Bad Homburg, 27.04.99
Betr.: Kosovo - Mein Rücktritt als Parteiratssprecher
Liebe Freundinnen, liebe Freunde,
die Anrufe, die ich in den vergangenen Tagen im Zusammenhang mit meinem Rücktritt auf der Sitzung am 24.4. erhalten habe, bewegen mich zu einigen klärenden Worten sowie zu einigen wertenden Sätzen.
Ich bin am Samstag als Parteiratssprecher zurück-, nicht jedoch - wie
offenbar kolportiert wird - aus der Partei ausgetreten. Der mit 38 von 62 abstimmungsberechtigten
Dele-gierten der Bedeutung unangemessen und unerwartet schlecht besuchte Parteirat
hat sich, wie es in der Presseerklärung des Landesvorstandes richtig heißt,
"für die Nato-Luftangriffe entschieden". Dieser Beschluß
widerspricht unseren in zwei Jahrzehnten erarbeiteten Prinzipien. Noch in unserem
Bundestagswahlprogramm von 1998, mit dem wir bei Millionen Wählerinnen
und Wählern im Wort stehen, heißt es aus guten Grün-den: "Aktives
Eingreifen zur Bewahrung des Friedens ist nötig, aber nicht immer erfolg-reich
möglich. Dauerhafter Frieden läßt sich nicht militärisch
erzwingen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN setzen sich für eine Neuorientierung
in der internationalen Friedenssi-cherung ein. Die Instrumente der Konfliktprävention
müssen ausgebaut werden. (...) Militärische Friedenserzwingung und
Kampfeinsätze lehnen wir ab." Darüber hinaus zieht der Parteirat
keine Lehren aus den verheerenden Resultaten der vierwöchigen Bombardierungen,
die nichts besser und vieles schlechter gemacht haben - auch und gerade für
die Kosovaren.
Ich kann nicht die Geschäfte eines Gremiums führen, welches mit 24
zu 14 Stimmen selbst den realpolitisch formulierten Ausweg, den befristeten
Stop der militärischen Angriffe, ablehnt. Ich will nicht als Mitglied des
erweiterten Landesvorstandes mit einer Politik identifiziert werden, die ihre
Perspektiven zunehmend im Vollzug einer militäri-schen Logik sucht - einer
Logik, die mit hoher Wahrscheinlichkeit und vollends unkalku-lierbaren Folgen
zum Einsatz von Bodentruppen führen wird.
Auch ich bin der Auffassung, daß die Debatte innerhalb unserer Partei weitgehend von Respekt und sogar Verständnis für die jeweils andere Position geprägt ist. Gute Noten im Fach Debattenkultur allein werden den Zusammenhalt der Partei aber nicht gewähr-leisten. Gerade die bemerkenswerte Disziplin und bemühte Ruhe, mit der diese Debatte geführt wird, droht die Dringlichkeit zu verdecken, mit der sich viele Mitglieder Fragen nach dem weiteren Verbleib in der Partei stellen.
Debattenkultur hin oder her: Insbesondere folgende Aspekte der Diskussion haben
mich auf dem Parteirat zutiefst deprimiert:
· Der Machtopportunismus, der auf Kritik achselzuckend entgegnet, eine
andere Bun-desregierung würde doch die gleiche Politik verfolgen; der geradezu
reflexartig glaubt, sich schützend vor diese unsere Regierung stellen zu
müssen und darüber den kritischen Blick auf die Geschehnisse zu verlieren
droht; der es gar fertigbringt, die Angriffe unter dem Motto "Nachher ist
man immer schlauer" explizit als Fehler zu bezeichnen und der "Glaubwürdigkeit"
der Regierung willen dennoch keine Alternati-ve zu ihrer Fortsetzung zu sehen
vermag.
