Positionspapier zum KOSOVO-Konflikt
von Uli Cremer

Aktualisierte Fassung vom 05.04.98

Das folgende Papier soll GRÜNEN Parteimitgliedern, aber auch anderen Angehörigen der Friedensbewegung Hintergrundinformationen, Fakten und Argumentationshilfen für die nächsten Tage und Wochen geben. Sicher werden nicht alle mit dem Krieg zusammenhängenden Fragen beantwortet, z.B. wird auf eine umfassende Analyse der Neuen NATO und der UNO verzichtet .

Das Papier gliedert sich grob in folgende Teile:
1) Geschichtliche Aspekte (1-4)
2) Analyse des Kosovokonflikts 1998 (5-8)
3) Beweggründe der NATO-Staaten für ihr Engagement im Kosovo (9-11)
4) NATO-Kriegsplanungen im Sommer 1998 (12-13)
5) Holbrooke-Milosevic-Abkommen Oktober 1998 und Winterkrieg bis Januar 1999 (14-18)
6) Rambouillet: Inhalte des Abkommens und Gründe des Scheiterns (19-20)
7) Der NATO-Angriffskrieg: Militärische und politische Aspekte (21-28)
8) "Was ist Eure Alternative?" Nicht-militärische Vorschläge (29-37)

1. Im alten Jugoslawien wurde die wirtschaftliche Entwicklung im Kosovo stark gefördert: Alle Republiken zahlten von 1961 bis 1990 18 Mrd. $ in einen entsprechenden Entwicklungsfonds ein. Hinzukamen Ausgaben für Gesundheitswesen und Bildung. Aufgrund der parallel erfolgenden überproportionalen Bevölkerungsentwicklung im Kosovo (die albanische Bevölkerung verdreifachte sich von etwa 500.000 in 1950 auf 1,6 Mio. 1990 ) reichten die Mittel jedoch nicht annähernd aus, um den wirtschaftlichen Rückstand zum übrigen Jugoslawien zu überwinden. Die Folgen waren eine extrem hohe Arbeitslosigkeit und damit verbundene Perspektivlosigkeit gerade der heranwachsenden Generationen. Es setzte sich der Eindruck fest, die Wirtschaftshilfe würde im Kosovo überhaupt nicht ankommen und von der Ausbeutung der reichhaltigen Rohstoffvorkommen der Region würde allein Belgrad profitieren.
2. Serbischerseits wurde die Veränderung der Bevölkerungsstruktur im Kosovo als Bedrohung wahrgenommen. Die ethnischen Spannungen nahmen zu. 1981 wurde ein kosovo-albanischer Aufstand blutig niedergeschlagen. Ende der 80er Jahre begann das Milosevic-Regime seine Herrschaft zunehmend mit nationalistischer Ideologie abzustützen. Dabei wurde der Kosovo ins Zentrum gerückt. Milosevic selbst bekräftigte 1989 vor Hunderttausenden in Gedenken an die 1389 ausgetragene Schlacht auf dem Amselfeld den serbischen Herrschaftsanspruch auf den Kosovo: "Heute, sechs Jahrhunderte später, stehen wir in der Schlacht und sehen neuen Kämpfen entgegen. Es sind keine bewaffneten Kämpfe - aber auch solche sind nicht auszuschließen" . Damit einher ging die Unterdrückung und Diskrimierung der Kosovo-AlbanerInnen durch Belgrad. Die Autonomierechte der Kosovo-AlbanerInnen wurden durch die Annahme einer neuen jugoslawischen Verfassung drastisch beschnitten. Ihre Vertretung im Föderationsrat wurde aufgehoben. Die verbliebenen Autonomierechte (eigenes Provinzparlament mit begrenzten Befugnissen, albanische Schulen etc.) wurden von den Kosovo-Albanern nicht mehr ernst genommen und werden seitdem boykottiert. Im nach 1991 verbliebenen Rumpf-Jugoslawien wurde die albanische Bevölkerung weiter unterdrückt. Blutige Einsätze von Polizei und Spezialkräften waren in den 90er Jahren an der Tagesordnung. Dafür trägt das Milosevic-Regime die volle Verantwortung.
3. Die Kosovo-AlbanerInnen erklärten sich 1990/91 ähnlich wie Slowenien, Kroatien, Mazedonien und Bosnien-Herzegovina in einem Referendum für unabhängig und wählten eine eigene politische Führung. Da das Kosovo jedoch keinen Teilrepublik-Status besaß, wurde das Kosovo nur von Tirana als eigener Staat anerkannt. Insofern erlebten sich die Kosovo-Albaner als "zu kurz gekommen". Seit 1990 bauten die Kosovo-Albaner einen regelrechten Schattenstaat mit eigenem Bildungs- und Gesundheitswesen auf und führten zuletzt im Frühjahr 1998 Wahlen durch. Der Schattenstaat erhob sogar eigene Steuern, zu denen insbesondere die Exilkosovo-Albaner, die großteils in Deutschland und der Schweiz leben, mit einer 3%igen Abgabe beitrugen.
4. Ihren politischen Kampf führten die Kosovo-Albaner von 1991 bis 1997 überwiegend mit gewaltfreien Mitteln. Gruppen, die auf bewaffneten Kampf setzten, existierten zwar und führten entsprechende Anschläge aus, aber sie blieben bis 1997 eher einflußlos. Da die Führung um Präsident Rugova mit dem gewaltfreien Agieren gemessen an ihren politischen Zielen keine Erfolge (weder einen international anerkannten eigenen Staat noch Fortschritte im Autonomie-Status z.B. durch die Einrichtung einer Teilrepublik Kosovo) und natürlich auch keine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation erreichen konnte, gewannen die Gruppen, die auf bewaffneten Kampf setzten, an Boden.
