Rede auf der Landesdelegiertenkonferenz am 15. Mai 1999 zum
TOP Landespolitik (NRW)
Liebe Freundinnen und Freunde,
selbstverständlich muß im Hinblick auf den kommenden Landtagswahlkampf
über Stand und Perspektiven der Landespolitik geredet werden. Es fällt
mir nach dem Bielefelder Parteitag allerdings schwer, einfach zur Tagesordnung
überzugehen. Ich meine, die landespolitischen Perspektiven lassen sich
nur dann sinnvoll ausloten, wenn wir zuerst über den Zustand unserer Partei
reden.
Wie viele von uns kann und will ich es nicht ignorieren: die Mehrheit der Partei
hat sich vorge-stern vom GRÜNEN Grundkonsens verabschiedet. Der Bielefelder
Beschluß akzeptiert letzt-lich Gewalt als legitimes Mittel der Politik
und nährt die Illusion vom "gerechten Krieg". Da-durch ist ein
tiefer Riß in der Partei entstanden! Ich weiß derzeit nicht, ob
und wie er gekittet werden kann. Doch eines ist für mich klar, Schönreden
hilft überhaupt nicht und ist kontrapro-duktiv.
Ich fand es gestern schon bemerkenswert, wie das Ergebnis des Bielefelder Parteitags von füh-renden Realos und Regierungslinken kommentiert wurde. Sie waren allesamt zufrieden. Die GRÜNEN hätten ihre Regierungsfähigkeit bewiesen, wurde vor allem unterstrichen.
Liebe Leute, das kann doch wohl nicht wahr sein!
Da wird von der NATO ein völkerrechtswidriger Krieg geführt. Tag für
Tag werden durch das NATO-Bombardement unschuldige Zivilisten getötet und
führende GRÜNE interessiert haupt-sächlich die Frage, ob wir
als regierungsfähig gelten beziehungsweise was gut oder schlecht für
die bestehende Koalition ist.
Mir ist klar, daß wir als GRÜNE den Krieg nicht unmittelbar stoppen
können. Aber wir haben die Verantwortung, gerade weil wir in dem wichtigen
NATO-Staat Bundesrepublik an der Re-gierung beteiligt sind, eine überzeugende
und friedenspolitisch glaubwürdige Antwort auf die Frage zu finden, welchen
Beitrag BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN leisten können oder besser leisten
müssen, um den Frieden am Balkan ein Stück näher zu bringen.
Das war die Frage, um die es am Donnerstag hätte gehen müssen!
Statt dessen stand letztlich wieder nur das Wohl und Weh der Koalition und
der Machterhalt im Vordergrund. In Bielefeld wurde, so war mein Eindruck, leider
nicht um eine klare Position zum Krieg gerungen - immerhin ein Thema, das GRÜNE
Grundwerte wesentlich berührt - , sondern es wurde eine Position formuliert
und beschlossen, die der rot-GRÜNEN Koalition am wenigsten schadet.
Ich finde es falsch und lehne es ab, daß die Regierungsbeteiligung zum
Maßstab GRÜNER Politik schlechthin wird!
Bettina Gaus kommentierte die Bielefelder Beschlußfassung in der TAZ
von Freitag folgen-dermaßen:
"... Dehnbare Kompromisse bis hin zur Beliebigkeit lassen sich in vielen
Fällen rechtfertigen, aber nicht in einer Frage, die den Wertekanon einer
Partei in ihrem Kern berührt. Krieg und Frieden war für die GRÜNEN
bisher eine solche Frage. ... Heute sind sie opportunistischer als jede andere
Partei Deutschlands. Der Wille zur Macht hat sie erpreßbar gemacht. ..."
Die Vorgehensweise, Regierungsbeteiligung zum ausschlaggebenden Maßstab
der Politik zu machen, findet ihre Entsprechung auf Landesebene.
Früher war es eine herausragende Stärke der GRÜNEN Partei, um
die beste Lösung für die Sache zu ringen. Die Erarbeitung überzeugender
Lösungsvorschläge und Konzepte stand im Mittelpunkt. Die Frage, was
bestimmte Vorschläge für die GRÜNEN bedeuten, war dabei zweitrangig.
