NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien:

Mißbrauch der Menschenrechte

Dreizehn politisch-moralische Thesen
von Hans-Jürgen Schubert

Der NATO-Krieg gegen Jugoslawien wird, besonders von Clinton und Schröder, ausdrücklich moralisch begründet; die NATO wird als eine Art Hilfsorganisation dargestellt, die Menschenrechte verteidigt. Aber Moral ist kein privates Gefühl und kein argumentationsresistentes 'Gewissen', sondern ein komplexes soziales Spielregelsystem, das nicht für Politik einsetzbar ist, sondern an dem Politik sich messen lassen muß. Die RechtfertigungsVersuche der NATO-Staaten, einschließlich die der rot-grünen Bundesregierung, bestehen aus Populismus und Heuchelei. Hierzu einige Anmerkungen:


Die NATO braucht Kriege als Existenzberechtigung

Die offizielle Begründung für das Bestehen des Nordatlantischen VerteidigungsBündnisses wurde mit dem Zerfall des Warschauer Paktes fraglich. Die NATO muß, um der Frage nach ihrer Daseinsberechtigung auszuweichen, Kriege anfangen, um sich gegen das angegriffene Land verteidigen zu können. Die US-Regierung ist seit 1990 gutachterlich auf der Suche nach neuen Feindbildern. Die Besetzung der für die NATO unsicheren Balkanregion gehört zu den Zielen ihrer Außenpolitik.

Jeder Staat stellt seine Angriffe als Verteidigung dar

Die alten Römer haben in Germanien, Britannien, Gallien und Nordafrika verteidigt (die Zivilisation). Die Kreuzzügler vom 11. bis 13. Jahrhundert sind quer durch Europa nach Palästina gelaufen, um zu verteidigen (die heiligen Stätten der Christenheit). Die USA sind in der ganzen Welt am verteidigen (ihre vitalen Interessen). Die Russen verteidigten mit ihren Invasionen in Ungarn und der Chechoslowakei (die Errungenschaften des Sozialismus). Das nationalsozialistische Deutschland hat gegen Polen zurückgeschossen. Milosevic hat in Vukovar und Sarajewo verteidigt (die dort lebenden Serben). Das rot-grüne Deutschland befindet sich auf dem Balkan in der Verteidigung (der Menschenrechte).
'Defensive Aggression', mit der allerdings Selbstverteidigung gemeint ist, gilt als moralisch und kulturell akzeptabel. Das erleichtert die politische Darstellung eines Angriffs als Verteidigung. Das Objekt der Verteidigung ist eine Variable, die je nach herrschender Stimmung beliebig ausfüllbar ist.

Der NATO-Angriff ist völkerrechtswidrig

Dies wird von niemandem bestritten. Dennoch muß kodifiziertes Völkerrecht ebensowenig der letzte Maßstab fürs Handeln sein wie das Recht im eigenen Land. Gegen das geschriebene Recht zu handeln kann moralisch gerechtfertigt sein. Eine übergesetzliche moralische Begründung für einen Verstoß gegen Völkerrecht unter Berufung auf unveräußerliche Menschenrechte muß jedoch ohne Einschränkungen für Menschen als Menschen gelten, nicht für Menschen einer Nation, eines Erdteils, einer geografischen Nachbarschaft usw. Die Hervorhebung 'unseres Europas', wo 'so etwas' wie Massaker und Pogrom nicht passieren darf, ist positiv formulierter und praktizierter Rassismus gegen Menschen entfernterer Regionen, wo 'so etwas' offenbar passieren darf.

Nothilfe muß in allen vergleichbaren Fällen geleistet werden

Als in Ruanda vor fünf Jahren ein administrativ organisierter Völkermord geschah, wurde nicht über Nothilfe diskutiert. Für die Menschenrechtsverletzungen in den kurdischen Gebieten gilt ähnliches. Der Versuch einer Antwort auf die gespielt zynische Frage, warum nicht Ankara von deutschen Flugzeugen bombardiert wird, zeigt die Heuchelei der Begründungen des Angriffs auf Belgrad. (Das heißt selbstverständlich nicht, daß nun Ruanda und die Türkei bombardiert werden sollten, sondern daß das Menschenrechts-Argument im Fall Jugoslawiens nicht stimmt.)

Für 'Polizeiaktionen' der NATO fehlt der Gesellschaftsvertrag

Das Verhältnis zwischen NATO und Jugoslawien ist der rousseausche Naturzustand. Der NATO-Angriff erfolgt nicht auf einem zugrundeliegenden Einverständnis eines gemeinsamen Friedensinteresses. Die legitimierte staatliche Gewalt zur Konfliktbewältigung nach innen ist nicht vergleichbar mit der Gewaltanwendung nach außen gegenüber einem anderen Staat.

Ein 'Hitler' müßte in einem politischen Attentat ermordet werden

Der sogenannte Tyrannenmord wird in Theorie und Praxis dann gerechtfertigt, wenn alle gewaltfreien Mittel der Beseitigung einer Schreckensherrschaft versucht wurden und ausgeschöpft sind und die Aufrechterhaltung der Tyrannei von der Person (nicht vom System) abhängt. Das Mißlingen des Attentats auf Hitler wird an Gedenktagen bedauert, weil der Tod des einen politischen Verbrechers viele Menschen gerettet hätte. Für diejenigen, die Milosevic mit Hitler vergleichen, müßte als folgerichtige Rettungsaktion ein Attentat auf ihn in Aussicht genommen werden, statt sein Land zu bombardieren.

