Das Zentrum für Frauen in Kinder in Tuzla (Bosninen) - Vive Zene e.V. -
wendet sich in einem Brief an Joschka Fischer:

Vive Zene’ bedeutet: Frauen lebt! Das Projekt wurde von einigen Dortmunder Frauen im Jahre 1993 gegründet, um Frauen und Kindern mit kriegstraumatischen Erfahrungen zu helfen, ihnen sozial-therapeutische Unterstützung zu bieten und eine Lebensperspektive durch spätere Existenzgründungen zu geben.


Erst “seit Srebrenica”?

Herr Fischer, wir haben lange überlegt, ob wir diesen Aufruf den überregionalen Zeitschriften oder Magazinen zur Veröffentlichung zuleiten sollten, nicht nur, weil Sie Ihre „innerparteiliche Auseinandersetzung“ ausschließlich über diese Medien lancieren, sondern auch, weil Sie dann vielleicht endlich in den Dialog mit uns eintreten würden. Erinnern Sie sich? Monate, bevor Sie auf der Bundesversammlung der Grünen im Dezember 1995 für militärische Kampfeinsätze der Bundeswehr plädierten, haben wir auf die schreckliche Situation in der sogenannten damaligen ‘Schutzzone’ Srebrenica aufmerksam gemacht. Wir berichteten darüber, daß die Menschen dort seit Monaten unter Boykott standen, daß kaum jemand aus der Stadt hinaus und niemand hineingelangen konnte. Wir haben Frauen, denen die Flucht vor den Vergewaltigungen und dem Massaker gelang, in unseren Berichten zitiert: „In Srebrenica verschluckt die Nacht die Moslems“. Wir haben aber auch jedesmal aufgrund unserer eigenen langjährigen Erfahrungen vor Gewalt-Eskalationen im ehemaligen Jugoslawien und in allen Ländern der Welt gewarnt, in denen die militärische Logik den letzten Rest von humanitärem Handeln beseitigt. Wir teilen mit anderen die Befürchtung, daß militärische Handlungen stets totalitär zu werden drohen. Dies wurde um so deutlicher, als auch nachweislich holländische Militärs mit den drei erhobenen Fingern, dem „Siegeszeichen“ der Tschetniks, die Stadt Srebrenica verlassen haben, nachdem es auch von ihrer Seite zu Vergewaltigungen kam. Glauben Sie uns, wir haben es uns nicht leichtgemacht mit unserem friedenspolitischen Ansatz, wir haben damit auch niemals die schrecklichen Kriegshandlungen auf allen Seiten verharmlosen wollen. Es ist nicht einfach nur „Prinzip“, es ist nicht Pazifismus, der uns leitet, es ist Erfahrung und Bewußtsein, Studium der Historie einschließlich unserer eigenen deutschen Vergangenheit, Diskussion mit Expertinnen.
Und stellen Sie sich vor, wir haben unseren Ansatz, daß es keine militärischen Kampfeinsätze in Bosnien und auf dem gesamten Balkan geben darf, sogar in Tuzla äußern dürfen und sind auch verstanden worden. Verstanden worden, weil wir vor Ort waren, mitten im Krieg, und weil es uns um Frieden ging, für alle Seiten! Und wir arbeiten immer noch in Bosnien, betreuen zusätzlich ebenfalls Frauen und Kinder aus dem Kosovo, einige hundert, die auf ver- schiedene Flüchtlingszentren in der Region Tuzla verteilt sind, therapieren, dokumentieren, spenden einfach Trost. Herr Fischer, damals auf der Bundesversammlung kannten Sie Srebrenica nicht, auch die Frauen nicht, die bis heute um ihr Überleben nach dem Krieg bemüht sind. Ihre Männer und Söhne sind tot; meistens vermissen diese Frauen sie „nur“, denn für sie sind diese noch nicht tot, wurden noch keine Leichen gesehen. Sie, Herr Fischer, konnten damals noch nicht einmal den Namen der Stadt, die Ihnen so am Herzen lag, richtig aussprechen. Sie sagten „Schrebrenidscha“, das wäre weiter nicht schlimm, hätten
Sie nicht so getan, als würden sie es kennen, und hätten Sie nicht mit „Schrebrenidscha“ ihre Kriegslogik verinnerlicht. Vielleicht, weil Sie nicht dort waren, weil Sie ein schlechtes Gewissen hatten und unbedingt etwas tun wollten“? - Herr Fischer, brauchen Sie vielleicht auch eine Therapie?