5. Seit 1997 unternahm die UCK vermehrt Anschläge auf Stationen von Polizei und Spezialkräften. Trotz des nach wie vor gültigen UN-Waffenembargos gegen Jugoslawien floß der militärische Nachschub über die albanische und mazedonische Grenze in das Kosovo. Finanziert wurden die Waffen v.a. von den Auslands-Albanern insbesondere aus der Schweiz und Deutschland. In den letzten 12 Monaten kontrollierte die UCK Teile des Kosovos zumindest zeitweise militärisch und politisch.
6. Die internationale Staatengemeinschaft ignorierte den Konflikt solange, bis die UCK so großen Einfluß gewonnen hatte, daß der Konflikt militärisch eskalierte. Z.B. wurde der Konflikt im Friedensvertrag von Dayton bewußt ausgespart. Während die gewaltfrei agierende politische Kraft um den gewählten Präsidenten Rugova jahrelang keine relevante politische Unterstützung erfuhr und entsprechend keine Erfolge vorweisen kann, traf Ende Juni US-Vermittler Holbrooke mit UCK-Vertretern zusammen und setzte damit ein Zeichen für die Militarisierung internationaler Beziehungen. Die Botschaft lautet: Konflikte werden nur beachtet und bearbeitet, wenn sie militärisch, also gewaltsam angegangen werden.
7. Der serbische Gewaltapparat reagierte auf die zunehmende militärische Stärke der UCK mit weiterer Unterdrückung, setzte Panzer und Artillerie ein, brannte ganze Dörfer nieder. Insbesondere der Grenzstreifen zu Albanien wurde verwüstet und vermint, um den militärischen Nachschub für die UCK abzuschneiden und diese so zu schwächen. Natürlich ist der Einsatz von Landminen vor dem Hintergrund des internationalen Abkommens zur Ächtung der Anti-Personen-Minen nicht akzeptabel. Aber die Vertreibung hatte einen konkreten militärischen Sinn: "Was man hier im Kosovo im Grenzgebiet sieht, ist das Säubern dieses Grenzstreifens vor allem aus militärischen Gründen." (OSZE-Botschafter Daan Everts laut FAZ 17.6.98). Die militärische Alternative, zur Unterbindung des Nachschubs Grenzverletzungen gegen Albanien zu begehen, schied für die serbische Seite aus, da sie damit sonst bereits damals der NATO eine Steilvorlage zum militärischen Eingreifen geliefert hätte. Aus der beschriebenen militärischen Maßnahme resultierte die 1998er Flüchtlingsbewegung nach Albanien.
8. Nachdem die UCK zeitweise militärische Erfolge erzielen konnte, wurde sie im Spätsommer 1998 von den Serben militärisch aufgerieben. Viele UCK-Kämpfer wurden getötet oder gerieten in Gefangenschaft. Hunderttausende Kosovo-AlbanerInnen waren aufgrund der Zerstörung ihrer Dörfer und Städte auf der Flucht.
9. Seit der militärischen Eskalation im Kosovo beschäftigt sich die NATO verstärkt mit dem Konflikt. Das Interesse der westeuropäischen Staaten insbesondere Deutschlands ist in erster Linie die Flüchtlingsabwehr. In Deutschland leben z.Z. ca. 150.000 Kosovo-Albaner; ein Teil wurde in den vergangenen Jahren trotz der politischen Verfolgung in Serbien nach dorthin abgeschoben. In diesem funktionierten Vereinbarungen mit der Milosevic-Regierung offensichtlich reibungslos.
10. Nachdem die US-Regierung in Bosnien den iranischen Einfluß auf die Region bzw. Europa erfolgreich zurückgedrängt hatte (Samuel Berger, nationaler Sicherheitsberater der US-Regierung, im September 1997: "Wir haben es zu einer Bedingung des Ausbildungs- und Ausrüstungsprogramms gemacht, daß Bosnien alle militärischen und nachrichtendienstlichen Verbindungen zum Iran abbricht - damit hat eine Nation, die Radikalismus exportiert und Terrorismus fördert, die wichtige Basis in Europa verloren, die sie bei Beginn des Krieges 1992 erhielt." ), lag es in der Logik der US-Anti-Iran-Strategie sich im Kosovo zu engagieren, um auch dort eine Einflußnahme des Irans zu verhindern. Der amerikanische Unterhändler Gelhard machte im Frühsommer 1998 Iraner und Tschetschenen aus, die an der Seite der Albaner kämpfen (FAZ 19.6.98). Auch Volker Rühe bestätigte die Anwesenheit von muslimischen Kämpfern aus dem Iran im Kosovo (FAZ 18.6.98).
11. Bei ihrer Beschäftigung mit dem Kosovo-Konflikt hielt die NATO keine Distanz zu beiden Kriegsparteien, sondern schlug sich auf die Seite der Kosovo-AlbanerInnen. Ausgehend von der juristischen Lage, daß der Kosovo völkerrechtlich Teil Jugoslawiens ist, stellt sich der Kosovo-Konflikt als Bürgerkrieg dar. Zwar haben die Kosovo-Albaner eine andere Rechtsauffassung, da sie sich 1990/91 für unabhängig erklärt haben. Danach handelte es sich um einen Krieg zwischen zwei Staaten. Die Forderung der Kosovo-AlbanerInnen nach einem eigenen Staat lehnte die NATO bis März 1999 noch ab. Nur Albanien erkannte die Republik Kosova bisher an.
