Rückkehr zur Politik!
Erklärung von Mitgliedern des Willy-Brandt- Kreises zum Krieg im Kosovo
Seit dem 24. März 1999 ist die Bundesrepublik an militärischen Aktionen
der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien
beteiligt. Die Luftschläge wurden mit dem Ziel begonnen, Jugoslawien zur
Zustimmung eines von der NATO garantierten
Autonomiestatus für die Kosovo-Albaner zu zwingen. Damit entschied sich
erstmals eine Bundesregierung, gestützt auf eine
große Mehrheit des Deutschen Bundestages, die Bundeswehr bei Kampfhandlungen
einzusetzen. Dies ist nicht nur eine historische Zäsur, sondern auch ein
gravierender Schritt, der Fragen der politischen, rechtlichen und moralischen
Begründung stellt und herausfordert.
1. Im Kosovo finden Mord und Vertreibung, das heißt schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit statt. Die Staaten der NATO haben es seit 1989, spätestens seit Dayton 1995 versäumt, dem Ruf nach Konflikt- und Krisenprävention im und für das Kosovo zu folgen. Ihr Verhalten ist nicht ursächlich für die Verbrechen im Kosovo. Gleichwohl sind sie nicht frei von Mitverantwortung.
2. Der Bombenkrieg der NATO gegen Jugoslawien ist vom Völkerrecht nicht gedeckt. Nach Artikel 2 Ziffer 4 der Charta der Vereinten Nationen in Verbindung mit Artikel 24, 39 und 40 ff UNCh liegt das Gewaltmonopol bei den Vereinten Nationen. Selbst die Völkermordkonvention vom 9. Dezember 1948 enthält keine Eingriffsbefugnis für Drittstaaten im Falle des Völkermordes. Eine Mandatierung des Luftkrieges der NATO durch die UNO liegt nicht vor.
3. Die Luftangriffe der Bundeswehr gegen Jugoslawien sind mit der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland nicht vereinbar. Sie verstoßen insbesondere gegen Artikel 26 Absatz 1 (»Verbot eines Angriffskrieges«) und Artikel 25 Grundgesetz (»Beachtung des Völkerrechts«).
4. Menschenrechte besitzen eine zivile Logik: Menschen und ihre Rechte dürfen
nicht im Namen der Menschenrechtemit
militärischen Mitteln verletzt oder gar vernichtet werden. Die Luftschläge
der NATO, die auch Unschuldige verwunden und
töten, verletzen diese zivile Logik und das ihr folgende humanitäre
Gebot.
5. Wer in außerordentlichen Extremsituationen wie Völkermord für sich die Notwendigkeit sieht, nicht geltendem Recht, sondern Naturrecht beziehungsweise seinem Gewissen folgen zu müssen, ist in besonderer Weise gemahnt, das Übermaßverbot, das heißt die Grundsätze der Erforderlichkeit, der Geeignetheit und der Verhältnismäßigkeit der Mittel sowie der Folgeorientierung der Maßnahmen zu beachten. Dieses Gebot wird beim Krieg der NATO im Kosovo verletzt.
6 .Ein Luftkrieg ist grundsätzlich kein geeignetes Mittel, um eine »humanitäre Katastrophe« zu vermeiden. Wie auch der Kosovo- Krieg bestätigt, besteht das Risiko, daß er die Katastrophe eskalieren läßt (Haß, Rache, Vergeltung), wenn nicht sogar provoziert (»jetzt erst recht« und »die Albaner sind schuld«) oder daß er als Vorwand mißbraucht wird (Beseitigung der Opposition). Dieses Risiko ist größer als etwaig Erfolgsaussichten.
7. Wer Krieg, insbesondere einen Luftkrieg, für erforderlich hält,
muß die Eskalationsdominanz besitzen. Die Dominanz zur
Eskalation meint die Steigerungsfähigkeit der Maßnahmen, wie jetzt
im Kosovo vorgeführt. Sie beinhaltet aber auch zwingend die Chance, zu
jedem Zeitpunkt des Geschehens innezuhalten, die eingeleiteten Maßnahmen
zu stoppen. Diese Aussage ist eine militärische. Als Grundsatz der Erforderlichkeit
gilt sie aber insbesondere für Demokratien auch aus rechtlichen und humanitären
Gründen. Im Kosovo dagegen wird eine Eskalation vollzogen, die den Gesetzen
der »Durchschlagseffizienz« sowie der »Geschichtswahrung«
folgt und beiden Seiten kaum Spielraum für die Rückkehr vom Militärischen
zum Politischen läßt.
