligung der Menschen am politischen Projekt wegbricht. Das grüne Projekt lebt nicht von der mundgerechten Vermarktung der Polithäppchen in der Mediokratie, sondern von Überzeugungen, die sich Mitglieder und Sympathisanten zu eigen gemacht haben, und die sie vor Ort glaubhaft vertreten. Dies wird zunehmend entwertet, weil das nicht hinreichend istfür das große Politikgeschäft.
Die neue Sprachregelung in der Partei weist auf die anstehende innerparteiliche "Entscheidungsschlacht" hin: Utopien werden als naiv abgetan, weil sie mehr Fragen aufwerfen als konkrete Lösungen anbieten, Pazifismus ist rückwärtsgewandt, weil er angeblich den neuen weltpolitischen Gegebenheiten nicht mehr entspricht, Gesellschaftskritik und damit Selbstkritik ist megaout, weil man sich damit als Akteur in der Arena demontiert.
Also gehört Ballast abgeworfen und so manches auf den Dachboden entsorgt, wie es die Jungen vorschlagen, denen die Flügel schon gestutzt sind, bevor sie losfliegen.
Der Kosovokrieg hat die schwelende Auseinandersetzung in der Partei um Machbarkeit und Autorität zugespitzt, unabhängig von der jeweiligen Gewissensentscheidung der Einzelnen. Auf der Jagd nach "Lösungen" wurden die Maßstäbe völlig über den Haufen geschmissen. In blinder Verharmlosung suchte man im Gefolge der Regierungsverantwortung so eine Art fertiges 1.-Hilfepaket für einen komplexen Konflikt das aber mehr Sprengstoff als Pflaster enthielt. Zudem setzte sich eine fatale Logik der "Alternativlosigkeit" in Umlauf, die eine Kette von den Rambouilletverhandlungen bis zum NATO-Einsatzbefehl und dem Bundeswehrkriegseinsatz knüpfte. Dies sei jetzt die "Ultima ratio" hieß es - und so schlugen sich Grüne im Glorienschein des Außenministers auf die Seite des gerechten Krieges für die Menschenrechte. Das Ergebnis war in meinen Augen - nicht nur eine tragische Fehlentscheidung wenn man die Folgen des Krieges (Umwelt-und Infrasrukturzerstörung, Haß und erneute Vertreibung) und den massiven militärischen Einsatz aus der Luft betrachtet. Der Krieg löste auch so etwas wie einen kollektiven Schock für große Teile der Gesellschaft aus. Hoffnungen und Bündnissen sind schlicht weggebrochen und grüne Politik in Deutschland hat einen beträchtlichen kaum wieder gut zu machenden - Glaubwürdigkeitsverlust erlitten, der auf alle Politikbereiche ausstrahlt.
Weltkonferenzen wie Rio, Kyoto, Peking legten vor Jahren glasklare Fakten auf den Tisch, die Schlußfolgerungen zwingend machen. Das Wissen um die ökologischen Zusammenhänge ist breit vorhanden in unserer Bevölkerung. Die Gefahren der Atom und Gentechnologie sind Lehrstoff in den Schulen. Das Wissen über gesunde Lebensmittel als Grundlage für Gesundheit ist weit über Biomärkte hinaus vorhanden, Agendagruppen, Verbraucherlobbies sind engagiert aber der verläßliche politische Partner und politische Lobbyist in Entscheidungsfunktion paßt, weil er in Konsensgespräche (z.B. zum Atomausstieg) gefesselt wird, anstatt eine Ausstiegslinie durchzuhalten, anstatt demokratische Kontrolle über Produkte und Produktionsweisen einzufordern, bestimmte ökologisch verträgliche Produktlinien gezielt zu fördern. Die Grünen greifen die Bereitschaft von vielen Menschen "nachhaltig" zu handeln nicht genügend auf.
Deshalb soll dies ein Plädoyer für die Kraft der Visionen sein, für den Mut und die Solidarität, die Visionen nicht nur zuzulassen, sondern sie auch als Richtschnur für das politische Handeln zu nehmen:
- Es ist von entscheidender Bedeutung, dass sich die Grünen die Autonomie ihrer Ausdrucks-und Handlungsformen bewahren. Sie müssen den Mut aufbringen, Unkonventionelles - auch entgegen einer Koalitionsdisziplin auszusprechen, zu fordern und Glaubwürdigkeit zu erwirken für ihre gelebten Überzeugungen.
- Die Grünen müssen sich die Langfristigkeit ihrer Politik auch selbst zutrauen. Sie müssen die die Tore öffnen für Prozesse auch wenn der Ausgang offen ist.
- Sie müssen Demokratie wagen, indem sie die demokratische Kontrolle durchhalten und verbessern, anstatt auf das freie Spiel der Kräfte zu setzen, um der Politik wieder einen spürbaren Einfluß und damit einen Sinn zu verschaffen.
- Sie müssen der Globalisierung den Absolutheitsanspruch nehmen und ihr die Definitionsmacht über alle Lebenszusammenhänge streitig machen. Das geht nicht, ohne ökologische und soziale Grundstandards immer wieder neu einzufordern - im Welthandel genauso wie in der Verbraucherszene vor Ort.
- Alternativen regen Denkprozesse an. Ihre Förderung muß vorrangig betrieben werden, sei es in der Landwirtschaft, in der Energieeinspeisung, oder in ganz besonderer Verantwortung in der Kultur.
- Da der heutige Liberalismus immer mehr Menschen von der Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen ausschließt, müssen die Grünen wieder in besonderem Maße Gemeinschaftsrechte vertreten, z.B. für bezahlbaren Wohnraum, Bleibe-und Asylrecht, Kinderrechte und Gesundheit, und diese politisch verantworten.
- Die Grünen müssen sich wieder neu auf die Zivilgesellschaft besinnen, um Prävention als Wert an sich neu zu denken und damit die Lösung aus der Gewaltspirale der "ultima ratio" voranzutreiben.
- "Die Frauen in Schwarz" in Belgrad fangen nach dem Krieg wieder von vorne an. Dies könnte ein mahnendes Beispiel dafür sein, daß die grüne Geschichte nicht linear verläuft.