12. Im Sommer 1998 arbeiteten die NATO-Militärs die möglichen militärischen Optionen aus, wie die NATO in den Bürgerkrieg eingreifen bzw. Jugoslawien angreifen könnte: "Die Nato-Angriffsplanung hat mehrere hundert militärische Ziele in Serbien wie im Kosovo für alliierte Luftangriffe vorgesehen. Aus der langen Liste würden im Bedarfsfall die Vorrangziele, beginnend mit Anlagen der Luftverteidigung, Befehls- und Fernmeldeanlagen und Depots für schwere Waffen, Munition und Treibstoff entsprechend dem konkreten militärischen Auftrag und der aktuellen Lage ausgewählt. Doch die Alliierten haben auch Pläne für eine Besetzung Kosovos und nehmen für den äussersten Fall sogar den Einmarsch in Serbien in Aussicht, dann allerdings in Armeestärke, wofür US-Truppen aus Amerika nach Europa gebracht werden müssten." Gleichzeitig entspann sich eine Debatte, unter welcher Flagge NATO-Einsätze erfolgen könnten. Da die NATO sich eigene Einsätze schon länger ohne Mandat der UN vorstellen konnte, sah sie in einem fehlenden UN-Sicherheitsratsbeschluß kein prinzipielles Problem. Auch deutsche Politiker wie Rühe machten sich bereits damals für NATO-Einsätze ohne UN-Mandat stark. Aus Legitimationsgründen wurden jedoch Varianten ins Spiel gebracht wie die von NATO-Generalsekretär Solana., einen NATO-Kampfeinsatz auf der Grundlage eines OSZE-Mandats durchzuführen (22.6.98). Daß die OSZE nicht befugt ist, Mandate für Kampfeinsätze zu erteilen, sich ihre Kompetenz auf Mandate für friedenserhaltende Einsätze beschränkt, die bekanntlich die Zustimmung aller Konfliktparteien zur Voraussetzung haben, störte dabei wenig.
13. Im September 1998 mißlangen die Versuche der NATO, ein UN-Mandat zu erlangen, endgültig. In einer UN-Resolution wurde zwar die Unterdrückungspolitik der Serben gegen die Kosovo-Albaner verurteilt und verschiedene politische Forderungen an Belgrad formuliert, aber die Legitimation von Luftangriffen und anderen militärischen Maßnahmen scheiterten am Widerstand Rußlands. Daraufhin wurde den Russen der "Mißbrauch des Vetorechts" vorgeworfen, wobei allerdings eine Initiative der NATO-Mächte mit Vetorecht im UN-Sicherheitsrat (USA, Frankreich und Großbritannien) zur Abschaffung des Vetorechts bis heute aussteht.
14. Das fehlende UN-Mandat konnte die NATO von ihren militärischen Planungen nicht abbringen. Der BR Jugoslawien wurden Luftschläge nicht nur angedroht, sondern die konkrete Vorbereitung begann, ein Ultimatum wurde gestellt. Vor dieser Drohkulisse reiste der US-Abgesandte Holbrooke nach Belgrad und handelte mit Milosevic am 14.10.98 ein Abkommen aus, daß folgende Komponenten enthielt:1) 2000 unbewaffnete OSZE-BeobachterInnen sollten die Waffenstillstand im Kosovo überwachen. 2) Die NATO erhielt die Genehmigung, den Luftraum über dem Kosovo zu kontrollieren. 3) Die serbische Seite hatte ihre Truppen und Einheiten der Spezialpolizei im Kosovo auf den Stand von Februar 1998 zu reduzieren und schweres Gerät abzuziehen; damit durften nur 15.000 serbische Soldaten und 10.000 Polizisten im Kosovo stationiert bleiben. 4) Die Flüchtlinge sollten in ihre Dörfer zurückkehren können. Obwohl die OSZE-Mission Anfang November erst 600 Personen umfaßte, war die viel beschworene humanitäre Katastrophe bereits am 3.11.98 weitgehend gebannt: Die Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerk verkündete, "von den fast 300.000 Vertriebenen hielten sich nur noch wenige hundert im Freien auf" . Die kosovo-albanische Seite war am Abkommen nicht beteiligt und fühlte sich "reingelegt, diesmal vom Westen" (vergl. FR 16.10.98). Entsprechend berichtete die FAZ am 24.10.98: "Offenbar versucht die Befreiungsarmee der Kosovo-Albaner (UCK), Soldaten und Polizisten zu bewaffneten Schlägen zu provozieren und so die Nato doch noch zu einem Eingreifen zu bewegen."
15. Gerade vor dem Hintergrund der erfolglosen NATO-Bombardements gegen Jugoslawien März/ April 1999 ist höchst fraglich, ob die militärischen Drohungen Milosevic damals wirklich beeindruckten und dazu brachten, das Abkommen abzuschließen. Nach der NATO-Logik hätte die Milosevic-Regierung nach Abwurf der ersten NATO-Bomben erst recht einlenken müssen. Das ist jedoch nicht geschehen. Die Beweggründe der serbischen Regierung damals waren offenbar eher folgende: Erstens wies das Abkommen der eher neutralen OSZE die Hauptrolle zu; das ließ innenpolitisch eine gewisse Gesichtswahrung zu, zumal die BeobachterInnen unbewaffnet waren. Zweitens hatten sich die NATO-Mächte zum damaligen Zeitpunkt noch nicht vollends auf die Seite der UCK geschlagen, was die Zustimmung möglicherweise auch erleichterte. Drittens und entscheidend war wie im Bosnienkrieg die Aussicht auf Aufhebung der Wirtschaftssanktionen, das Aufbrechen der wirtschaftlichen und politischen Isolierung. Holbrooke hatte in seinen Memoiren über Dayton festgehalten: "... wichtigster Trumpf bei den Verhandlungen waren die wirtschaftlichen Sanktionen... Die Sanktionen hatten der serbischen Wirtschaft erheblichen Schaden zugefügt, und Milosevic wollte sie beendet sehen."
16. Mit dem erreichten Abkommen sah sich die NATO dennoch in ihrem politischen Kurs bestätigt, der im Grunde die Umsetzung der alten Al Capone-Weisheit war: "Man kommt viel weiter mit einer freundlichen Redensart und einer Kanone als nur mit einer freundlichen Redensart." Entsprechend wurde die Drohung mit Luftangriffen aufrecht erhalten. Also faßte auch die Mehrheit des Deutschen Bundestages am 16.10.98 den Beschluß, sich mit deutschen Flugzeugen und Soldaten zu beteiligen. In den darauffolgenden Wochen stationierte die NATO in Mazedonien erste Bodentruppen. Begründung war, man müsse die OSZE-Beobachter militärisch schützen. Also nannte man die Truppen Extraction-Force. Die Verpflichtung der BR Jugoslawien gegenüber der OSZE, die Evakuierung der OSZE-MitarbeiterInnen aus dem Kosovo zu gewährleisten, sofern der Chef der Mission eine entsprechende Entscheidung treffe, wurde von vornherein nicht geglaubt . Am 20.3.99 konnten die OSZE-BeobachterInnen den Kosovo problemlos verlassen. Die Belgrader Regierung hatte Wort gehalten.