Erinnern Sie sich auch an den gemeinsam von ‘Vive Zene Dortmund’ und ‘Medica Mondiale Köln’ veröffentlichten
Aufruf „Promis an die Front“ nach der Bundesversammlung im Dezember 1995? Auch dazu haben wir keine Stellungnahme von Ihnen gehört. Wir haben damals dazu aufgerufen, statt zu schießen oder zu bombardieren, sollten Promis in die Balkan- Regionen zur internationalen Stärkung aller oppositionellen Kräfte, zur Begleitung, zur Beobachtung, zur solidarischen Präsenz. Wir haben vor den weiteren Entwicklungen gewarnt, wir haben dazu aufgefordert, Milosevic vor das Kriegsverbrechertribunal zu bringen. Stattdessen wurde er durch den Vertrag von Dayton gestärkt, unter anderem dadurch, weil das Territorium bereits abgesteckt war, die „Republika srpska“ wurde als eigenständige Einheit innerhalb Bosiens anerkannt, das Kosova wurde aus dem Vertrag ausgeklammert, und Milosevic durfte von da an im Namen aller Serben sprechen. Bedeutet das nicht eine Herrschaftskonsolidierung?

Jetzt genug zur Vergangenheit, Herr Fischer, Sie können ja ‘mal vorbeikommen in Tuzla, die Frauen und Kinder aus dem Kosovo und aus Srebrenica besuchen und sehen, wieviel Hilfe und Unterstützung die internationale Politik ihnen zukommen läßt. Vielleicht läßt sich ja das eine oder andere Problem ohne Abwurf von Bomben erledigen.

Nun zu unseren Wünschen:
Zunächst möchten wir alle friedenspolitisch Aktiven unterstützen, die die Luftangriffe mit NATO-Bomben sofort beendet wissen wollen. Wir freuen uns über Unterschriftensammlungen, Aufrufe in den Zeitungen, das Wiederaufleben kritischer Intellektueller und Schriftstellerinnen und nicht zuletzt darüber, daß es noch eine Oppostion in Ihren eigenen Reihen gibt, auch wenn diese sieben PolitikerInnen schwersten Anwürfen, auch von Ihrer Seite, ausgesetzt sind.

Hier nun ein kleiner Auszug unserer Forderungen, obwohl wir nicht mehr glauben, daß mit Ihnen, Herr Fischer, „friedenspolitischer Staat“ zu machen ist, aber vielleicht erreichen wir es ja wenigstens diesesmal, daß wir von Ihnen ein „Sterbenswörtchen“ hören.

Wir möchten Sie und mit Ihnen alle Delegierten der außerordentlichen Bundesversammlung am 13. Mai bitten, folgende Forderungen zu unterstützen:

+ Die NATO-Angriffe sind sofort zu beenden!

+ Es wird von seiten der Grünen glaubhaft und unwideruflich zugesichert, daß unter keinen Umständen deutsche Bodentruppen eingesetzt werden.

+ Es wird ein Waffenstillstand durch einen neutralen Vermittler nach Art. 100 Abs. 1 der UN-Charta ausgehandelt.

+ Unter Führung der Vereinten Nationen werden Verhandlungen für eine friedliche Zukunft des Kosovo aufgenommen, ein NATO- Protektorat im Kosovo oder in der „Bundesrepublik Jugoslawien“ wird ausgeschlossen.

+ Gegen die Kriegsverbrecher, gleich von welcher Seite, werden Strafverfahren vor dem Gerichtshof in Den Haag eingeleitet
.
+ Es werden auf eigenen Wunsch Flüchtlinge aus dem Kosovo in Deutschland aufgenommen. (Es ist zur Zeit genügend Kapital und Wohnraum in unserem Land vorhanden, darüber hinaus haben sich viele Familien inzwischen bereiterklärt Flüchtlinge aufnehmen zu wollen.)

Mit freundlichen Grüßen
Margrit Spindeler
Im Vorstand von ‘Vive Zene Dortmund’


Spendenkonto: Vive Zene e.V., Stadtsparkasse Dortmund, BLZ: 440 501 99, Kto- Nr.: 291 001 297
Kontaktadresse: Vive Zene e.V., Lortzingstrasse 31, 44135 Dortmund, Fon/Fax: 0231/813745