Prof. Dr. Paul J.J. Welfens, Präsident des EIIW an der Universität Potsdam,
Jean Monnet Professor für europäische Integration, 0331 977-4614, Fax - 4631
1.6.1999, Grevenbroich, Altes Schloß; Vortrag/Streitgespräch auf Einladung der Neusser Jusos

Zehn Fragen und Antworten zum Kosovo-Krieg:

(1) War der Luftkriegsbeginn (24.3.99) der Nato gegen Jugoslawien, mit dem Ziel die Vertreibung der Kosovaren aufzuhalten, sinnvoll?
Die Strategie des Nato-Luftkriegs war von Anbeginn an ungeeignet, ethnische Säuberungen, Vertreibungen und Morde im Kosovo zu verhindern - angesehene Experten (u.a. Lord Owen in der Herald Tribune am 23.3., S.2; Prof. Welfens in einer Presseerklärung auf Deutsch und Englisch am 22.3., siehe http://www.euroeiiw.de) - haben vor Kriegsbeginn die Luftkriegsstrategie eindringlich als ungeeignet zum Schutz der Kosovaren verurteilt. Da man in den kontinentaleuropäischen EU-Ländern von vornherein keinerlei Bodenkrieg wollte, hätte man den ungeeigneten Luftkrieg von Anfang an lassen sollen; oder zumindest vor jeder Kriegshandlung oder Bewaffnung der UCK (Rebellenarmee) alle ökonomischen Sanktionsmöglichkeiten gegen Jugoslawien ausschöpfen müssen. Auch war die westliche Unterstützung der serbischen Oppositionsparteien völlig unterdimensioniert. Schließlich gab es in Rambouillet/Paris Diplomatieversagen - so auch der Ex-UN-Botschafter Dr. Bräutigam.

(2) Muß Deutschland in dem Nato-Krieg mitwirken?
Eine deutsche Mitwirkungspflicht gibb es nicht, denn der Kosovo-Bürgerkrieg ist ja kein Angriff auf das Gebiet der Nato-Staaten; moralisch-politisch gab es eine ernsthafte Verpflichtung Deutschlands, im Jugoslawienkrieg - der völkerrechtswidrig ist - nicht mitzuwirken; höchstens humanitär zu helfen. Die rot-grüne Regierung unter Schröder-Fischer ist der besonderen deutschen Verantwortung nach zwei Weltkriegen in diesem Jahrhundert nicht gerecht geworden, sondern ist blind den USA in einen neuen Krieg gefolgt. Krieg in Europa ist eine Katastrophe, und das weiß jeder.

(3) Wie kann man sich eine klare eigene Meinung zur schwierigen Problematik des Kosovo-Kriegs bzw. der Frage nach der Sinnhaftigkeit der Nato-Intervention machen?
Durch ein Gedankenexperiment: Was hätte der Westen gesagt, wenn etwa 1990 der Warschauer Pakt - ohne UN-Mandat - mit einem Luftkrieg gegen die Türkei begonnen hätte, weil die Regierung der Türkei (ein europäischer Staat) die Kurden unterdrückt, drangsaliert und per Armee bekämpfen läßt, also die Menschenrechte der Kurden massiv gefährdet? Der Westen hätte mit größter Empörung auf das Vorgehen der UdSSR bzw. des Warschauer Pakts reagiert, die USA hätten wohl ihren Verbündeten Türkei verteidigt, der Dritte Weltkrieg hätte wegen der Menschenrechtsfrage begonnen. Dahin können also humanitäre Kriegsinterventionen ohne UN-Mandatierung führen. Im übrigen ist klar, wo die SPD stehen würde, wenn der Nato-Krieg auf deutscher Seite von einer Regierung Stoiber-Kinkel geführt würde - in klarer Opposition gegen einen über Monate fortgesetzten Nato-Luftkrieg.

(4) Was ist von der Aussage von Herrn Schäuble im Bundestag zu halten, die Nato führe keinen Krieg gegen Jugoslawien, vielmehr führe Milosevic einen Krieg gegen das eigene Volk? Und was von der Aussage von Schröder und Scharping, die Nato-Angriffe hätten mit der Intensität der Vertreibungen nichts zu tun?
Die raffinierten Wortspiele von Schäuble sind der Versuch, Schwarz Weiß nennen zu wollen. Deutschland bzw. die Nato führen gegen Jugoslawien - jenseits formaljuristischer Betrachtungen - einen modernen und brutalen Krieg. Tausende Tote in Jugoslawien und der Schrecken der Bombardierung haben Nationalismus und Haß in Jugoslawien massiv gesteigert, vermehrt sind fanatisierte junge Serben unter dem Eindruck des Bombardements in den Kosovo als paramilitärische Soldateska eingerückt. Kurz: Die Nato-Bombardierungen haben indirekt die Vertreibungen und Morde im Kosovo intensiviert, wie ja auch vor Beginn der Nato-Luftschläge die 1400 (ursprünglich vorgesehen 2000) OSZE-Beobachter aus dem Kosovo abgezogen wurden - die Menschen dort waren danach schutzlos. Wer einen Zimmerbrand löschen will, indem er das Haus anzündet, handelt unverantwortlich.