17. Von Belgrad wurden die NATO-Kriegsvorbereitungen, sowohl die Vorbereitung der Luftangriffe, als auch die Stationierung der Bodentruppen in Mazedonien als das gesehen, was sie waren: Vorbereitungen zu einem Angriffskrieg. Beides verstieß gegen Artikel 2 der UN-Charta: "Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt." Entsprechend hatte der Botschafter Jugoslawiens in Bonn, Jeremic, schon Ende September 1998 für den Fall eines Militärschlages der NATO Gegenschläge angekündigt: "Jeder Angriff auf Jugoslawien ist eine Aggression, und unsere Verfassung schreibt vor, daß jede Aggression mit allen Mitteln bekämpft werden muß."
18. Das Holbrooke-Milosevic-Abkommen mit der Stationierung der OSZE-BeobachterInnen konnte den Krieg einhegen, aber eine politische Lösung kam nicht zustande. Die Neue Zürcher Zeitung resümiert: "Ihre Präsenz übte aber doch eine beruhigende Wirkung aus. Ihre Verbindungsoffiziere hatten regelmässig Kontakt mit serbischen und albanischen Kommandanten und konnten zumindest auf lokaler Ebene da und dort ein zurückhaltendes, unprovokatives Auftreten der Kämpfer herbeiführen. Dies gab der Zivilbevölkerung ein - wenn auch beschränktes - Gefühl der Sicherheit." Dennoch: Der Bürgerkrieg wurde auf niedrigem Niveau weitergeführt. Die UCK brachte Polizisten um und nahm serbische Soldaten gefangen, die Serben setzten ihre brutale Unterdrückungspolitik, die vielen Kosovo-Albanern das Leben kostete, fort und gingen gegen Waffennachschublieferungen für UCK vor. Die Situation eskalierte am 16.1.99 in Racak. Obwohl die Umstände auch nach Veröffentlichung des Berichts des finnischen Experten-Teams um die international anerkannte Spezialistin Helena Ranta nicht gänzlich klar sind (offenbar wurde im März 1999 noch wochenlang vom deutschen Auswärtigen Amt am Bericht retouchiert) , steht fest, daß serbische Einheiten 45 Kosovo-AlbanerInnen umgebracht haben. Und das, nachdem 4 Tage zuvor die UCK nach Vermittlung der OSZE 8 serbische Soldaten freigelassen hatte.
19. Im Februar 1999 begannen unter Beteiligung Rußlands die Verhandlungen von Rambouillet. Nach wochenlangen schwierigen Verhandlungen war ein Abkommen fertig, dessen Text im wesentlichen von Kontaktgruppenmächten (USA, GB, F, D, I und Rußland) vorgegeben worden war. Nach langem Hin und Her unterschrieben die Kosovo-AlbanerInnen, die SerbInnen akzeptierten das Abkommen nicht. Dieses lief auf ein erst einmal für 3 Jahre angelegtes internationales Protektorat im Kosovo hinaus, das insbesondere dem obersten OSZE-Chef in Pristina umfassende Befugnisse eingeräumt hätte. In dem Text heißt es: "Wenn kein Konsens erzielt werden kann, entscheidet der Vorsitzende (= der OSZE-Chef, UC) endgültig." Das Abkommen sah demokratische Wahlen und den Aufbau von Autonomiebehörden vor, inklusive Aufbau einer Polizei, bei der viele UCK-Mitglieder einen Job hätten finden sollen . Die UCK sollte bis auf die Kalaschnikow-Gewehre entwaffnet werden. Die serbische Polizei und die jugoslawische Armee sollte bis "auf wenige Einheiten in einigen Kasernen und im Grenzbereich" abgezogen "und der Kontrolle der Nato unterstellt" werden, ebenso wie der "Luftraum über Kosovo". Nach 3 Jahren sollte eine internationale Überprüfungskonferenz stattfinden. Sie sollte "einen ‚Mechanismus für eine endgültige Regelung für Kosovo' ausarbeiten, und zwar ‚auf der Grundlage des Volkswillens'". Dieser Satz, der zwar das Wort Referendum vermied, aber die Möglichkeit dafür offen ließ, wurde offensichtlich erst im Laufe der Verhandlungen auf Druck der Kosovo-AlbanerInnen in das Abkommens aufgenommen. Er war der eine Ablehnungsgrund für Belgrad, der andere, wichtigere war die Überwachung des Abkommens durch NATO-Truppen, die ein militärischer Anhang regelte, (der im übrigen auch von den Russen nicht mitgetragen wurde). Am 19.3.99 scheiterte der Rambouillet-Prozeß, die BR Jugoslawien verweigerte ihre Unterschrift. Die Konferenz wurde abgebrochen. Die NATO-Mächte an der Balkan-Kontaktgruppe ließen die Kosovo-AlbanerInnen das Abkommen feierlich unterschreiben, Rußland blieb der Zeremonie fern.
20. Statt einer Überwachung durch die NATO hätte es natürlich auch andere Möglichkeiten gegeben, die der serbischen Regierung eine Gesichtswahrung erlaubt hätten, z.B. UN-Truppen. Da die NATO nicht bereit war, andere Lösungen zuzulassen, trägt auch sie Verantwortung für das Scheitern von Rambouillet. Der serbische Vize-Premier Draskovic betonte am 31.3.99 einmal mehr: "Nach einem politischen Abkommen wären wir auch zur Regelung seiner Umsetzung bereit, einschließlich einer ‚ausländischen Teilnahme' daran... Die NATO kommt nicht mehr in Frage. Wir haben ihr Gesicht kennengelernt."
