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Bonn, 31. März 1999
Berichte über serbische Verbrechen gegen die kosovo-albanische Zivilbevölkerung
1. Die Sicherheitskräfte der BRJ gehen zusammen mit paramilitärischen Einheiten systematisch gegen die kosovo-albanische Zivilbevölkerung vor.
Albanische Männer werden zusammengetrieben und abgeführt. Es heißt, daß Gruppen von Militär und Polizei von Tür zu Tür gehen und kurzfristig zum Verlassen der Wohnungen auffordern würden. Dabei würden sie zum Teil auch Geld erpressen. Die verlassenen Häuser würden anschließend von paramilitärischen Einheiten geplündert und systematisch zerstört werden, um eine Rückkehr zu verhindern. Pec, eine Stadt von ehemals 100 000 Einwohnern im Nordwesten des Kosovo, ist inzwischen angeblich völlig zerstört. Der kosovo-albanische Verhandlungsführer Thaci berichtet von zwei Konzentrationslagern im Kosovo (15 000 und 8 000 Personen). Im Stadion von Pristina sollen 20000 Menschen zusammengepfercht sein.
2. Nach Berichten aus offiziellen Quellen und verschiedener Augenzeugen machen serbische Sicherheitskräfte und paramilitärische Verbände zudem gezielt Jagd auf die politische und intellektuelle Führungsschicht der Kosovo-Albaner. Zu den Opfern soll u.a. der Chefredakteur der wichtigsten kosovo-albanischen Tageszeitung "Koha Ditore", Baton Haxhiu, zählen. Als gesichert gilt die Ermordung des bekannten Anwaltes Bajram Kelmendi und seiner beiden Söhne, des LDK-Vorsitzenden von Mitrovica, Latif Berisha, und des Vorsitzenden des Gewerkschaftsrates Kosovo, Agim Mehmet Hajrazi, samt seiner Frau und seinem 12-jährigen Sohn.
Die Strategie der ethnischen Säuberungen: Das Beispiel Ostslawonien / Bosnien
1. Was wir im Kosovo derzeit erleben, erinnert an das serbische Vorgehen in Ostslawonien und Bosnien und Herzegowina. Das Muster, nach dem dort die "ethnischen Säuberungen" abliefen, wiederholt sich.
2. Primäres strategisches Ziel war es dabei, die Kontrolle über
bestimmte Gebiete zu konsoli-dieren, indem die nicht-serbische Bevölkerung
gewaltsam vertrieben oder getötet wurde. Jeglicher Widerstand gegen die
neuen Machthaber sollte ausgeschaltet werden.
Ferner wurde versucht, die kulturelle Identität der Vertriebenen zu zerstören,
indem systematisch Kulturdenkmäler, Kirchen, Friedhöfe, Bibliotheken
und Archive zerstört wurden. Hierdurch sowie durch die systematische Zerstörung
von Wohnhäusern sollte dauerhaft von der Rückkehr abgeschreckt werden.
Persönliche Bereicherung durch Plünderung und Enteignung spielten
ebenfalls eine Rolle.
3. Die Art der Ausführung und die Dauer der Vertreibungsmaßnahmen
deuteten auf eine systematische Planung und Koordinierung hin. Die Vertreibung
der Bevölkerung erfolgte dabei in 3 Varianten:
Vertreibungsdruck, Deportation und Tötung. Beim Einsatz der Varianten waren
bestimmte "Gesetzmäßigkeiten" zu erkennen:
=> Der Gewalteinsatz war um so größer, je höher der Anteil der zu vertreibenden ethnischen Gruppe in einer Region lag;
= > Die "ethnischen Säuberungen" waren um so brutaler, je mehr paramilitärische Verbände daran teilnahmen. Im Bosnien-Krieg waren sog. Freiwilligenverbände und irreguläre Truppen oft fest in die Jugoslawische Armee integriert oder kämpften zumindest ad hoc unter deren Oberkommando.
=> Die Vertreibungen waren um so umfassender, je besser die Angreifer politisch und militärisch organisiert waren.
