IPPNW-Co-Präsidentin Ashford warnt vor Eskalation des YUG-Krieges


Die Bombardierungen erzeugen neue Furcht vor dem Atomkrieg

von Mary-Wynne Ashford ("Times-Colonist", 13. Mai 1999, Seite A15)

Übersetzung von Robert Levin

Dr. Mary-Wynne Ashford ist die Vizepräsidentin der IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War), die für ihre Arbeit mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurden.

Ich schreibe mit einem gewaltigen Gefühl der Dringlichkeit und Furcht. Ich war gerade bei einem Seminar in Moskau und anschließend bei einem weiteren im Olof Palme Institut in Stockholm. Die Treffen haben mich überzeugt, dass wir durch eine ungewollte Eskalation des Krieges gegen Jugoslawien am Rande eines
Atomkrieges stehen.
Die westliche Presse und das Fernsehen berichten nicht über den deutlichen Politikwechsel Russlands hinsichtlich der Atomwaffen. Die Medien unterstellen, die Warnungen der Russen vor einem drohenden Weltkrieg und ihre
Weigerung, START II zu unterzeichnen, seien die üblichen politischen Drohungen, um Zugeständnisse von den USA und Kredite vom IWF zu bekommen. Diese Betrachtungsweise ignoriert die tiefgreifende Veränderung der öffentli chen Meinung in Russland, die sogar von Moskauer Mitgliedern der International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW) ausgedrückt wird.
Eines unserer langjährigen Mitglieder in der IPPNW Russland, Dr. Dawidenko, vertritt nicht mehr Atomwaffen-Abrüstung, sondern nukleare Abschreckung. Das Treffen mit Alexander Arbatow, dem stellvertretenden Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses der russischen Staatsduma, löste bei uns tiefe Betroffenheit aus. Arbatow stellte fest, dass die amerikanisch-russischen Beziehungen durch die Nato-Bombardierungen Jugoslawiens "auf dem schlechtesten, ernstesten und bedrohlichsten Stand seit der US-sowjetischen Berlin- und Kuba-Krisen" sind. Er stellte fest, dass START II tot, die Zusammenarbeit mit der Nato auf Eis gelegt und die Zusammenarbeit in der Raketenabwehr geplatzt und die Bereitschaft Moskaus betreffend die Nicht- Verbreitung (von Atomwaffen, der Übers.) am Tiefpunkt ist. Überdies sei die anti-amerikanische Stimmung in Russland real, tiefgreifend und verbreiteter denn je. Der Spruch, mit dem die NATO-Aktion charakterisiert wird, "heute Serbien, morgen Russland" sei "im Bewusstsein der russischen Menschen tief verwurzelt". Arbatow war verbittert über 10 Jahre verpasste Gelegenheiten auf beiden Seiten. Die Abrüstungsgespräche waren bereits vor dieser Krise
abgewürgt worden.