21. Da auch im März 1999 kein UN-Mandat in Sicht war, begann die NATO am 24.3.99 ihren Krieg gegen Jugoslawien auf eigene Faust. Bereits im Oktober 1998 hatte sie erklärt, ihr genügte eine "ausreichende Rechtsgrundlage". Diese definierte der NATO-Rat am 9.10.98 wie folgt:
- "Die Bundesrepublik Jugoslawien hat die dringlichen Forderungen der Internationalen Gemeinschaft trotz der auf Kapitel VII der VN-Charta gestützten Resolutionen des VN-Sicherheitsrates 1160 vom 31.März 1998 und 1199 vom 23.September 1998 noch nicht erfüllt.
- Der äußerst eindeutige Bericht des VN-Generalsekretärs zu den beiden Resolutionen hat u.a. vor der Gefahr einer humanitären Katastrophe gewarnt.
- Die humanitäre Notlage hält wegen der Weigerung der Bundesrepublik Jugoslawien, Maßnahmen zu einer friedlichen Lösung zu ergreifen, unvermindert an.
- In absehbarer Zeit ist keine weitere Resolution des VN-Sicherheitsrates zu erwarten, die Zwangsmaßnahmen mit Blick auf den Kosovo enthält.
- Die Resolution 1199 des VN-Sicherheitsrates stellt unmißverständlich fest, daß das Ausmaß der Verschlechterung der Lage im Kosovo eine ernsthafte Bedrohung für Frieden und Sicherheit in der Region darstellt."
- Unter diesen außergewöhnlichen Umständen sei die Drohung mit und gegebenenfalls der Einsatz von militärischer Gewalt gerechtfertigt.
Zur Beurteilung dieser kreativen Rechtskonstruktion sei zunächst einmal auf den NATO-Vertrag selbst verwiesen, der die NATO ausdrücklich an Satzung und Ziele der UNO bindet. In Artikel 1 verpflichten sich die NATO-Staaten "sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar ist."
In der UN-Charta wird in Art. 2 Ziffer 4 die Androhung oder Anwendung von Gewalt geächtet. Ausnahmen sind lediglich militärische Zwangsmaßnahmen, die der Sicherheitsrat "zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" beschließt (Art. 42). Zur Durchführung kann er regionale Abmachungen oder Einrichtungen (also z.B. die NATO) in Anspruch nehmen. "Ohne Ermächtigung des Sicherheitsrates dürfen Zwangsmaßnahmen aufgrund regionaler Abmachungen oder seitens regionaler Einrichtungen nicht ergriffen werden..." (Art. 53) Nur in diesem Rahmen ist laut Völkerrecht Gewalt legitim. Die einzige Ausnahme bildet das Selbstverteidigungsrecht (Art. 51). Andere militärische Handlungen sind Angriffskriege.
Also wird von der NATO genau der Artikel 51 nachgeschoben. Der US-Staatssekretär für politische Angelegenheiten im Pentagon, Walter Slocombe, kommt z.B. mit folgender Argumentation daher: "Wir bestreiten nicht, daß eine Vollmacht der UNO nützlich und wünschenswert ist. Tatsache ist jedoch, daß die UN-Charta Artikel 51 enthält, der das Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung anerkennt, und diese Definition ist unabhängig vom UN-Sicherheitsrat und rechtlich separat. Unseres Erachtens beinhalten Artikel 51, die UN-Charta und das Völkerrecht im Allgemeinen, daß Staaten gemeinsam handeln dürfen, wenn ihre Sicherheit bedroht ist und nicht erst abwarten müssen, bis es zur Invasion kommt. Im Falle des Kosovo oder im Falle Bosniens handelt es sich beispielsweise um Situationen, in denen die sehr reale Gefahr eines Ausufern des Konflikts bestand, wenn nicht gehandelt worden wäre. Eine solche Instabilität in der Region kann Stabilität und Sicherheit bedrohen, und Konflikte können auf NATO-Mitgliedstaaten übergreifen." Als nach Beginn des NATO-Bombardements die Flüchtlingsbewegungen aus Kosovo einsetzten, trat diese Begründung natürlich noch mehr in den Vordergrund: "Ich bin der Meinung, daß es sich hier um einen Fall der Nothilfe handelt, der Notwehr zugunsten eines Dritten, nämlich der Kosovo-Albaner."
Die JuristInnen-Vereinigung IALANA kann diese Rechtskonstruktionen nicht nachvollziehen: "Der Ausnahmefall des Art. 51 UN-Charta, der die Notwehr und Nothilfe zugunsten eines angegriffenen Staates rechtfertigt, liegt evidentermaßen nicht vor, denn keiner der NATO-Staaten ist militärisch angegriffen worden: kein angegriffener Staat hat um Nothilfe gebeten."
22. Die NATO-Luftangriffe ohne UN-Mandat verstoßen auch gegen deutsches Recht. Bereits mit der Zusage, 14 Tornado-Flugzeuge und 500 Soldaten für einen NATO-Militärschlag bereitzustellen, hat die alte Bundesregierung im Oktober 1998 faktisch die Vorbereitung eines Angriffskrieges unterstützt. Am 16.10.98 hat der Bundestag mit großer Mehrheit diesen Völkerrechtsbruch unterstützt. Denn der Artikel 26 des Grundgesetzes stellt bereits die Vorbereitung eines Angriffskrieges unter Strafe. Der darauf fußende §80 des Strafgesetzbuches regelt das Straßmaß (mindestens 10 Jahre Freiheitsstrafe), sofern die Gefahr eines Krieges für die BR De herbeiführt wird. Inzwischen kommt bei diversen Militärs das deutsche Soldatengesetz in Betracht, das in seinem §10 Abs.4 jedem militärischen Vorgesetzten verbietet, völkerrechtswidrige Befehle zu geben.