(5) Was ist von der These zu halten, die Nato führe keinen Krieg gegen das jugoslawische Volk, eindeutig sei der Krieg primär gegen Milosevic und sein Militär gerichtet?
Die militärökonomischen und -historischen Forschungen (z.B. Welfens, Krieg und Frieden in Ramb/Tietzel, Hg., Ökonomische Verhaltenstheorie, 2. A.) zeigen eindeutig, daß in Kriegen regelmäßig mehr Zivilisten als Militärs zu Tode kommen. Also ist die Nato-/Scharping-These falsch. Diese schöne These ist vielmehr eine schöne Illusion, übrigens genauso wie die, der Euro - massiv wegen des Kriegs im Außenwert eingebrochen - sei und bleibe eine stabile Währung (O-Ton Schröder). Im übrigen ist zu fragen, was die Bombardierung von Kraftwerken, Wasserwerken und Postämtern mit militärischen Zielen zu tun hat; und wo bzw. wann endlich jemand in der Nato wegen der Fehlschüsse auf die chinesische Botschaft zur Verantwortung gezogen wird!

(6) Warum ist ein Nato-Krieg ohne UN-Mandatierung so problematisch, wo es doch in der Absicht der Nato um die Rettung der Kosovaren ging?
Erstens ist diese Annahme nicht richtig, da das Hauptmotiv des Nato-Luftkriegs in 1999 die Erhaltung der Glaubwürdigkeit der Nato war; die US-Außenministerin Albright hatte die Drohung mit Nato-Luftschlägen im Zug der Militarisierung der US-Außenpolitik so oft gegenüber Jugoslawien angedroht, daß schließlich im März eine Entwicklung mit hoher Eigendynamik entstand: Die USA fühlten sich praktisch gezwungen, den Nato-Lufthammer im Interesse der Glaubwürdigkeit fallenzulassen. Im übrigen heißt Kriegsführung ohne UN-Mandatierung, daß man militärische Hauptmächte - hier Rußland - auf der Gegnerseite haben könnte, daß man die UNO schwächt und anderen Ländern ein katastrophales Vorbild bietet. So hat etwa Indien im jüngsten Militärkonflikt mit Pakistan den pakistanischen Vorschlag einer UN-Vermittlung abgelehnt - was den Nato-Staaten im Fall Kosovo recht war, ist Indien nun billig.

(7) Kann Deutschland nicht auf die Nato-Strategie großen Einfluß nehmen?
Das ist ohne entschiedenen deutschen Standpunkt und Bereitschaft zu eigenständiger Politik kaum möglich, denn die Nato ist undemokratisch und zudem durch das Geheimhaltungsprinzip geprägt. Da sich im Krieg - einer Art loyalitätsgesetzmäßigen Verhaltenslogik folgend - in den nationalen Parlamenten keinerlei kontroverse Debatte zu Kriegsfragen bei bürgerlichen Parteien zeigt, gibt es gegenüber der Koalition der 19 Nato-Regierungen im Fall Kosovo keine wirkliche demokratische Kontrolle. Die Parlamente werden im Krieg funktionsunfähig. Im übrigen wurde speziell das deutsche Parlament mit der Mär über einen kurzen Nato-Luftkrieg getäuscht. Schröder hat bei Kriegsbeginn keine Zivilcourage bewiesen.

(9) Was ist vom Wertechaos in Deutschland zu halten, das mit dem "humanitären Krieg" unter deutscher Beteiligung begonnen hat und mit der Rede von Otto Schily im Berliner Dom vor dem Bund der Vertriebenen Ende Mai einen ersten Höhepunkt fand - dort wurde von Schily eine aberwitzige Gleichsetzung der Vertreibung von deutschen Minderheiten zu Ende des Zweiten Weltkriegs aus Polen und Tschechien mit der Vertreibung der Albaner zu Beginn des Kosovokriegs vorgenommen!?

Dies zeigt, daß die rot-grüne Regierung - unter grünem Ideologieeinfluß - keine Unterscheidung zwischen oben und unten mehr vorzunehmen vermag; daß das politische Koordinatensystem wichtiger Regierungsakteure sich auf das der CSU hinbewegt. Da schon der Nato-Krieg die deutsche Militärmaschine salonfähig macht und wenn schon Altkanzler Kohl Ende Mai in Eisenach Studenten aufruft, mehr Patriotismus bzw. Nationalgefühl öffentlich zu zeigen, und zugleich SPD-Regierungsmitglieder einen Umarmungskurs mit rechten Vertriebenen entfalten, beschleicht einen ein schrecklicher Verdacht: Mit dem Kosovo-Krieg wollen eine Menge Leute eine Umwertung aller Werte - zurück ins 19. Jahrhundert, zu Nationalismus, Imperialismus (diesmal humanitär motiviert), zur Kanonenbootdiplomatie und zum großen Krieg.

