Peter Bartelheimer
Warum die NATO-Militäraktionen gegen die BR Jugoslawien beendet werden müssen
(Beitrag für den Rundbrief des Kreisverbands Frankfurt/Main, 11.04.99)


Was uns eint und was uns trennt


Im Kosovo führt das Milosevic-Regime einen Vernichtungs- und Vertreibungskrieg gegen die große albanische Mehrheit, in dem sich alle nationalistischen Greuel und humanitären Ka-tastrophen des bosnischen Sezessionskriegs wiederholen. Bündnis 90 / DIE GRÜNEN eint der Abscheu vor der hunderttausendfachen Verletzung von Menschenrechten, vor allem seitens des serbischen Nationalismus, und der Wille, diese Gewaltakte zu beenden. Uns eint hoffentlich auch der Einsatz dafür, Deutschland zu einem offenen Land für Flüchtlinge aus der Region zu machen. Uns trennt die Frage, ob die Kriegshandlungen der NATO gegen die BR Jugoslawien in dieser Lage eine sinnvolle und vertretbare Antwort darstellen, oder ob sie illegitim und schädlich sind und daher sofort und einseitig eingestellt werden sollen. Diese Frage spaltet auch die gesamte politische Öffentlichkeit der Bundesrepublik und West-europas.


Der Streit rührt an Grundüberzeugungen. Er ist in der Sache mit konsequenter Schärfe, jedoch ohne mora-lische Be-kenntnisse oder Bezichtigungen zu führen. Da die Bundesrepublik und die Euro-päische Union politische Mitverantwortung für die Lage auf dem Balkan tragen, ist zu deren Besserung unsere politische Urteilskraft und nicht unsere private Moral gefordert. Die Forderung nach sofortiger und einseitiger Einstellung der NATO-Kriegshandlungen gegen die BR Jugoslawien kann von Pazifisten, antimilitaristischen Kritikern der NATO und von "Realpolitikern" vertreten werden, die ihren politischen Verstand nicht in den Presse-konferenzen des Bundes-verteidigungsministers abgeben wollen. (Ich zähle mich zu der zweiten Gruppe.)


Legalität, Legitimität und Menschenrechte

Die NATO-Kriegshandlungen gegen die BR Jugoslawien verletzen unstreitig Völkerrecht (die UN-Charta, den 2-plus-4-Vertrag) und das Recht der Bundesrepublik Deutschland (Art. 26 GG, § 80 StGB). Sie könnten dennoch legitim sein, wenn damit den Menschenrechten im Kosovo bzw. in Serbien Geltung verschafft würde. Dies ist aber offensichtlich nicht möglich. Die NATO-Luftangriffe können die militärische Fähigkeit des Milosevic-Regimes, die alba-nische Zivilbevölkerung zu terrorisieren und zu vertreiben, nicht brechen. Sie hatten das Ende jeder internationalen Präsenz im Kosovo zur Voraussetzung und führten unmittelbar zu einer radikalen Verschärfung der Vertreibungspolitik und des Flüchtlings-elends. Zugleich schwäch-ten sie die innerserbische Opposition und damit die Ansätze einer Gesellschaft, in der Men-schen-rechte einklagbar wären, wirksam und auf lange Sicht. Die NATO kennt die Gesellschaften nicht, die sie bombardiert, und will sie nicht kennen. (Sie will nicht einmal über die UCK Näheres wissen, obwohl diese durch die Militäraktion zum faktischen Bündnis-partner der NATO avancierte.) Ihre Politik hat weder in Serbien noch in Albanien gesell-schaft-liche Ansprech-partner, weshalb eine Besetzung des Kosovo durch Bodentruppen nicht nur militärisch, sondern auch politisch in einer Katastrophe enden muß.


Der hohe politische Preis, der für diesen Krieg zu zahlen ist - Beugung des grundgesetzlichen Ver-bots von Angriffskriegen, Aushöhlung des UN-"Gewaltmonopols" und Blockade der notwendigen UN-Reform, Schwächung anderer Systeme kollektiver Sicherheit wie der OSZE, Selbstmandatierung der NATO und Gewöhnung der Bundesrepublik an Einsätze der Bundeswehr außerhalb des NATO-Gebiets, Spaltung der Balkan-Kontaktgruppe und Isolation Rußlands - all das läßt sich also nicht mit dem Ziel recht-fertigen, den Menschenrechten im Kosovo Geltung zu verschaffen oder in der internationalen Politik größeres Gewicht zu geben. (Am Rande: Die NATO ist kein System kollektiver Sicherheit.)