Heute zählt etwas anderes. Nicht was gut oder schlecht für die Sache
ist, ist entscheidend, sondern ob ein Vorschlag gut oder problematisch für
die bestehende Koalition sein könnte.
Ich halte es für falsch, wenn Regierungsbeteiligung zum Ziel GRÜNER
Politik wird!
Ich meine, das Ziel GRÜNER Politik muß die Veränderung der
Gesellschaft im Sinne GRÜ-NER Programmatik sein. Eine Koalition beziehungsweise
Regierungsbeteiligung kann ein ge-eignetes Mittel sein, um dieses Ziel Schritt
für Schritt zu erreichen. Die Antwort auf die Frage, was kann in einer
Koalition oder durch die Regierungsbeteiligung im Hinblick auf eine positive
gesellschaftliche Veränderung erreicht werden, muß das Entscheidungskriterium
GRÜNER Politik sein. Und eine Entscheidung darüber kann nicht per
se getroffen werden und kann auch nicht für alle Zeiten gelten. Die Möglichkeit
zur Umsetzung politischer Inhalte ist das Wesent-liche. Deshalb kann über
die Beteiligung an einer Regierung oder über das Ende derselben im-mer
nur in einer konkreten historischen Situation entschieden werden.
Diese Ziel-Mittel-Relation ist bei den GRÜNEN mittlerweile in ihr Gegenteil
verkehrt worden. Nicht die positive Veränderung der Gesellschaft, die Gestaltung,
steht mehr im Vordergrund, sondern der Erhalt der Macht. Das ist falsch und
wird für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu-nehmend schädlich sein!
Genau an dieser Frage ist die Partei mittlerweile zutiefst gespalten - da hilft
auch kein Be-schwören von sonstigen Gemeinsamkeiten weiter! Hier geht es
um einen Grundsatzkonflikt, der nicht geklärt ist.
Viele GRÜNE Mitglieder an der Basis in Kreisverbänden haben mir in
den letzten Wochen gesagt, daß sie nicht wissen, wie und wofür sie
Wahlkampf machen sollen. Sie sind es leid, vehement für GRÜNE Positionen
zu werben, mit der Angst im Nacken, daß, wenn es ernst wird und ein Konflikt
drohen könnte, führende GRÜNE umfallen werden. Sie erfahren schmerzlich
vor Ort, daß die GRÜNEN dabei sind, ihre Glaubwürdigkeit zu
verlieren und von den Bürgerinnen und Bürger mit ihrem Gestaltungswillen
immer weniger ernst genommen werden.
Liebe Freundinnen und Freunde, wir sind dabei den Kredit zu verspielen, den
wir hatten. Die Frage, wer, wenn nicht die GRÜNEN, wird für eine bestimmte
Sache kämpfen, wird selbst bei unseren AnhängerInnen immer weniger
gestellt. Das will ich/das müssen wir ändern!
Ich finde es richtig, wenn jetzt nach Bielefeld über einen neuen Links-GRÜN-Alternativen
Zu-sammenhang versucht wird, dem GRÜNEN, linken und alternativen Spektrum
wieder politi-sche Bedeutung zu verschaffen.
Ich habe großes Verständnis für diejenigen, die angesichts der
aktuellen Beschlußlage die Par-tei verlassen werden oder bereits verlassen
haben. Für sie ist die Grenze der GRÜNEN Kom-promißfähigkeit
- ich kann auch drastischer sagen Biegsamkeit - nicht nur erreicht sondern bei
weitem überschritten.
Ich habe aber genauso für diejenigen Verständnis, die trotz allem
in der Partei bleiben, wie ich selbst, weil sie es nicht fertigbringen, das
GRÜNE Projekt, das sie mit aufgebaut haben, den Opportunisten und Machttaktikern
zu überlassen. Nur für mich ist ganz klar, wenn wir etwas für
die positive Veränderung der Gesellschaft erreichen wollen und nicht wollen,
daß BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN zum Kleineren der Übel werden,
muß die Opposition innerhalb und außerhalb der GRÜNEN deutlich
stärker werden.
Dafür werde ich mich vehement einsetzen und hoffe auf tatkräftige
Unterstützung von Euch!