23. Mit ihren Luftangriffen hat die NATO nicht nur jugoslawische Städte und Gemeinden in Schutt und Asche gelegt, sondern auch die internationale Rechtsordnung und das Völkerrecht. Der Kosovo-Krieg ist dabei nicht isoliert zu sehen, da er mit der Durchsetzung der neuen NATO-Strategie verknüpft ist. Diese soll die Selbstmandatierung der NATO institutionalisieren. In den Worten des stellvertretenden US-Außenministers Talbott: "Gleichzeitig müssen wir darauf achten, die NATO keinem anderen internationalen Gremium unterzuordnen... das Bündnis muß sich das Recht und die Freiheit vorbehalten, immer dann zu handeln, wenn seine Mitglieder es im Konsens für notwendig halten." Wie die Rotgrüne Bundesregierung zur neuen NATO-Strategie steht, hat Außenminister Fischer in seiner ersten Rede vor der Münchener Wehrkundetagung am 6.Februar 1999 ausgeführt : "Zwangsmaßnahmen bedürfen im Regelfall der Legitimierung durch die von der Weltgemeinschaft dazu autorisierte Organisation, die Vereinten Nationen." Auf Deutsch: Im Ausnahmefall geht es ohne die UNO, eine Formulierung mit der man auch in Washington keine Probleme haben dürfte, denn damit wäre immerhin prinzipiell die Möglichkeit zur Selbstmandatierung verankert. Während man also beim Grundsätzlichen übereinstimmt, plädiert Fischer bei der "Debatte um die Ausdehnung der Reichweite des Bündnisses" für "Umsicht und Zurückhaltung" und lehnt eine ‚globale NATO' mit den Worten von US-Außenministerin Albright als ‚hogwash' (= Quatsch) ab. Dabei gibt es wiederum keinen Dissens zur US-Regierung. Denn Albright sieht die zukünftige NATO geographisch als "eine Kraft des Friedens vom Mittleren Osten bis nach Zentralafrika." Und ihr Stellvertreter Talbott betont: "Niemand schlägt vor, daß wir NATO-Truppen auf die Spratley Inseln entsenden." Da die Inselgruppe in Ostasien liegt, wäre hier vermutlich die Militärallianz USA-Japan gefragt. Der NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien ist im Grunde der Probelauf für die neue NATO-Strategie.
24. Wie in jedem anderen Krieg werden von den NATO-Bomben nicht nur militärische Einrichtungen und Soldaten getroffen, sondern auch ZivilistInnen getötet. Obwohl die NATO modernste Militärtechnik einsetzt, ist sie keineswegs in der Lage, ihre Waffen immer so präzise einzusetzen, daß nur die gewünschten Ziele vernichtet werden. Das beweisen die Einschläge, die es in den letzten Tagen in Nachbarländern wie Bulgarien gegeben hat. Glücklicherweise sind die serbischen AKWs bisher nicht getroffen worden . Der Bombenkrieg hat die bekannten ökologische Auswirkungen auf die Nachbarländer, z.B. werden die Ernten für Getreide, Obst und Gemüse kontaminiert sein . Mit voller Absicht hat die NATO die Donaubrücke von Novi Sad zerstört, obwohl diese ein historisches Denkmal war (Grund: 1941 hatten die Nazis auf der Brücke ein Massaker an Juden verübt).
25. Das angegebene Ziel der NATO-Luftangriffe, eine humanitäre Katastrophe im Kosovo abzuwenden, ist nicht erreicht worden. Im Gegenteil: Die NATO-Angriffe haben neuen Haß in der Region gesäht. Da die serbische Regierung der NATO militärisch wenig entgegenzusetzen hat, rächt sie sich an der kosovo-albanischen Bevölkerung. Ergebnis des NATO-Krieges ist die Beschleunigung und Systematisierung der serbischen Vertreibungspolitik. Die Kosovo-AlbanerInnen werden aus Dörfern und Städten vertrieben, mit Bussen und Zügen zur mazedonischen Grenze gefahren. Hunderttausende sind auf der Flucht, vor den Serben und vor den NATO-Bomben, die nicht zwischen AlbanerInnen und SerbInnen unterscheiden.
26. Die Entsendung von russischen Kriegsschiffen in die Adria kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß Rußland als traditioneller Verbündeter und Partner Jugoslawiens bzw. Serbiens keine militärische Hilfe leisten wird. Durch die Abhängigkeit von westlicher Wirtschafts- und Finanzhilfe ist Rußland von den NATO-Staaten erpreßbar. Rußland muß für die IWF-Kredite einen politischen Preis entrichten.
27. Vor dem Hintergrund, daß die Luftangriffe Belgrad offenbar nicht zum Nachgeben bewegen, hat die NATO zwei militärische Optionen: Erstens wie in den Kriegen in Kroatien und Bosnien-Herzegovina kommt es zu einem Zusammenwirken von NATO-Luftangriffen und lokalen Bodentruppen [in diesem Fall (kosovo-)albanischen]. Die NATO-Luftwaffe würde durch Ausschalten militärischer Ziele in Jugoslawien die militärische Überlegenheit der serbischen Seite reduzieren bzw. beseitigen. Außerdem würden die Kosovo-Albaner großzügig mit US-amerikanischen Satellitenbildern unterstützt, was eine informationstechnische Überlegenheit begründete. Auch über die Lieferung schwerer Waffen an die UCK wird in den USA bereits diskutiert. Angesichts der militärischen Schwäche der UCK ist allerdings die reale Grundlage für entsprechende Szenarien fraglich, was auf die zweite militärische Option verweist: Den Einsatz von NATO-Bodentruppen. Tausende NATO-Soldaten sind bereits in der Region stationiert.