Einmal mehr zeigt sich: Menschenrechte begrenzen staatliche Gewalt und werden daher nicht durch Staaten, sondern gegen Staaten errungen. Nur wenn innergesellschaftliche Be-we-gungen solche Rechte fordern, können als "List der Geschichte" auch diplomatische, polizeiliche oder militärische Aktionen deren Durchsetzung begün-stigen. Davon sind wir im Kosovo bzw. in Serbien weit entfernt.


Militärisches Abenteurertum als Ersatzhandlung für unterlassene Politik
Dieser Krieg setzt nicht Politik mit anderen Mitteln fort, sondern bemäntelt schlecht und recht eine ganze Reihe politischer Unterlassungen. Solange er geführt wird, ist die Bearbeitung aller Fragen blockiert, von denen eine politische Lösung abhängt. Allmachtphantasien und Ohnmachtserlebnisse schießen zum Ruf nach der (internationalen) Polizei zusammen - in diesem Fall eine gefährliche Ersatzhandlung.


Acht Jahre nach dem endgültigen Zerfall Jugoslawiens fehlt der deutschen und der westlichen Politik jedes strategische Konzept zur Überwindung der autoritären nationalistischen Regime auf dem Balkan (für die das Regime Milosevics das widerlichste, aber beileibe nicht das einzige Beispiel gibt). Nicht zuletzt diese Konzeptionslosigkeit nimmt den NATO-Kriegs-handlungen die politische Legitimität. Das offizielle Kriegsziel - international kontrollierte Autonomie des Kosovo - ist längst hinfällig. Jede "politische Lösung" wird also mit dem bisherigen Tabu brechen, völkerrechtliche Grenzen auf dem Balkan zu verändern, worauf die westliche Politik völlig unvorbereitet ist. Die Chancen der Region auf wirtschaftliche und politische Westintegration - der eigentliche Einsatz, um den es für die Teilrepubliken des ehemaligen Jugoslawien geht - werden nicht öffentlich nach klaren Kriterien verhandelt, sondern unter der Hand selektiv verteilt, woraus immer neue Spannungen resultieren müssen. Bis heute fehlt eine multi-ethnische, als neutral und objektiv empfundene Gegenöffentlichkeit für die Teil-republiken des ehemaligen Jugoslawien (z.B durch ein OSZE-kontrolliertes Radio- und Fernsehprogramm) - ein gerade-zu unglaubliches Versäumnis. Bis heute verfolgt der Westen keine abgestimmte, am humanitären Völkerrecht orientierte Flüchtlingspolitik gegenüber den Opfern nationalistischer Vertrei-bungen. Solange sie Kriegspartei ist, kann die Europäische Union das Versäumte nicht nachholen.


Nationalistischer Terror und Flüchtlingselend fordern nicht nur Regierungshandeln, sondern auch eigene Aktivitäten von Bündnis 90 / DIE GRÜNEN und der Friedensbewegung. Die Jahre, in denen die Partei und ihr Umfeld auf die Legitimität von Bundeswehreinsätzen auf dem Balkan vorbereitet wurde, waren verlorene Jahre für die Suche nach Bündnispartnern und zivilen Aktionsformen in den Teilrepubliken des ehemaligen Jugoslawien, in deren zahlenmäßig starken Migrantengemeinschaften in der Bundesrepublik sowie in der Flücht-lingsarbeit. Auch Bündnis 90 / DIE GRÜNEN können sich diesen Aufgaben nicht neu stellen, solange sie Kriegspartei sind.