(10) Was ist zu tun?
Wer die hohe geschichtlich-politische Bedeutung des Kosovo für Jugoslawien bzw. Serbien kennt, der mußte vorher wissen, daß Kosovo nicht dem Fall Bosnien gleicht, wo einige Tage Luftschläge der Nato - mit UN-Mandatierung - zu einem Einlenken von Milosevic geführt haben. Wer ernsthaft einen Nato-Krieg als Mittel der Politik im Kosovo-Konflikt erwägen wollte, der hätte zunächst für eine solche Strategie verläßlich Rußland an Bord holen müssen - das unterblieb aber - und hätte dann zum Zeitpunkt der Rambouillet/Paris-Verhandlungen bereits eine militärische Drohkulisse mit Nato-Bodentruppen präsent haben müssen.

Vor dem Hintergrund der Nato-Versäumnisse und Bonner Fehlentscheidungen zu Kriegsbeginn heißt die Devise im Juni klar: Bombardierungspause, energisch zurück an den Verhandlungstisch und UN-Mandatierung für eine Friedenstruppe, gesicherte Rückkehr der Kosovaren im Schutz einer Friedenstruppe, die dominant aus Neutralen besteht. Zudem ist über neue Optionen künftiger nichtmilitärischer Konfliktlösungen nachzudenken, eine Militarisierung der Außenpolitik à la USA ist zu vermeiden. Wenn die USA sich als kompromißunfähig im Jugoslawien-Krieg erweisen sollten, bleibt Deutschland nur unter Protest ein Rückzug aus der militärischen Integration in der Nato, wobei - einem früheren Vorbild Frankreichs folgend - die politische Kooperation erhalten bleiben könnte.

Euroland müßte im Zug energischer Strukturreformen zur Vollbeschäftigung und zur politischen Integration im Rahmen einer EU-Verfassung finden, damit Euroland dem US-Modell des militarisierten Superkapitalismus ein international attraktives Gegenmodell eines liberalen Sozial- und Umweltstaats entgegensetzen kann. Aus ökonomischer Sicht sind Steuerfreiheit für Unternehmensgründer, eine steuerlich geförderte Qualifizierungs- und Innovationsoffensive der Unternehmen sowie eine zeitweise Politik der Lohnzurückhaltung bei Einführung einer neuen Vermögensbildungspolitik wichtige Eckpunkte einer beschäftigungsförderlichen Wirtschaftspolitik, die die Arbeitslosenquote binnen fünf Jahren deutlich und dauerhaft reduziert.
Auf einem neuen Sonderparteitag unter dem Motto "Wahrheit und Zukunft" muß über die deutschen Verantwortlichkeiten der Kriegsführung offen debattiert werden; auch die Frage nach der Ablösung Gerhard Schröders ist zu stellen - schließlich gibt es in der SPD eine ganze Reihe von qualifizierten Frauen und Männern, die das Bundeskanzerlamt nicht nur telegen repräsentieren, sondern auch mit politischer sozialdemokratischer Substanz ausfüllen können. Der Kanzler und Scharping werden sich nicht damit herausreden können, daß man sie nur nach ihren guten Absichten zu Beginn des Kosovo-Kriegs beurteilen möge - nach den wirklichen Effekten und nach der Unverhältnismäßigkeit und Ungeeignetheit der gewählten Strategien und Mittel ist kritisch zu fragen.

Die Juso-Organisation der SPD und einige kriegskritische SPD-Vorstandsmitglieder sind in Zeiten großer Konfusionen und des Kosovo-Kriegs in Deutschland die Stimme der Vernunft und der Verantwortung. Es stellt sich für die Jusos die historische Aufgabe, bei der kritischen Kriegsdiskussion und der programmatischen Erneuerung der SPD eine Führungsrolle zu spielen. Die politische Orientierungs- und Ratlosigkeit der alten SPD-Pragmatiker zwingt geradezu hierzu. Dabei sollten sich die Jusos der schwierigen Doppelaufgabe von Kriegs-Kritik und argumentativer Integration mit Blick auf die große Mehrheit der SPD-Mitglieder stellen. Schon vor dem Ende des Kriegs muß eine ernsthafte Debatte über Fehleinschätzungen, Fehlschüsse und Fehlschlüsse in der SPD einsetzen.

Mehr Informationen und Analysen zum Kosovo-Krieg siehe unter http://www.euroeiiw.de