Die Woche vom 20.05.99

PARTEI DER LÄHMUNG
Die Grünen nach dem Parteitag

Es lag in der Luft, dass etwas zu Ende geht. Drinnen der beißende Buttersäure-Gestank, draußen der graue westfälische Landregen, das Polizeiaufgebot, die Ketten der Demonstranten, alles verband sich zu einer Stimmung von trübem Abschied. Vorbei der Traum von gewaltfreier Konfliktregelung, im Großen wie im Kleinen, dort die Bomben, hier die Leibwächter. Menschenrechte reisen nun auf den Spitzen der Bajonette, und die Sonnenblume duckt sich dankbar unter den Schutz staatlicher Gewalt. Requiem für die Grünen, am Himmelfahrtstag?

Die Partei ist nicht tot, sie zerfällt nicht in zwei Hälften, und sogar die Niederlage bei der kommenden Europa-Wahl wird nun vielleicht etwas voreilig prognostiziert. Aber der Krieg verändert die politische Landschaft und er verändert am meisten die Grünen. Besser gesagt: Er beschleunigt Entwicklungen, macht sichtbar, was vorher noch erschwommen
schien.

Auf den ersten Blick waren Verlauf und Umstände des Parteitags in Bielefeld nur ein Ausrufezeichen hinter eine längst bekannte Tatsache: Die Grünen sind keine Protestpartei mehr. Sie sitzen am Tisch der Macht, also wird heute im Zweifelsfall gegen sie protestiert. Aber weil sich die Partei noch ein Weilchen den Habitus des Oppositionellen bewahrt
hat, ist eine Leerstelle entstanden - sie war draußen vor der Bielefelder Seidensticker-Halle zu besichtigen: Nur ein paar Hundert Demonstranten statt einer großen Friedensdemonstration. Die Grünen, einst eine Partei der Bewegung, sind eine Partei der Lähmung geworden. Politisch aufgewachsen bei der Blockade von Raketen, die nie flogen, fungieren die Grünen heute als Kronzeugen für die moralische Berechtigung von Bomben, die tatsächlich fallen. Wuchernd mit dem Kredit aus der Vergangenheit, halten die einstigen Friedenskämpfer die Stimmung im Land in einer seltsamen Schwebe: Ein Drittel der Deutschen lehnte den Nato-Krieg von Beginn an ab, doch niemand verfügt über die politische Reputation und die organisatorische Kraft, dieser Kritik Stimme und Einfluss zu verleihen. Ein bleierner Zustand. Solchen Zuständen abzuhelfen, wenngleich in einer anderen Zeit, hatten sich die Grünen einst gegründet. Lebendige Demokratie! Nieder mit dem Meinungsmonopol der etablierten Parteien! Nun selbst etabliert, verweigern die grünen
Amtsträger dem Nachwuchs seine politische Berechtigung, verlangen oberlehrerhaft und zeigefingerbewehrt, dass doch bitte jeder im Sauseschritt jenen Anpassungsprozess absolvieren möge, der sie selbst hat ergrauen lassen.

Wer den Bombenkrieg nicht für das geeignete Mittel hält, den Kosovo-Konflikt zu lösen, bekam auf dem Parteitag von mehreren Rednern, darunter Daniel Cohn-Bendit, das Attribut "Feigheit" um die Ohren gehauen. Wer gegen die Nato ist, kuscht vor Milosevic, wird in einen Abgrund der Unanständigkeit gestoßen. Kriegspropaganda nach den alten,
bekannten Mechanismen: Wer nicht für uns ist, macht sich mit dem Feind gemein, mit dem Bösen. Muss man noch erwähnen, dass hinter solchen Tiraden auch die Arroganz von Berufspolitikern aufscheint? Denn wer das Vorgehen der Nato ablehnt, von dem wurde in Bielefeld verlangt, er möge gefälligst ein besseres Konzept zur Lösung des Kosovo-Konflikts vorweisen. Natürlich sind die einfachen Mitglieder einer Partei genauso wenig wie der normale Bürger in der Lage, ein Patentrezept für eine komplizierte internationale Krise zu entwickeln. Dass der politische Laie nicht das Recht auf Kritik verliert, weil er keinen Zugang zu Konferenzprotokollen und Regierungsakten hat, galt einmal als Selbstverständlichkeit im grünen Demokratiebewusstsein.

