Horst-Eberhard-Richter
Immer wieder rufen Journalisten an: Wo bleibt ihr Pazifisten denn?
Wo sind die Massen, die ihr frueher auf die Strassen gebracht habt?
Einige fragen beunruhigt, andere triumphierend, als sollte man ihnen den Bankrott
der Friedensbewegung eingestehen. Aber warum sollte man? Bricht ein Feuer aus,
weil der Brandschutz mangelhaft war, wird man diesen doch schleunigst verstaerken
muessen. Pazifismus, wie ihn Albert Einstein, Sigmund Freud, Stefan Zweig, Thomas
Mann, Romain Rolland, Bertrand Russell gemeint und 1930 in einem Manifest verkuendet
haben, will wie Brandschutz vorbeugen. Die Proteste der 80er Jahre
gegen Atomraketen wollten einen Atomkrieg verhueten. Das hatte Sinn. Ist Krieg
ausgebrochen, hat der Pazifismus im Moment verloren. Doch nur, weil die Anstrengungen
zur Verhuetung zu schwach oder ungeeignet waren.
Sinnvoll wie eh und je
Was heisst eigentlich Pazifismus? Im Grossen Brockhaus, 15. Ausgabe, heisst
es: "Pazifismus, Friedensbewegung, die
Gesamtheit der Bestrebungen zur Ausschaltung des Krieges aus dem internationalen
Leben." Seine praktischen Forderungen
sind "militaerische Abruestung, die Loesung internationaler Streitfaelle
auf dem Wege der Schiedsgerichtsbarkeit und die
Schaffung einer die einzelnen Staaten umfassenden Gesamtorganisation".
- Alle drei Forderungen sind nach fast 70 Jahren
so sinnvoll wie eh und je. Ohne florierenden Ruestungshandel waere Saddam Hussein
nicht zu einer Gefahr geworden, haette die Gewalt in Kurdistan und im Kosovo
nicht ihre bestuerzenden Ausmasse annehmen koennen. Fuer eine internationale
Schieds-gerichtsbarkeit haetten wir die Vereinten Nationen, wenn deren Autoritaet
und Machtmittel nicht systematisch geschwaecht worden waeren. So konnte sich
die Nato, als westliches Militaerbuendnis zum unparteiischen Schiedsrichten
denkbar ungeeignet, die Befugnis einer Weltpolizei anmassen. Mit der Folge:
Dem eigenen Buendnispartner Tuerkei wird gestattet, die Separationsbestrebungen
der Kurden mit Krieg und Folter zu unterdruecken, waehrend die Serben fuer ihr
Vorgehen gegen die albanischen Unabhaengigkeitskaempfer im Kosovo bombardiert
werden.
Das Drama im Kosovo war vorhersehbar. Jahrelang bestand die Chance, den gemaessigten
Albanerfuehrer Rugova zu unterstuetzen und dessen Entmachtung durch die Untergrundarmee
U+CK zu verhindern. Die Friedensbewegung hatte gewarnt und gemahnt. Aber nichts
ist geschehen. Die geschwaechte UNO war nicht zur Stelle. Der Westen hat sich
nicht geruehrt, solange Aussicht bestand, eine pazifizierende vorbeugende Krisenintervention
zu betreiben. Die Forderung der Friedensbewegung nach Einrichtung von unabhaengigen
Konfliktberatungsgruppen unter UNO-Mandat blieb ohnehin ungehoert. Aber jetzt,
da die Nato mit ihren Luftschlaegen die Grausamkeiten im Kosovo noch verschaerft,
statt sie zu stoppen, jetzt heisst es: Wo bleiben die Pazifisten? Natuerlich
sind die erst mal genauso entsetzt wie alle ueber die unfassbaren Greuel und
die Gewaltspirale - mehr Bomben, noch mehr Hass und Barbarei. Nun hat sich alles
auf ein
Entweder-Oder zugespitzt: entweder weitere Gewalt mit der Gefahr ihrer grenzenlosen
Eskalation oder Mut zu einer Verstaendigung auch um den Preis, die Niederlage
der rein militaerischen Straf- und Einschuechterungsstrategie einzugestehen.
Nicht, was man noch mehr gegen Milosevic, sondern, was man sofort fuer die halbe Million Menschen in Angst und Elend auf der Flucht un kann, ist momentan die einzige entscheidende Frage. Wenn es jetzt noch um Sieg geht, so nicht mehr um den der Nato, sondern nur noch um den der verfolgten Menschen - auf beiden Seiten.
Horst-Eberhard Richter ("Lernziel Solidaritaet", "Psychologie
des Friedens") ist Direktor des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt a.
M., Ehrenmitglied der IPPNW Deutschland
(Internationale Aerzte fuer die Verhuetung des Atomkrieges, Aerzte in sozialer
Verantwortung),
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Erstveroeffentlichung im Schweizer "Tages-Anzeiger" vom 3. 4. '99
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