Krieg anfangen ist leicht, ihn beenden schwer


Der kollektive Leichtsinn, mit dem die NATO ihre Kriegshandlungen gegen die BR Jugoslawien zunächst angedroht hat, um sie sodann in fataler machtpolitischer Logik wahrmachen zu müssen, richtet die hierbei maßgeblich handelnden Politiker. Mit Beginn der Luftangriffe hat die NATO die politische Initiative verloren und durch Verlassen des völkerrechtlichen Rahmens der UN und der OSZE ihren politischen Handlungsspielraum drastisch begrenzt. Daher bleiben die Verantwortlichen auch jede glaubwürdige Antwort auf die Frage schuldig, wie eine politische Lösung eingeleitet werden könne. Da die Luftangriffe ihre erklärten Ziel nicht erreichen können, bleibt die Alternative: militärische Eskalation durch Einsatz von Bodentruppen und Aufrüstung der UCK (was nicht auf den Kosovo begrenzt bleiben könnte) oder einseitige Beendigung der Angriffe. Letzteres kann gün-stigstenfalls von einer inter-nationalen Initiative zur Verhandlungen und zur neutralen Überwachung des Kosovo begleitet sein, die jedoch nicht von der NATO ausgehen kann. Für den Erfolg einer solchen Vermittlung - etwa durch die UN oder die OSZE - wird nun auch die NATO Vorleistungen anbieten müssen.


Die sofortige Beendigung - oder wenigstens "Aussetzung" - der NATO-Angriffe auf die BR Jugoslawien ist also die Voraussetzung dafür, politische Handlungsfähigkeit zuück-zu-ge-winnen. Gegen diese Forderung wird nun eingewandt: Gleich wie man die bisherige Politik der NATO seit Rambouillet beurteile, stärke ein einseitiger Verzicht auf Angriffe das Milo-sevic-Regime und sei deshalb nicht zu vertreten. Da sich dieser Einwand auch auf die For-derung nach Beendigung der Angriffe ausweiten läßt, wäre sein logischer Endpunkt das Ansinnen eines "Burg-friedens", womit nach der Bundesregierung auch noch die sie tra-genden Parteien politisch handlungsunfähig und unter NATO-Kuratel gestellt würden. Die Opposition gegen die derzeitigen NATO-Strategie wird in den nächsten Wochen und Monaten in allen westlichen Demokratien zunehmen. Ohne politische Kräfte, die sich außerhalb der Kriegs-logik und der Kriegspropaganda stellen, wäre die deutsche Gesellschaft strukturell keiner Friedensinitiative mehr fähig.


Einseitige militärische De-Eskalation seitens der NATO wird Milosevic kurzfristig propa-gandistisch für sich ummünzen können. Allein die wiedergewonnene politische Initiative des Westens kann dagegen sein Regime nachhaltig schwächen, während militärische Eskalation dieses nach-haltig stärkt. Verhandlungspartner jeder politischen Lösung wird auf jugo-sla-wischer Seite noch unaus-weich-licher als in der Vergangenheit Milosevic sein müssen, nachdem die NATO-Kampf-hand-lungen nun jede inner-serbische Oppo-sition zum Verstummen gebracht haben. Der Preis, der für das militärische Abenteuer der NATO zu zahlen ist, verteuert sich mit jedem Tag, den das Unvermeidliche hinausgeschoben wird. NATO-Diplomaten werden selbst all das eines Tages tun, was sie heute den Kritikern ihrer Kriegsführung vorwerfen.


Deutschland, so wird immer wieder eingewandt, könne im Rahmen der NATO nicht einseitig handeln. Wäre dem so, hätte ein GRÜN geführtes Außenministerium keine andere Existenzberechtigung, als NATO-Diplomatie in die Partei hinein zu vermitteln. Nach einem Jahrhundert bewaffneter deutscher "Sonderwege" ist jeder unbewaffnete Sonderweg vor der Geschichte und vor der europäischen Öffentlichkeit unmittelbar legitimiert.


Wir wußten, daß es beim Mitregieren einer militärischen Mittelmacht nicht immer schrecklich zivil zugehen würde. Bevor die Bundesregierung uns in einen unabsehbaren Krieg auf dem Balkan verstrickt, dürfen wir aber noch einmal nachdenken und haben als Partei das Recht, nein zu sagen. Bündnis 90 / DIE GRÜNEN steht es gut an, in den nächsten Wochen und Monaten der privi-legierte Ort dieses notwendigen Debatte in unserer Gesellschaft zu werden. Deshalb ist der Platz der Kriegsgegner in der Partei. Allerdings gehört zur Ehrlichkeit im innerparteilichen Streit auch das Eingeständnis, daß eine einseitige deutschen Initiative zur Beendigung der NATO-Kampfhandlungen mit dem Kabinett Schröder-Fischer nicht zu machen wäre. Das macht die Forderung nicht mehrheitsfähiger. Aber wird sie dadurch schon falsch?


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