Wissenschaftler, Politiker, Ärzte und Generäle sagten uns alle das gleiche: Dass die NATO-Bombenangriffe auf Jugoslawien die Abrüstung um 20 Jahre zurückgeworfen haben. Einige meinten, Indien und Pakistan seien jetzt sicher, sie hätten Atomwaffen und andere Staaten wie Nordkorea würden ihr Atomwaffenprogramm ausweiten.
Vertreter von Minatom, der russischen Atomenergie-Behörde drückten ihre Besorgnis über die 22 Atomreaktoren in der Konfliktregion aus. Eine Bombe, die versehentlich einen Reaktor träfe, würde eine schlimmere Katastrophe als Tschernobyl verursachen.
Regierungssprecher sagten uns mehrfach, dass Russland die Bombardierungen keinen weiteren Monat dulden werde und sich auf seine Atomwaffen verlassen müsse, weil die konventionellen Streitkräfte darniederlägen.
Ich frage nun: Wenn das leere Drohungen sind - was unterscheidet sie von wirklichen Drohungen? Die Glaubwürdigkeit der Menschen, mit denen wir gesprochen haben, hat mich überzeugt, dass diese Drohungen ernst gemeint sind. Die Meinung ist in den meisten Ländern und selbst in Friedensorganisationen geteilt, ob die NATO-Bombardierungen ein humanitärer Eingriff sind, um Völkermord zu stoppen oder ein aggressiver Akt der NATO. Ihre Auswirkung auf die Atomwaffen ist jedoch eine extrem ernste Entwicklung. Für uns war die Übereinstimmung in den Aussagen höchst besorgniserregend - sowohl der Teilnehmer des Moskauer Seminars als auch der Sprecher, die wir später im Außen- und Gesundheitsministerium trafen. Die einzige Ausnahme war Dr. Jewgeni Chazow. Er sagte, wir müssten uns in dieser sehr gefährlichen Situation von neuem um atomare Abrüstung bemühen. Dr. Chazow meinte, wir wären jetzt auf den Stand von 1981 zurückgefallen, als er und der amerikanische Kardiologe Dr. Bernard Lown die IPPNW gründeten, allerdings werde unsere Arbeit nun schwieriger sein.

Die russischen Sprecher missbilligten "ethnische Säuberungen" (ethnic cleansing) und untersützten Milosevic nicht. Aber Dr. Sergej Kapitsa, ein Wissenschaftler, der durch seine wöchentliche Fernsehsendung bekannt ist,
stellte fest, dass die Russen sich in gewisser Weise vom Westen betrogen fühlen und nachhaltig das Vertrauen in Verträge und die Vereinten Nationen verloren haben, da die NATO außerhalb der UN handeln. Vorher waren sie
zuversichtlich gewesen, dass Russland auf eine Integration mit Europa zusteuern würde und machten sich lediglich hinsichtlich der Sicherheit der Süd- und Ostgrenzen Gedanken. Jetzt sehen sie die größte Bedrohung im Westen.

Offizielle Außenpolitiker (Waffenkontrolle und Abrüstung) sagten uns, Russland hätte keine andere Wahl als auf Atomwaffen zurückzugreifen, da ihre konventionellen Militärkräfte unzureichend seien. Als ich meinte, "Falls
Russland nur eine einzige Atomwaffe einsetzen würde, hätte dies den Abschuss von Hunderten oder Tausenden von Raketen der USA zur Folge", nickten sie und sagten, "Ja, das wäre Selbstmord, aber wie können wir uns sonst verteidigen?"
Als ich Moskau verließ, empfand ich die gleiche Furcht wie in der Reagan-Zeit, das gleiche Gefühl von Unwirklichkeit. Während die Russen diese Situation mit der Kuba-Raketen-Krise vergleichen, erzählen uns Journalisten im Westen, der Krieg sei jetzt so gut wie vorbei und Verhandlungen unter Beteiligung der Russen würden vorbereitet. Warum sind sie sich dessen so sicher, wo doch Milosevic sich zu nichts bereit erklärt hat und die Bombardierung der chinesi- schen Botschaft die Spannungen dieses Krieges noch erhöht hat? Selbst wenn die Bombardements jetzt gestoppt werden - die Veränderung der Haltung Russlands dem Westen gegenüber, der Rückgriff Russlands auf Atomwaffen und dessen verlorenes Vertrauen in internationales Recht liefern uns schutzlos der Katastrophe aus. Die unter uns, die in NATO-Ländern leben, müssen ihre Regierungen über-zeugen, die Bombardierungen zu beenden, weil nur durch Verhandlungen eine Vereinbarung erreicht werden kann. Diese Krise macht die Abrüstung der Atomwaffen dringlicher denn je. Denen die meinen, die russischen Drohungen seien nur Rhetorik, gebe ich zur Antwort, dass mit Rhetorik Kriege beginnen.
Die Welt ist in der gefährlichsten Krisensituation. Wir müssen alle unsere Netzwerke mobilisieren, bevor wir in den letzten Krieg schlittern.

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