4. In bereits unter serbischer Kontrolle befindlichen Ortschaften wurde
die nicht-serbische Bevölkerung durch willkürliche Festnahmen, Mißhandlungen,
Plünderungen, Vergewaltigungen, Niederbrennen von Häusern systematisch
demoralisiert und zur Abwanderung bewogen. Gewaltakte fanden vorwiegend nachts
statt, um die Identität der Täter zu verschleiern. Wer sich aufgrund
von Diskriminierung und Gewaltanwendung zur Abwanderung bereit fand, mußte
in den meisten Fällen Hab und Gut den lokalen Behörden überschreiben.
Viele Flüchtlinge bezeugten, daß sie Schlepper mit Devisen bezahlen
mußten, um "sicher" abreisen zu können.
In anderen Fällen wurde die Vertreibungen regelrecht angeordnet, wobei
die Behörden Busse und Lastwagen für den Massentransport organisierten.
5. Bei der Belagerung von noch nicht unter serbischer Kontrolle befindlichen Ortschaften wurden diese zunächst mit leichter und schwerer Artillerie beschossen. Der Beschuß erfolgte dabei oft rücksichtslos und unverhältnismäßig auch auf zivile Ziele, um die Bevölkerung zu terrorisieren und zur Flucht zu bewegen. Auch Ort-schaften, in denen es keinen nennenswerten militärischen Widerstand gab, wurden entsprechend angegriffen. Insbesondere in Ost-Bosnien vertrieben serbische Einheiten die bosniakische Bevölkerung zunächst in Richtung einer zentralen Enklave, auf die dann die Angriffe konzentriert wurden (z.B. Srebrenica).
6. Nach der Besetzung durch serbische Einheiten wurden die noch verbliebenen Bewohner z.T. - getrennt nach Alter und Geschlecht - in Lagern interniert. Die Bedingungen in den serbischen Gefangenenlagern waren im allgemeinen schlechter als in den Lagern der anderen Kriegsparteien. Gefangene wurden geschlagen und z.T. auch exekutiert. Die hygienischen Verhältnisse und die Gesundheitsversorgung waren meist katastrophal. Die Gefangenen wurden z.T. als Geiseln behandelt, um sie - oft nach monatelanger Internierung - gegen Gefangene der eigenen Ethnie auszutauschen. Es kam jedoch auch zu Exekutionen und "Verschwinden" von Gefangenen.
Der Kosovo-Konflikt
1. Milosevic's Aufstieg zur Macht ist mit der politischen Instrumentalisierung des Kosovo-Mythos untrennbar verbunden. Die Zielsetzung seiner Politik wurde im März 1990 in dem "Programm für die Verwirklichung von Frieden und Wohlstand im Kosovo" und einige Wochen später in weiteren Dekreten offenbar. Es ging um die Etablierung eines Apartheid-Systems, das in der Folge zur Schaffung der Parallelstrukturen im Kosovo führte und bis heute die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt. So wurde beispielsweise die kosovo-albanische Tageszeitung Rilindja verboten, die Akademie der Künste und Wissenschaften im Kosovo aufgelöst, Tausende von kosovo-albanischen Staatsangestellte entlassen, zum Beispiel Ärzte (wie z.B. Exil-MP Bukoshi) und Lehrer. Der Verkauf von Grundeigentum von Serben an Kosovo-Albaner wurde verboten; gezielte Investitionsprogramme für Serben wurden aufgelegt; und Albaner systematisch zur Abwanderung in andere Teile Jugoslawiens veranlaßt.
2. Bis zum Ausbruch der bewaffneten Kämpfe im März 1998 bediente sich diese Politik vor allem des Mittels der wirtschaftlichen Verelendung gepaart mit rücksichtsloser Repression. Der auf diese Weise geschaffene Auswanderungsdruck führte dazu, daß allein zwischen 1992 und 1993 die Zahl der Kosovo-Albaner in Westeuropa von 217 000 auf 368 000 anwuchs.