· Die Gedankenlosigkeit, es Scharping und Fischer gleichzutun und Vergleiche
zwi-schen dem deutschen Faschismus und dem serbischen Regime anzustellen. Wohl-gemerkt:
es geht hier nicht um eine "neue Auschwitzlüge", wie einige KZ-Überlebende
es ganzseitig in einer FR-Anzeige verkündeten. Die angestellten Vergleiche
verstel-len aber in der Tat den Blick auf die historische Einzigartigkeit des
Nationalsozialis-mus, der den millionenfachen Massenmord technisch und bürokratisch
perfekt orga-nisierte. Diese Vergleiche besorgen somit das Geschäft derer,
die nach fünfzig Jah-ren den vielbeschworenen Schlußstrich unter
die jüngere deutsche Vergangenheit ziehen wollen.
· Die gepriesene Debattenkultur kann nicht verdecken, daß die mit
dem Ruf nach Fortführung der Bombardierungen endenden Beschreibungen des
Flüchtlingselends vielfach einen unterschwelligen Vorwurf im Marschgepäck
tragen: Den nämlich, daß den Gegnerinnen und Gegnern der Angriffe
Völkerrecht und überkommene Program-matik wichtiger seien als das
Leben der Kosovaren. Dieser Vorwurf ist unerträglich.
Die Mehrheit des hessischen Parteirats hat sich am vergangenen Wochenende - zum großen Teil schweren Herzens - dafür entschieden, es fortan mit Clausewitz zu halten: "Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln". Diese Entscheidung ist ein Ausdruck der Hilflosigkeit, aus der angesichts des nationalistischen Vertreibungskrieges im Kosovo Bomben und Luftangriffe hinausführen sollen. Diejenigen, die sich so ent-schieden haben, sollten nun dringend analysieren, in wie weit diese "anderen Mittel" überhaupt dazu angetan sind, die verfolgten politischen Ziele zu erreichen. Das muß um so schwerer fallen, als die politischen Ziele nach vier Wochen Krieg immer diffuser werden. Unbestreitbar konnte jedoch das oberste Ziel, die Verhinderung der humanitä-ren Katastrophe, nicht erreicht werden. Im Gegenteil, wie August Pradetto von der Bundeswehrhochschule am 23.4. in der FR schrieb: "Daran ändern noch so viele Rechtfertigungsversuche nichts: Was in den ersten Wochen dieses Krieges an Greuel-taten im Kosovo passiert ist, ist kumulativ in den letzten zwanzig Jahren nicht gesche-hen, und es geschieht in dieser extremen Form, seit dieser Krieg begonnen hat". Die politischen Begleiterscheinungen, von der Destabilisierung einer ganzen Region über die Gefährdung der völkerrechtlichen Ordnung bis zur Krise der Beziehungen mit Ruß-land, können indes getrost als katastrophal bezeichnet werden.
Die Folgen für den innenpolitischen Diskurs und die Gestaltungsmöglichkeiten
GRÜNER Politik sind noch nicht zu ermessen. Aber geben wir uns keinen Illusionen
hin: Am Ende dieses Krieges werden wir uns in einem anderen Land wiederfinden.
"Jeder Krieg vernichtet nicht nur leibliche Güter, nicht bloß
materielle Kulturwerte. Er ist zugleich ein respektloser Stürmer gegen
hergebrachte Begriffe. Alte Heiligtümer, ver-ehrte Einrichtungen, gläubig
nachgesprochene Formeln werden von seinem eisernen Besen auf denselben Schutthaufen
geworfen, auf dem die Reste zerschossener Kano-nen, Gewehre, Tornister und sonstiger
Kriegsabfall lagern. (...) So wird die Welt nach dem Kriege gründlich verändert
aussehen. Freilich werden emsige Hände die Trümmer wieder aufzurichten
suchen. Aber materieller Ruin läßt sich eher wieder gutmachen als
moralischer. Zerschmetterte Kanonen kann man durch bessere ersetzen, zerfetzte
Begriffe und vernichteten Glauben kann man nicht wieder zusammenleimen."
Rosa Luxemburg, 30.09.1914