Frankfurter Rundschau
07.04.1999

Völkerrechtssubjekt Mensch


...oder man stärkt und effektiviert das Völker(straf)recht -
eine mühsame, aber lohnende Aufgabe

Von Astrid Hölscher
Sprache war schon immer das billigste Mittel, um ein Problem zu verkleinern oder einen Mißstand zu bemänteln. Das reicht vom harmlosen "Entsorgungspark" bis zur "ethnischen Säuberung", die Völkermord meint oder zumindest Deportation, Vertreibung.

Im Fall Kosovo, so eine Bitte von der Hardthöhe, möchte man doch vermeiden, von Bombardement zu reden, und viele scheuen den Begriff Krieg, Angriffskrieg gar. Verteidigungsminister Rudolf Scharping gesteht "große Probleme mit dem Wort in diesem Zusammenhang" ein, und ein konservativer Staatsrechtler wie Josef Isensee bevorzugt an dessen
Statt den Terminus der "humanitären Intervention", der über die Art des Eingreifens - militärisch oder nicht - die Auskunft verweigert. Ist das Geschehen am Himmel über Kosovo erst so weit herunterdefiniert, bleibt als einziger Makel die fehlende UN-Genehmigung, und der erscheint alsbald nur noch als ein Schönheitsfehler.

Entfernen wir die sprachlichen Verkleidungen, lassen wir uns auf Tatsachen ein. Nato und Bundeswehr führen Krieg auf dem Balkan; denn solcher beginnt nicht erst mit dem Einsatz von Bodentruppen. Es ist ein Angriffskrieg; Jugoslawien hat keine Grenzen verletzt, kein fremdes Territorium berührt, alle Greueltaten fanden und finden auf heimischem Boden statt. Die Nato und die beteiligten Staaten verstoßen folglich gegen Völkerrecht und nationale Verfassungen, gegen die
UN-Charta wie das Grundgesetz.

Eine solche Verletzung internationaler Regeln müßte eigentlich einen weltweiten Aufschrei provozieren. Daß dieser ausbleibt, liegt am Ziel dieses militärischen Eingriffs, das mitnichten völkerrechtswidrig ist. Nicht um Eroberung geht es in Kosovo, sondern darum, den Respekt vor den Menschenrechten wiederherzustellen. Die ehrenwerte Absicht wird
auch von jenen nicht bestritten, die daran zweifeln, daß Frieden durch Gewalt zu schaffen und zu sichern sei. Und nur extrem Mißtrauische argwöhnen eine zünftige Probe auf das neue Strategiekonzept der Nato.

Seine innere Rechtfertigung bezieht der Bruch diverser Regeln des klassischen Völkerrechts dadurch, daß er zukünftiges Völkerrecht vorwegnimmt. Das bedeutet nicht, daß Militärbündnisse sich in Zukunft an die Stelle der Vereinten Nationen setzen sollten. Aber der Kosovo-Einsatz der Nato macht immerhin die Regelungs- und auch Glaubwürdigkeitslücken im geltenden Recht bewußt - und eröffnet so im besten Fall eine Chance, die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit
zu verringern; sie schließen zu wollen, wäre freilich realitätsfern.

Das Völkerrecht befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel, der noch lange nicht abgeschlossen ist. In seiner hergebrachten "klassischen" Form war es ausschließlich ein Recht der Staaten. Deren territoriale Integrität und nationale Souveränität galt es zu schützen, "Nichteinmischung" war oberstes Gebot, solange keine (Staats-)Grenzen verletzt wurden. Wie ein Land die eigenen Bürger be- oder mißhandelte, war dessen eigene Angelegenheit, ging die Welt nichts an. Drastisch ausgedrückt, aber keineswegs in unzulässiger Überspitzung: Hätte Hitler "nur" die deutschen Juden ermorden lassen, kein anderes Land hätte sich zum Eingreifen genötigt sehen müssen.

Der einzelne Mensch, der Staatsbürger, wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg, unter dem Eindruck des Holocaust, als Subjekt des Völkerrechts entdeckt. Diese Entwicklung fand ihren ideellen Ausdruck in der Menschenrechtserklärung, wurde in UN-Konventionen konkretisiert. Heute ist dies allgemeine Überzeugung: Kein Regime darf das eigene Volk kujonieren, vor dem Völkermord endet jede nationale Souveränität. Augenfällig wurde das gewandelte internationale
Rechtsbewußtsein bei der Festnahme des Chilenen Pinochet in London:
Ausgediente Diktatoren können sich nicht länger sicher wähnen.

Bei aktuell regierenden Menschenrechtsverächtern sieht der Befund indes düsterer aus. Das liegt nur zum Teil daran, daß in internationalen Beziehungen allzuoft Macht vor Recht geht, daß Normen nicht durchgesetzt werden. Es hapert auch daran, daß das formale Recht hinterherhinkt, nicht Schritt hält mit dem Wandel des Bewußtseins. Wenn denn Völkerrecht kein Selbstzweck ist, sondern seine Legitimation aus dem Schutz der Menschenrechte herleitet, ist "altes Denken"
abzubauen, wie es sich im weiterhin geltenden Vorrang des Staats manifestiert. Das Völkerrechtssubjekt Mensch muß nicht nur ideell, sondern auch praktisch vorkommen. Ein erster Schritt wäre, den Internationalen Gerichtshof in Den Haag, bisher Staaten vorbehalten, als Appellationsinstanz für Staatsbürger und ethnische Gruppen zu öffnen. Als nächstes wäre der pränatale Fehler des geplanten Strafgerichtshofs von Rom zu beseitigen, der, um tätig zu werden, der Anerkennung des Staats bedarf, auf dessen Territorium Verbrechen verübt wurden.

Niemand hat je behauptet, daß es einfach sei, festgeschriebene Völkerrechtsregeln zu verbessern. Unmöglich ist es nicht. Und der Kosovo-Einsatz der Nato zeigt die Alternative auf. Entweder er wird zum Präzedenzfall, was hieße, morgen beschließt eine Militärmacht, die Kurden oder Tschetschenen vom Joch zu befreien, übermorgen würde den Basken oder Tibetern zu ihrem Recht auf Selbstbestimmung verholfen. Oder man stärkt und effektiviert das Völker(straf)recht - eine
mühsame, aber lohnende Aufgabe.

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