3. Nach Ausbruch der Kämpfe im März 1998 wurde von den Sicherheitskräften
eine gezielte Vertreibungsstrategie, eine Politik der verbrannten Erde betrieben:
Nicht nur der UCK, sondern auch der Zivilbevölkerung sollte ein Verbleib
in den Häusern und Dörfern unmöglich gemacht werden. Spätestens
seit der Entsetzung der Ortschaft Malisevo Ende Juli 1998 konnte über diese
Strategie der BRJ-Streitkräfte kein Zweifel mehr bestehen. UNHCR und ECMM
berichteten von Brandstiftungen und mutwilliger Zerstörung von Häusern
und Eigentum, durch die die Rückkehr der kosovo-albanischen Bewohner verhindert
werden sollte. Am 16.08.1998 folgte die Einnahme der UCK-Hochburg Junik; nach
Feststellungen unabhängiger Beobachter waren 40 % der Häuser zerstört.
Schon wenige Tage zuvor, am 11.08.1998, hatte der Sicherheitsrat der Vereinten
Nationen den "exzessiven Einsatz von Gewalt" durch serbische Sicherheitskräfte
verurteilt. Die Flüchtlingszahlen beliefen sich inzwischen bereits auf
180 000 Menschen; 35 000 waren in die Wälder und Berge geflohen. Je mehr
die UCK in eine hoffnungslose Defensive geriet, desto brutaler und rücksichtsloser
gingen die BRJ-Sicherheitskräfte vor.
Wie im Bosnien-Krieg kamen auch wieder Meldungen über die Verhaftung und Trennung von Männern im wehrfähigen Alter von ihren Familien hoch. Als Holbrooke sich am 13.10.1999 mit Milosevic auf Waffenstillstandsmodalitäten einigte, befanden sich um die 300 000 Kosovo-Albaner auf der Flucht, ein Siebtel der Gesamtbevölkerung des Kosovo.
4. Anfang Januar begann sich abzuzeichnen, daß die BRJ-Sicherheitskräfte im Frühjahr eine neue Offensive planten, in deren Gefolge es zu weiteren Vertreibungen kommen würde. Am 15.01.1999 beschossen die BRJ-Sicherheitskräfte bei Kämpfen mit der UCK im Raum Stimlje mehrere Ortschaften mit Kampfpanzern, Schützenpanzern und Granatwerfern. Im Laufe dieser Kampfhandlungen kam es zu dem Massaker von Racak, bei dem die Indizien auf eine serbische Täterschaft hinweisen. Nachdem schon zuvor die Präsenz serbischer Sicherheitskräfte erhöht worden war, waren ab Mitte Februar zudem Verlegungen und Verstärkungen größeren Umfangs festzustellen. Am 04.03.1999 wurde das Gebiet nordwestlich von Pristina (Raum Vucitrn, UCK-Hochburg) zum "Operationsgebiet" erklärt. Die bewaffneten Zwischenfälle häuften sich und damit auch die Meldungen über exzessiven Gewalteinsatz der BRJ-Sicherheitskräfte. In einem Bericht vom 09.03.1999 stellte die OSZE beispielsweise fest, daß die Dörfer Gajre und Ivaja (südwestlich von Kacanik) menschenleer seien, und kam zu dem Schluß, daß zumindest in Ivaja mehrere Häuser bewußt zur Zerstörung ausgesucht worden seien. Unmittelbar vor dem Beginn der Pariser Verhandlungen setzten die BRJ-Sicherheitskräfte im Raum Vucitrn - wiederum ohne jede Rücksicht auf die kosovo-albanische Zivilbevölkerung - ihre Offensive gegen die UCK mit Kampfpanzern, Artillerie und Mörsern fort. Gleichzeitig gab es Kämpfe u.a. in Klina, Leposavic und in Gorozup. Unter diesen Voraussetzungen konnte auch die KVAM ihren Beobachtungsauftrag vor ihrer Ausreise nach Mazedonien nicht mehr nachkommen. Als die NATO-Luftoperationen begannen, hatte bereits das "ethnic cleansing" eingesetzt.