28. Das häufig bemühte Argument, auch in Bosnien hätten die NATO-Luftangriffe den Frieden herbeigeführt, ist nicht stichhaltig. Hier wird v.a. die wie von unsichtbarer Hand gesteuerte adäquate Territorialaufteilung in Kroatien und Bosnien im Vorfeld übersehen: Im Mai 1995 konnte Kroatien nahezu kampflos Westslawonien erobern, die serbischen Kämpfer wurden unter UN-Aufsicht in den serbischen Teil Bosniens unter Mitnahme ihrer Waffen expeditiert. Anschließend durften die Serben mit Wissen der westlichen Geheimdienste und Regierungen muslimische Enklaven kassieren. Selbst das Massaker von Srebrenica war in westlichen Hauptstädten im Vorfeld bekannt und wurde als Teil des territorialen Gesamtdeals billigend in Kauf genommen. Anschließend waren im August die Kroaten in der Krajina am Zuge und schließlich wurden bis September durch Vorrücken den muslimischen Truppen die letzten Frontbegradigungen in Bosnien selbst vorgenommen. "Zufällig" war damit etwa die Territorialaufteilung erreicht, die Grundlage aller Friedensvorschläge war. All diese Fakten waren im Herbst 1995 bereits bekannt. Z.B. war in der taz enthüllt worden, daß der US-amerikanische, der französische und der deutsche Geheimdienst den innerserbischen Funkverkehrs vor Srebrenica en details abgehört hatte.
29. Auch im Kosovo-Konflikt gab und gibt es nicht-militärische Alternativen. Sie scheitern nicht zuletzt an militärischen Denkblockaden der meisten einflußreichen PolitikerInnen. Der Wille zu ihrer politischen Umsetzung war und ist bisher nicht gegeben. Dennoch soll eine nicht-militärische Lösung, die an der entstandenen Situation ansetzt, kurz skizziert werden.
30. Zuallererst muß Raum für eine politische Lösung geschaffen werden. Die beginnt mit einem Waffenstillstand. Dazu gehört, daß alle drei KriegsteilnehmerInnen, Serbien, die UCK und die NATO, aufhören zu schießen und zu bomben. Die NATO muß ihre Angriffe ohne Wenn und Aber entstellen. Dabei darf nicht die spätere Lösung für den Kosovo vorweggenommen werden, sondern der Prozeß muß angesichts der antagonistischen Positionen beider Bürgerkriegsparteien offen angelegt werden. Hier kann das Rambouillet-Abkommen als Orientierung gelten. Am Ende des Prozesses kann ein eigener Staat Kosova, eine Teilung des Gebiets, aber auch eine Lösung innerhalb des heutigen Jugoslawiens stehen. In dem Verhandlungsprozeß müssen die Interessen beider Bürgerkriegsparteien ausbalanciert werden. Auch wenn die NATO mit ihrer überlegenen Kriegsmaschinerie kurzfristig einen militärischen Sieg gegen Serbien erreichen können mag, so bedeutet das für die nachhaltige Lösung des Konflikts eine Hypothek: Eine totale militärische Niederlage Serbiens legt den Keim für eine Revanche ("Balkan-Versailles"), die sich nicht nur gegen die Kosovo-AlbanerInnen, sondern auch gegen die militärisch beteiligten NATO-Staaten wenden können. Nachhaltig läßt sich der Kosovo-Konflikt nicht einseitig gegen die formulierten Interessen der serbischen Seite, also auf deren Kosten lösen, sondern nur durch einen Interessensausgleich, bei dem beide Seiten das Gesicht wahren. Insofern müßte bei einer Abtrennung des Kosovo ein politisch-wirtschaftlicher Preis an Serbien entrichtet werden.
31. Es bedarf einer neutralen Vermittlung. Das ist per definitionem eine, die von allen Konfliktteilnehmern, Belgrad, Kosovo-AlbanerInnen und NATO akzeptiert wird. Die NATO ist als Vermittlerin absolut untauglich, spätestens seit sie Kriegspartei geworden ist. In Frage kommen kirchliche Würdenträger, anerkannte Persönlichkeiten wie Nelson Mandela oder der UN-Generalsekretär. Dem kann man aber nur raten nach Belgrad zu reisen, wenn die NATO einen Verhandlungsspielraum eröffnet. Darum kommt es entscheidend darauf an, daß starke Anti-Kriegs-Bewegungen in den NATO-Ländern ihre Regierungen zu Kompromissen zwingen.
32. Eine Lösung des Kosovo-Konflikt muß mit der vorhandenen serbischen Regierung verhandelt werden, auch wenn vielen diese nicht gefallen mag und ihnen als verbrecherisches Regime gilt. Es kann aber nicht Aufgabe der internationalen Staatengemeinschaft sein, Regierungen von UN-Mitgliedsstaaten zu stürzen. Wenn, dann wäre es Sache der serbischen Bevölkerung, sich eine andere Regierung zu suchen. Dabei sollte klar sein, daß es in der Kosovo-Frage zwischen Regierung und Opposition in Serbien bereits in der Vergangenheit praktisch keine Differenzen gab. Lediglich kleine pazifistische Gruppen (z.B. Frauen in Schwarz, serbische GRÜNE) und kritische Medien praktizierten den serbischen Nationalismus nicht mit. Diesen Kräften hat die NATO mit ihren Luftangriffen einen Bärendienst erwiesen, ihr Rückhalt in den serbischen Bevölkerung strebt gegen Null, die Verfolgung durch das Milosevic-Regime nimmt zu. Deshalb gilt es jetzt erst recht, die pazifistische Kräfte in Serbien zu unterstützen. Ihnen sollte unsere Solidarität gelten. Wir sollten auch die im Kosovo eingesetzten Polizisten, Sicherheitskräfte und Soldaten ausdrücklich zum Desertieren aufrufen. Entsprechend müssen Deserteure und Kriegsdienstverweigerer in Deutschland politisches Asyl erhalten.