8. Jede Maßnahme - und damit auch Krieg als das letzte Mittel der Politik
- ist dann nicht mehr verhältnismäßig, wenn ihre direkten und
indirekten Folgen und Nebenwirkungen, insgesamt betrachtet, mehr zerstört
als schützt. Zu den Folgen und Wirkungen des Kosovo-Krieges gehört
auch die Tötung Unschuldiger durch die NATO, die Beseitigung geltenden
Völkerrechts, die Beschädigung der Vereinten Nationen und letztlich
auch der NATO selbst, ferner die Demütigung Rußlands, auf das Europa
als Partner angewiesen ist. Jede politische Initiative, die zur Beendigung des
Krieges führen
könnte, muß deshalb ergriffen werden.
9. Der Krieg der NATO ist rechtlich, militärisch und planerisch dilettantisch
vorbereitet und durchgeführt - zu Lasten der Opfer, die es zu retten gilt,
zum Schaden der Soldaten, die Leib und Leben riskieren. Oder zeigt das Beispiel
Kosovo lediglich eindringlich, wie es um die doppelte Moral des Westens bestellt
ist? Es gehört zu Plan, Strategie und Durchführung der NATO-Luftschläge,
daß vor Beginn des Krieges die diplomatischen Vertretungen geschlossen
wurden, alle Ausländer ausgereist sind, alle OSZE-Verifikateure abgezogen
wurden, ja sogar alle humanitären Einrichtungen, die lebensnotwendig für
die Kosovo-Bevölkerung sind, ihre Arbeit eingestellt haben und ebenfalls
ausgereist sind. Zurückgeblieben sind schutzlose
Menschen, um derentwillen in der Folgezeit bombardiert wurde und wird. Wer Krieg
zur Abwendung einer »humanitären Katastrophe« führt, muß
bereits weit im Vorfeld seiner militärischen Aktivitäten Vorsorge
für eben die voraussehbaren Opfer (Flüchtlinge und Vertriebene) treffen
(medizinische Versorgung, Lebensmittel, Wasseraufbereitung, Zelte et cetera).
Wer sich darüber hinaus weigert, Krieg »Krieg« zu nennen, setzt
die eigenen Soldaten der Gefahr aus, gegebenenfalls nicht als Kriegsgefangene
behandelt, sondern als Spione abgeurteilt zu werden.
10. NATO und Bundeswehr ist dringend zu empfehlen, ihre Einsätze und sonstigen
Aktivitäten unverzüglich auf humanitäre
Leistungen im Sinne des Begriffes, das heißt auf die Linderung der Not
der Flüchtlinge und Vertriebenen, zu konzentrieren. Dazu gehören auch
Evakuierungsmaßnahmen. Wer eine Evakuierung der potentiellen und tatsächlichen
Opfer für abwegig hält, muß zumindest mit Blick auf die Folgen
auch der eigenen Kriegsführung und um der Glaubwürdigkeit der eigenen
Gewissensentscheidung willen für die unabdingbare Notwendigkeit von Krieg
als ultima ratio Schutzzonen im Lande selbst einrichten, das heißt Bodentruppen
zur Erreichung dieses Ziels einsetzen. Diese Bodentruppen selbst hätten
keinen Kriegsführungsauftrag, sondern im echten Sinne des Wortes eine humanitäre
Aufgabe: Rettung und Schutz von Zivilisten.
11. Politik ist die Kunst des Möglichen. Krieg ist das Versagen der Politik. Den Staaten Europas und insbesondere Deutschlands ist deshalb dringend zu empfehlen, jede Gelegenheit für einen Waffenstillstand und für Verhandlungen zu suchen. Insbesondere müssen die Möglichkeiten Rußlands stärker genutzt werden - bei den notwendigen Initialschritten (Verhandlungen mit Belgrad), bei der politischen und militärischen Befriedung des Kosovo (Errichtung von Schutzzonen, Überwachung zukünftiger Verträge), bei der Errichtung einer dauerhaften Friedens- und Sicherheitsordnung in und für Europa auf der Basis der Stärke des Rechts statt des vermeintlichen Rechts des Stärkeren.
Hamburg/Berlin, April 1999
Peter Brandt, Günther Gaus, Dieter S. Lutz, Hans Misselwitz, Oskar Negt,
Klaus Staeck