Autor: Franco Cavalli
(sozialdemokratischer Nationalrat und Chefarzt im Kantonsspital Bellinzona
)
Tagesanzeiger (Zürich) 10.4.1999
Das Rezept ist verblüffend einfach und wurde schon während des ersten
Golfkriegs 1991 zum ersten Mal in grossem Stil ausprobiert. Man nehme ein passendes
Ereignis (damals die Besetzung von Kuwait), bausche es dank angloamerikanischer
Kontrolle sämtlicher Medienzentralen auf, und vor allem verschweige man
gänzlich die wahren, ethisch kaum vertretbaren Beweggründe. Heute
kann kein vernünftiger Mensch mehr daran zweifeln, dass es 1991 den Amerikanern
nur darum ging, sich mittel- bis langfristig die Kontrolle über die Ölfelder
im Nahen Osten zu sichern.
Auch jetzt werden die entscheidenden Beschlüsse in Washington gefasst.
Dabei zeigen die Amerikaner die gewohnte Arroganz der einzig verbleibenden imperialistischen
Macht. Eine kleine Kostprobe davon haben wir Schweizer in den letzten Jahren
mit abbekommen. Das Los der Kosovo-Flüchtlinge ist den Strategen in Washington
höchstwahrscheinlich egal. Das unbeschreibliche Durcheinander an Ort und
Stelle und die immer versprochene, aber nie realisierte Luftbrücke erwecken
den Eindruck, als wolle die Nato die "Flüchtlingskrise" so lange
wie möglich maximal ausnützen. Man muss ja die eigene Öffentlichkeit
auf den bevorstehenden Einsatz von Bodentruppen vorbereiten.
Die wahren Hintergründe
Dass es zu einem solchen Flüchtlingsstrom kommen würde, hätte
jeder voraussagen können. Es war klar, dass die Serben nur diese erste
Phase ausnützen können, um die UCK völlig zu zerschlagen (was
auch geschehen ist). Die explosive Mischung aus den nächtlichen Nato-Bomben,
der Bekämpfung der UCK (die sich in den Dörfern festgesetzt hatte)
und der ethnischen Säuberung, die jede kriegerische Handlung in Exjugoslawien
begleitet hat (denken wir nur daran, was Kroatien in der serbisch besiedelten
Krajina gemacht hat), musste zu diesem Resultat führen. Hat man das in
Brüssel und Washington so gewollt? Oder ist das völlig unvorstellbar?
Vergessen wir nicht, dass allein in den letzten 15 Jahren die USA für mindestens
eine Million ziviler Todesopfer in Zentralamerika, im Irak (gemäss Unicef
und Ramsey Clark, dem früheren US-Justizminister) und in Kurdistan verantwortlich
sind, ohne andere Massenmorde zu erwähnen, an denen sie vielleicht nur
indirekt beteiligt waren (Osttimor, Moçambique).
Wie 1991 sind auch jetzt die wahren Beweggründe leicht zu erahnen, obwohl
sie hartnäckig verschwiegen werden. Die Nato und vor allem die USA beabsichtigen,
die jetzige russische Schwäche auszunützen, um sich eine Vormachtstellung
im Balkan zu sichern. Es könnte ja sein, dass in Moskau der Wind mal wieder
anders bläst. Und wie in Afghanistan, mit der Bewaffnung der Taleban, geht
es auch hier zusätzlich um die Sicherung zukünftiger riesiger Energieströme
- Öl und Gas - unter Umgehung des russischen Territoriums. In dieser Hinsicht
bedeutet wahrscheinlich dieser Krieg, wie bereits der Golfkrieg 1991, auch eine
Schwächung der Europäischen Union. Solange sie sich der militärischen
Schirmherrschaft der USA nicht entledigt, wird sie nie ein ebenbürtiger
wirtschaftlicher Partner der amerikanischen Wirtschaftsmacht sein können.
Weder Milosevic noch Clinton
Ich finde es einfältig, uns dauernd aufzufordern, zwischen Milosevic und
Clinton zu wählen, als ob es sich um das Tessiner Eishockey-Derby handelte.
Zwischen den beiden Extremen gibt es einen riesigen Spielraum, den man ausnützen
könnte. In Rambouillet ist aus diplomatischer Sicht nicht alles versucht
worden. Warum das Ultimatum von Anfang an? Wäre etwa eine Teilung von Kosovo
nicht schon damals eine Möglichkeit gewesen? Anstatt die OSZE-Beobachter
zurückzuziehen (eine Einladung zur ethnischen Säuberung), hätte
man ihre Zahl verzehnfachen sollen, man hätte die Uno nicht (wie schon
bei der letzten Irakkrise) mundtot machen müssen, die vatikanische Diplomatie
hätte helfen können - und so weiter. Aber eben, diesmal wollte man
ohne Rücksicht auf Verluste die eigenen Interessen durchboxen.
Gelingt es uns nicht, diesen Kriegswahn zu stoppen, dann könnte das neue
Jahrhundert so beginnen wie das unsrige begonnen hat. Dass die Grünen um
Joschka Fischer das nicht verstehen, überrascht nur teilweise. Schmerzlicher
trifft uns dagegen die Stellungnahme vieler sozialdemokratischer Leader, die
einmal "Nie mehr Krieg in Europa" auf ihre Fahnen geschrieben haben.
Die Mitschuld von Schröder, Blair, D'Alema und Konsorten am jetzigen Krieg
erinnert mich an die historische Schande, welche die glorreiche deutsche Sozialdemokratie
1914 mit der Bewilligung der Kriegskredite auf sich geladen hatte. Wie es dann
weiterging, dürfte noch allen klar sein.
PS: Nachträglich könnte auch der Abgang von Oscar Lafontaine erklärbar
werden. Wurde er unter Schweigepflicht entlassen, weil er gegen diesen Krieg
war?
* Franco Cavalli ist sozialdemokratischer Nationalrat und Chefarzt im Kantonsspital
Bellinzona.