33. Das Kosovo selbst sollte entmilitarisiert werden. Die serbischen Militärkräfte und schweren Waffen müssen abgezogen werden. Alle ausländischen Kämpfer - auf welcher Seite auch immer - müssen das Land verlassen. Die Entwaffnung der (vorwiegend albanischen) Bevölkerung kann durch ein Aufkaufprogramm für Kleinwaffen erfolgen. Dadurch wird ein wirtschaftlicher Anreiz zur individuellen Abrüstung gesetzt. Der gesamte Prozeß kann nur unter internationaler Beteiligung und Beobachtung erfolgreich sein. Da die internationale Staatengemeinschaft immer noch keine internationalen Polizeikräfte in genügendem Umfang aufgebaut hat, könnte als Personal teilweise auch auf UN-Blauhelmsoldaten aus den entsprechenden Stand-by Abkommen mehrerer Länder mit der UNO zurückgegriffen werden. Diese müßten auf Grundlage eines Kapitel VI-Mandates der UNO (und damit mit Zustimmung beider Bürgerkriegsparteien!) stationiert werden. In eine solche klassische friedenserhaltende Maßnahme, sei es eine Blaumützen- oder Blauhelmaktion, müßten unbedingt russische Einheiten einbezogen werden. Die Haupt-NATO-Mächte USA, F, GB und Deutschland, zu denen Jugoslawien die diplomatischen Beziehungen abgebrochen hat, sind für die Überwachung eher ungeeignet. Die Einheiten sollten aus Staaten sein, die an dem Krieg nicht beteiligt sind.
34. In den vergangenen Jahren war die serbische Seite nicht bereit, freiwillig über den Kosovo-Konflikt zu verhandeln und versuchte die Frage gewaltsam zu lösen. Auch im weiteren Prozeß kann es notwendig sein, Druck einzusetzen. Dieser muß keineswegs militärischer Art sein. Wirtschaftlichen Druck kann in erster Linie Rußland ausüben, das wichtiger Handelspartner Serbiens ist (Erdgas, Treibstoff, aber auch Waffen). Die Erfahrungen aus dem von 1992-95 geltendem Embargo gegen Jugoslawien unterstreichen die prinzipiellen Erfolgsaussichten dieses Instruments in dem konkreten Fall: Schließlich war Jugoslawien auch damals schon von Energieimporten abhängig. Fachleute schätzten, daß Jugoslawien bei einer lückenlosen Ölsperre innerhalb von 10 Tagen zusammenbrechen würde . Die Weigerung der internationalen Staatengemeinschaft, den Nachbarländern wirtschaftliche Ausgleichszahlungen bei Einhaltung des Embargos zukommen zu lassen, verhinderte dies. Dadurch wurde das Embargo seiner Wirksamkeit beraubt und ausgehebelt. Seit 1993 wird vor diesem Hintergrund die Einrichtung eines UN-Sanktionshilfefonds gefordert. (Die rotgrüne Bundesregierung will in dieser Richtung zwar prinzipiell aktiv werden, aber praktisch ist bisher nichts geschehen.)
35. Wie wenig die frühere Bundesregierung von der Anwendung nicht-militärischer Mittel hielt, zeigt der Vorfall, daß die Bundeswehr in Jugoslawien Kampfuniformen schneidern ließ und diese Geschäftsbeziehung auch nach Verhängung der Wirtschaftssanktionen nicht sofort stoppte. In den letzten Tagen ist also die absurde Situation eingetreten, daß die Bundeswehr ihre eigene Kleiderfabrik bombardiert.
36. Der politische Verhandlungsprozeß sollte mit wirtschaftlicher Unterstützung für das Kosovo und die BR Jugoslawien einhergehen. Ähnlich wie in Bosnien-Herzegovina sollte ein entsprechender Fonds in der Größenordnung von mehreren Milliarden Dollar pro Jahr bereitstehen. Verglichen mit den Kosten für eine militärische Lösung ist die genannte Summe bescheiden. Allein der deutsche Beitrag für NATO-Bodentruppen war im Februar mit ca. 600 Mio. DM pro Jahr veranschlagt worden, der Bombenkrieg verschlingt täglich rund 500 Mio. Hier ist der politische Wille und die Entschlossenheit der reichen westlichen Industriestaaten gefragt. Wir begrüßen deswegen, daß auf Einladung der schwedischen Regierung am 23.2.99 VertreterInnen von 60 Staaten und internationalen Organisationen zu einem ersten Treffen über den Wiederaufbau des Kosovo zusammengekommen sind. Auch um sicherzustellen, daß die Hilfe wirklich ankommt, bedarf es internationaler Präsenz im Kosovo. Ein wichtiges Mittel im Friedensprozeß kann auch die stufenweise konditionierte Aufhebung der Wirtschaftssanktionen gegen die BR Jugoslawien sein.
37. Zuallererst muß allerdings die Flüchtlingskatastrophe abgewendet werden. Prinzipiell gibt es dafür zwei Möglichkeiten, die jeweils mit Nachdruck verfolgt werden müssen: Zum einen müssen die Flüchtlinge im Kosovo durch internationale Hilfe humanitär versorgt, zum anderen müssen Flüchtlinge vorübergehend von anderen europäischen Ländern aufgenommen werden. Voraussetzung für die erste Lösung wäre das Vertrauen der Flüchtlinge, daß sie in ihren Dörfern, die zum großen Teil zerstört sind, nicht massakriert werden. Hierfür ist eine internationale Präsenz unverzichtbar. Auch den serbischen Flüchtlingen muß geholfen werden. Um eine solche Lösung zu ermöglichen, muß die NATO ihre Luftangriffe sofort beenden, und nicht nur die serbische Seite, sondern auch die kosovo-albanische Seite müssen die Kampfhandlungen einstellen und die Flüchtlinge zur Rückkehr auffordern. Die internationalen UN-Einheiten müßten binnen Tagen an Ort und Stelle sein. Dabei könnte die NATO Transportkapazitäten bereitstellen. Die zweite, parallel zu verfolgende Option setzt voraus, daß insbesondere die westeuropäischen Länder sich bereit erklären, Flüchtlinge aufzunehmen, dann Transport und Unterbringung organisieren. Gerade Deutschland, das durch Beteiligung am Angriffskrieg gegen Jugoslawien für die Flüchtlingsbewegungen Mitverantwortung trägt, muß Flüchtlinge ohne Wenn und Aber aufnehmen. Für die bereits hier lebenden Flüchtlinge muß ein Abschiebestop erklärt werden.

Uli Cremer
e-mail: UliCremer@aol.com


Hamburg, den 5. April 1999
(1. Fassung 28.06.98, 2. Fassung 02.10.98)