Heute lässt sich die Kluft zwischen unten und oben mit einer kleinen Szene vom Parteitag illustrieren: Eine Delegierte berichtete in kläglichem Trotz, wo sie überall vergebens angerufen habe, um die offizielle Fassung des Fischer-Friedensplans zu bekommen. Die Frau durfte dann wie eine Konfirmandin auf die Bühne steigen, um ein Exemplar
des Dokuments aus den Händen des Außenministers persönlich zu erhalten.

Das Sittengemälde dieser Partei erschiene in einem anderen Licht, wenn die Grünen denn von der Richtigkeit, der Vernünftigkeit und der ethischen Grundlage dieses Kriegs tatsächlich felsenfest überzeugt wären. Aber so ist es ja nicht. Wer sich den langen, gewundenen, widersprüchlichen Beschluss des Bielefelder Konvents durchliest, der weiß: Die Grünen sind umständehalber Kriegspartei. Wäre die Bundestagswahl um ein paar Haaresbreiten anders ausgegangen, dann säßen auf den Podien der Republik spätestens in dieser achten Kriegswoche kundige, eloquente Kritiker der Nato. Sie hießen Angelika Beer, Ludger Volmer, Kerstin Müller, wahrscheinlich auch Fischer. Und erst Trittin!
Am Tisch der Macht sitzen bleiben zu dürfen, ist für die Grünen ein Wert an sich geworden, dem sie alles andere unterordnen. Diese Feststellung kann nicht sonderlich überraschen, wenn man über Parteien spricht. Aber ein wenig erstaunlich ist es doch, dass diese Grundregel des politischen Geschäfts sogar zwei Extreme versöhnen kann: Ein immer sinnloser und furchtbarer werdendes Dauerbombardement und eine militärkritische, teilweise pazifistische Partei. Die Grünen haben sich auf offener Bühne entleibt; danach kann ihnen eigentlich nichts mehr passieren. Aber wie funktioniert so etwas? Gibt es keine politischen, intellektuellen oder psychologischen Sperren? Lassen sich Überzeugungen,
Biografien, Lebensgeschichten abwerfen wie Sandsäcke? Man kann sich an Erklärungen nur beschreibend herantraten.
Die Interpretation der Vergangenheit: "Wir haben 20 Jahre lang für die Regierungsübernahme gekämpft", rief Ludger Volmer in die Bielefelder Halle. Der Staatsminister im Auswärtigen Amt müsste es besser wissen; gehörte er nicht lange zu jenem linken Flügel, der die Bonner Machtsessel stets skeptisch beäugte? Genau deswegen bekam Volmer
überhaupt seinen derzeitigen Posten; das Amt sollte ihn einbinden, nun haben sich die Bindfäden sogar um sein Gedächtnis gewickelt. Kein Einzelfall; die fast zwei Jahrzehnte währende wechselvolle Geschichte der Grünen erscheint vielen heute nur noch als eine beschwerliche Reise zu einem immer noch angestrebten Ziel. Angesichts der zurückliegenden Strapazen ist die Machtbeteiligung ein so kostbares Gut, dass sich die Frage nach ihrem Zweck verbietet.

Natürlich streiten die meisten Grünen diesen Befund ab. Wortreich beteuerten die Parteitagsredner, es gehe in der Kosovo-Debatte keineswegs um den Erhalt der Bonner Koalition an sich, sondern um die Fortsetzung der Friedensbemühungen, um Fischers Plan, "um die Menschen im Kosovo". In den unterschiedlichen Phasen ihrer Geschichte haben die Grünen nie einen gelassenen, rationalen Blick auf sich selbst entwickelt. Stets neigten sie, in moralischer Emphase, zur Selbstüberhöhung, als hinge von ihren Beschlüssen der Lauf der Welt ab.