Die USA haben kein Interesse, Diktatoren zu beseitigen

Die USA haben vermutlich Bedenken, Tyrannen zu ermorden, haben aber weniger Bedenken, demokratisch gewählte Staatsleute, z.B. in Südamerika zu beseitigen, um sie durch dollarfreundliche Diktatoren zu ersetzen. Der Krieg gegen den Irak wird nicht geführt, um Saddam H. zu beseitigen und den Kurden aus Menschenrechtsgründen zur Autonomie zu verhelfen, sondern um das Erdöl Kuweits zu sichern.

Der NATO-Angriffskrieg erzeugt eine Welle der Gegenaufklärung

Die Toten der Bombenangriffe werden in den Medien gewöhnlich nicht erwähnt, aber der Abschuß eines US-Flugzeugs ist die 'Schreckensmeldung des Tages'. Die dumpfesten Vertreter der Kategorisierung in böse Feinde und gute Verbündete sind Scharping und Fischer. Bei Scharping figurieren die zu tötenden Serben nicht als Menschen, sondern als 'Kräfte' (5.4.99). Kriegführende Staaten praktizieren stets den verbalen Abbau von Tötungshemmungen und rufen zur zweifelsfreien Akzeptanz des 'Einsatzes' auf, um die Soldaten nicht zu 'verunsichern'.

Die deutsche Kriegsbeteiligung ist ein Impuls für die Modernisierung des traditionellen deutschen Militarismus

Scharping hat kurz nach Beginn des NATO-Angriffs die Effizienzsteigerung der Bundeswehr für die Zukunft angekündigt. Das liegt auf einer Linie mit den Forderungen der konservativen Parteien, die eine präzise Schlagkraft einer deutschen freiwilligen Angriffsarmee, meist Interventionstruppe genannt, fordern.

Kriegsformen des 19. Jahrhunderts können nicht mit Kriegsformen des 21. Jahrhunderts beantwortet werden

Nach Auflösung der Konfrontation der großen Militärblöcke kommen wieder Regional- und Bandenkriege zum Vorschein, die für die Akteure nicht mehr das Ende von Politik bedeuten, sondern wieder als Mittel zum Erreichen politischer Ziele gelten. Das Mensch-gegen-Mensch-Schlachten nimmt zu, und der Abwurf sprengkräftigen Materials aus der Luft ist ein immer weniger geeignetes Mittel der Befriedung, falls es jemals eins gewesen ist.

Die Verwunderung der NATO über die serbische Militärausrüstung ist Heuchelei

Laut Pflüger/Jung, 'Krieg in Jugoslawien', fahren serbische Militärlastwagen mit Mercedes-Benz-Fahrgestell, wird unter französischer Lizenz der Aérospatiale der Gazelle-Hubschrauber in Pancevo gebaut, sollen einige in der Sowjetunion gebaute Hubschrauber mit den in den USA konstruierten Mk-44-Torpedos ausgerüstet sein, benutzen serbische Milizen unter anderem das Gewehr G3 aus deutscher Produktion. In der täglichen Kriegsberichterstattung ist über die Herkunft der Waffen 'des Feindes' nicht viel zu hören. Auch dies ist ein deutscher Beitrag zur Anti-Aufklärung über das Thema Krieg und Gewalt.

'Auschwitz' wird unhistorisch für außenpolitische Zwecke instrumentalisiert

Wir werfen unseren Eltern und Großeltern vor, Auschwitz nicht verhindert zu haben. Das ist richtig und heißt, wir werfen ihnen Mitläufertum und mangelnde Zivilcourage in ihrem Herrschaftssystem vor. Wir werfen ihnen vor, einen Angriffskrieg auf Polen nicht verhindert zu haben. Wir werfen ihnen nicht vor, Gulag nicht verhindert zu haben.

Den 'deutschen Sonderweg' beibehalten und aus der NATO austreten

In den letzten Jahrzehnten sollte Deutschland in der NATO bleiben, um 'in der Staatengemeinschaft der westlichen Welt' eingebunden zu sein und sich nicht wieder auf einem Sonderweg zum Aggressor zu entwickeln. Jetzt jedoch wird das letzte fast halbe Jahrhundert, in dem deutsche Soldaten lediglich die Zeit totgeschlagen haben, von einer rot-grünen Regierung ganz neu als deutscher Sonderweg gedeutet, der nun zu beenden sei. Erst mit seiner Beteiligung am NATO-Angriff auf Jugoslawien habe Deutschland seinen Platz in der Staatengemeinschaft der westlichen Welt gefunden und 'Verantwortung' übernommen. Aber ein Staat, der sonderbar ist, weil er keine Bomben auf Städte wirft, ist kein schlechter Staat. Es scheint sinnvoll zu sein, das Thema NATO-Austritt wieder auf die politische Tagesordnung zu bringen.
9. April 1999

Der Autor ist Mitglied der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen in der Lübecker Bürgerschaft