5. Der Vorwurf an die NATO, daß sie mit ihren Luft-Operationen eine humanitäre Katastrophe ausgelöst statt abgewendet habe, ist daher abwegig. Die Vertreibung der Kosovo-Albaner liegt vielmehr in der perversen Logik der Politik Milosevic's, wie wir sie seit 12 Jahren kennen. Seine Sicherheitskräfte setzen jetzt fort, was sie im vergangenen Jahr begonnen haben.
Lage der Flüchtlinge
1. Die Gesamtzahl der Flüchtlinge und intern Vertriebenen dürfte sich derzeit auf über 500.000 Personen erhöht haben. Nach Angaben von UNHCR hat allein Albanien bis gestern mehr als 83.000 Flüchtlinge aufgenommen.
Nach Mazedonien sind 25.000 Personen geflohen. Die Zahl der Flüchtlinge in Montenegro hat sich auf 42.000 erhöht. In Albanien sind die Unterbringungsmöglichkeiten weitgehend erschöpft. In Mazedonien reicht bislang Unterbringung in Familien aus, doch besteht auch dort Destabilisierungsgefahr, insbesondere durch Verschiebung der ethnischen Balance.
2. Wir stehen weiterhin hinter dem "Regionalen Flüchtlingskonzept" des UNHCR. Demnach sollen Flüchtlinge nahe ihrer Heimat versorgt werden, um - wenn die Voraussetzungen dafür vorliegen - schnell wieder zurückkehren zu können. Das Regionalkonzept setzt zwingend voraus, daß den vom Zustrom der Flüchtlinge betroffenen Ländern rasch unter die Arme gegriffen wird. Anderenfalls ist absehbare Folge ein - bislang weitgehend unterbliebener - Flüchtlingsstrom Richtung Westeuropa.
3. Wir sind sowohl national als auch auf europäischer Ebene tätig geworden. Ich habe in den letzten Tagen mit meinen Kollegen aus Albanien und Mazedonien Gespräche geführt und beiden versichert, daß wir sie in ihrer schwierigen Situation nicht allein lassen würden (zu den Hilfsmaßnahmen für Kosovo-Flüchtlinge siehe Anlage)..
Südosteuropastrategie / regionales Stabilisierungskonzept
1. Wir sind mit unseren Partnern in der EU und NATO, aber auch mit Rußland, der Ukraine und unseren Partnern in Südosteuropa in engem Kontakt, wie wir die Lösungsbemühungen wieder in einen politischen Prozeß überführen können.
2. Unser Augenmerk richtet sich jetzt vor allem auf die Stabilisierung der Nachbarn der BRJ. Das Auswärtige Amt hat zu diesem Zweck am 01.04.1999 zu einem Treffen zwischen der EU-Troika und den acht Nachbarstaaten (Albanien, Mazedonien, Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Kroatien, Bosnien und Herzegowinas und Slowenien) durchgeführt. An diesem Treffen haben zudem der Vorsitzende der OSZE, AM Vollebaek, die Flüchtlingshochkommissarin Ogata und die EU-Kommission teilgenommen.
3. Eine politische Lösung für den Kosovo kann nur dann dauerhaft sein, wenn sie von einer Strategie zur Stabilisierung des gesamten südosteuropäischen Raumes begleitet wird. Das AA hat zusammen mit den anderen Ressorts das Konzept eines Stabilitätspaktes für Südosteuropa entwickelt, der mit Mitteln präventiver Diplomatie auf die Verhinderung künftiger Konflikte in der Region abzielt. Hierzu soll vor allem bei den Strukturdefiziten angesetzt werden (Minderheiten-/Grenzfragen; Defizite bei der Demokratisierung; wirtschaftliche Rückständigkeit, unzureichende regionale Zusammenarbeit und Defizite bei der friedlichen Konfliktlösung). Die Stabilisierung Südosteuropas erfordert einen längerfristigen Prozeß, für den sich die OSZE wohl am besten eignet. Eine hochrangige Konferenz könnte als Initialzündung dienen.
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