Diese Selbstüberschätzung ist ein fester Bestandteil des grünen Binnenklimas; sie prägt in der Kriegsdebatte die wortführende Mehrheit ebenso wie die Minderheit um Christian Ströbele, und beide Seiten wetteiferten darum, den deutschen Einfluss zu betonen und in diesem Einfluss den eigenen: "Wir sind Regierungspartei im zweitgrößten
Nato-Land!" So kreißte der grüne Berg und gebar ein Mäuschen, ein Feuerpäuschen. Im Kanzleramt schon durchgewunken und abgeheftet, bevor die Delegierten ihre Stimmkarte hoben. Die Fixierung auf Joschka Fischer: Längst stellt sie die einstige Fixierung der FDP auf Genscher in den Schatten. Als hinge das Ansehen der Grünen nur an einem einzigen Nagel, gebärden sie sich als Außenminister-Unterstützungsverein, hoffen verzweifelt auf eine diplomatische Lösung, die mit dem Namen Fischer irgendwie verbunden ist, vorzeigbar bei künftigen Wahlen. Der Aufstieg des Medienlieblings Fischer folgte über die Jahre einem schlechten Modell: Die Partei verachtend, die ihn auf den Karrierepfad schob, profilierte er sich durch die öffentliche Kritik am eigenen Laden. Die Grünen ließen's zu,
begannen die Unterwerfung zu lieben. Nun, im Krieg, reift auch dieses Modell zu trauriger Vollendung: Damit Fischer möglichst groß sei, macht sich die Partei klein.

"Zerrissenheit": das grüne Modewort dieses Krieges. Vor allem die Frauen an der Grünen-Spitze beschreiben sich als zerrissen, so mag es wohl auch sein, nur hat man sie mittlerweile schon so lange und so oft über ihre Zerrissenheit reden hören, dass der Verdacht aufkommt, auch Qual könne zur Routine werden. Vielleicht ist den Protagonistinnen selbst nicht einmal bewusst, wie sehr die fortgesetzte Entblößung eines entzweiten Inneren der moralischen Entlastung dient: So stehen sie immer noch mit einem Fuß im Lager der Kriegsgegner, während ihr Handeln zur Fortsetzung des Krieges beiträgt. In der achten Bombenwoche müsste Zerrissenheit allmählich politische Folgen zeitigen - die Zweifel können ja durch den tatsächlichen Verlauf des Konflikts nur größer geworden sein. Doch in Bielefeld taten die Grünen, als sei dieser Krieg immer noch frisch, als gehe es noch um die pure Begründung einer Grundsatzentscheidung, nicht um die Bewertung der Wirklichkeit dieses Krieges.

Die Behauptung, sie würden "stellvertretend" für die Gesellschaft streiten und leiden, ist darum zu einer hohlen Phrase geworden, ein letztes Aufbäumen des alten, selbstverliebten Avantgarde-Anspruchs. Hätten die Kriegsbefürworter die Kraft gefunden, dem realen Ergebnis wochenlanger Bombardierung ins Auge zu sehen, dann wäre der Parteitag
zum ersten großen gesellschaftlichen Podium in diesem Konflikt geworden. So aber wurde es ein Exempel für Denkverbote und Wirklichkeitsverdrängung.

Ein Requiem? Seit Bielefeld erscheinen die Grünen zusammengeschrumpft. Man könnte sagen: Sie haben ihre geliehene Größe verloren. Klein an Mitgliedern war die Partei über viele Jahre überproportional interessant, weil sich in ihren Debatten, wie quälend auch immer, gesellschaftliche Entwicklungen widerspiegelten. Diesen Status haben die Grünen ausgerechnet mit diesem Krieg verloren. Nun spiegeln sie nur noch sich selbst, die vernachlässigbaren Nöte einer kleinen Partei, die an der Macht ist, ohne Macht zu haben.

(Charlotte Wiedemann)